Abschied von Hamburg

Erzählung zum Thema Erinnerung

von  uwesch

Dieser Text gehört zu folgenden Textserien:  PHASEN DES LEBENS (Prosa),  HAMBURG VOR ORT,  Aus dem Leben gegriffen

Ich wuchte das edle alte Kanu aus massiver Eiche, 1912 auf einer ehemaligen Bootswerft am Isebekkanal gebaut, mithilfe der heutigen Bootsschuppenbesitzerin auf die Rollen zum Steg hinab, um es dann behutsam ins Wasser gleiten zu lassen. Es wird die letzte Fahrt an diesem Spätsommertag werden, bevor der Herbst mit Stürmen oder Nebeltagen in die Stadt fällt und das Boot im Winterlager Ruhe findet. Da ich allein paddle, packe ich einen Sandsack zum Bug hin, damit dieser nicht zu weit aus dem Wasser ragt und dem mit Sicherheit später erwachenden Wind weniger Angriffsfläche bietet.

Das will ich heute nicht - nach dem gestrigen Desaster mit ihr. Es würde zu viel Kraft kosten, das Boot auf Kurs zu halten.

 

Ich lege ab. Das Kanu gleitet im Schutz der Häuser am Ufer mit sanftem Geplätscher dahin. Der Wind ist noch nicht ganz erwacht, doch die Blätter der Bäume am Uferrand beginnen sich zu regen. Eine leichte Brise deutet sich an und verhindert mein Schwitzen bei der Arbeit am Stechpaddel, um das schwere Boot voranzutreiben und auf Kurs zu halten. Ich habe mir als Ziel den ferngelegenen Stadtparksee in Barmbek vorgenommen, um dort zu ankern, ein kleines Picknick einzunehmen und letzte Sonnenstrahlen zu genießen. Einige Brücken sind zu unterfahren. Ich liebe die feuchte und etwas unheimliche Dunkelheit unter den Exemplaren breiterer Straßen, und dann das Wiederauftauchen ins klare Licht, das kalten Herbstnebel verhalten ankündigt, obwohl der Sommer sich noch an wärmere Tage klammert.

Ich hatte geglaubt, dass es mit unserer Liebe weitergehen könnte.

 

Nach der Querung des breiten Hauptflusses der Alster beschiffe ich den romantischen Leinpfadkanal mit den vielen Villen am Ufer. Die ersten braunen Blätter, teils mit fahlgrünen Resten nahe am Stängel, dümpeln nach dem trockenen Sommer über die Wasseroberfläche, manchmal durch einen plötzlichen Luftzug aus einer Straßenschlucht bewegt. Sie leisten mir Gesellschaft. Größere Mengen versammeln sich in Ufernischen und an kleinen Stegen. Hochgewachsene Baumkronen werfen lange Schatten über den Kanal.

Und das, wo doch stille Wahrhaftigkeit des Lichts auf dem Wasser in den kürzer werdenden Tagen schattenlose Gedanken erleichtern würden.

 

Ich durchfahre die Dunkelheit der Brücke unter der Maria-Louisen-Straße, einer Hauptverkehrsachse, und störe in Höhe des Seniorenhauses Matthäus eine Wasserratte, die aufgeschreckt in ein Ufergebüsch des dazugehörigen Gartens flüchtet.

Dann öffnet sich der Rondeelteich mit den teuren Villen und großzügig angelegten Gärten. Diese exquisiten Areale von Menschen mit ihren hanseatischen Erfolgsgeschichten, dem Streben nach Ordnung und Reichtum in einer Handelswelt, die sie in Bewegung halten und ihren Berechenbarkeiten unterwerfen.

Ich liebe diesen Teich, auf dem ich im Sommer oft ankerte und halb liegend im Boot meine Zeitung las – und auch etwas neidisch bin auf die Eigentümer in dieser Oase der Ruhe mitten in der Stadt. Aber viel Zeit scheinen sie nicht zu haben, denn es ist selten jemand in den Gärten zu sehen.

 

Ich paddle weiter den Rondeelkanal nach Süden gen Außenalster, biege aber kurz vorher nach Nordosten in den Goldbekkanal, der lange, vorbei an mehreren Bootsvermietungen, schnurgerade in Richtung Stadtpark führt. Fünf Straßenbrücken und eine Hochbahnquerung gilt es zu unterfahren. Lärm rollt vor und nach der Unterquerung der großen Straßen in meine Ohren, vor allem bei der vielbefahrenen Sierich- und der Barmbeker-Straße. Die Häuser und Gärten spiegeln das Ärmersein der Bewohner, je mehr ich mich Barmbek nähere. An einer Kleingartensiedlung kläfft mich ein aufgeregter Bullterrier wütend an. Er spürt wahrscheinlich, dass ich ihn nicht mag. Ich lege einen Paddelschlag zu, um dem Gebell zu entkommen. Einige Enten gründeln an flachen Uferstücken.

Die lange etwas langweilige Gerade des Kanals bringt mich ins Grübeln, ich kann es immer noch nicht fassen, den gestrigen Tag nicht entlassen. Wir saßen am Küchentisch bei einem Glas Wein. Sie schaute mich nicht an, starrte auf den Kühlschrank schräg hinter mir und sagte: „Ich will mich nicht an dich gewöhnen.“

Sie sprach den Satz so, als wenn sie ihn irgendwo in eine ferne Landschaft stellte, um ihn dort stehen zu lassen. Danach war es still, bis sie nach einer langen Pause einen anderen Satz sagte und diesen in etwas größerer Entfernung ebenfalls in die Landschaft stellte. Das wiederholte sich mehrere Male. Es stand zwischen den Sätzen viel Raum und viel Schweigen. Ich sagte nichts.

Nach einer langen Weile der Totenstille - nur der Kühlschrank brummte ab und an vor sich hin – richtete sie ihre Augen auf mich. Sie tat das in der Form wie die Scheinwerfer eines Autos in eine Kurve schwenken, ohne dass ihr Kopf die Bewegung mitmachte.

Dann drehte sie ihn abrupt ganz zu mir hin und fragte: „Was ist los mit dir?“

„Was soll los sein? Du hast entschieden.“

Absolute Stille beherrschte meine Küche, so als befänden wir uns in einer polaren Eiswüste. Nur noch starre Körper waren beteiligt.

Nach unendlichen Minuten stand sie auf, ging in den Flur, zog ihren Mantel an, die Wohnungstür fiel ins Schloss und Ihre Schritte verhallten im Hausflur.

Das war die endgültige Tilgung unserer Liebe, dem Verschlingen der Zeit zwischen dem ersten Blick auf der Vernissage eines befreundeten Künstlers und dem Zuschlagen der Haustür meiner Jugendstilwohnung in Hamburg-Eimsbüttel.

 

Hinter der Hochbahnbrücke geht es nach einer Rechtskurve an der Bahn entlang. Am Ufer stehen hohe Pappeln und ich erinnere mich an ihre Blütezeit im Frühling. Die üppigen weißen Pollen verwandelten zu der Jahreszeit das Wasser in eine kleine Schneelandschaft, obwohl die Sonne schien.

Jetzt ist es vorbei mit ihr. Ich werde kein Kind mehr mit ihr zeugen können, obwohl ich es mir so sehr gewünscht habe. Sie hält mich für ungeeignet als Vater. Meine Zukunft erscheint mir nicht sehr fügsam. Diffuser Nebel umwabert meine Seele, ohne Klarheit, welchen Weg ich einschlagen soll.

 

Dann die Linkskurve in den Stadtparksee. Ich werfe den kleinen Anker. Die Sonne erwärmt mein Herz ein wenig. Das Picknick inmitten des Sees betört meinen Gaumen und beruhigt die Nerven. Ein Schwanenpaar und zwei Jungschwäne gesellen sich zum Kanu und tun so als ob sie nichts abbekommen wollen. Doch sie schnappen zu, wenn ich Brotstücke ins Wasser werfe.

Langsam kehrt Frieden ein in mein Gehirn. Alles, was zur Vergangenheit gehört, scheint im dunklen Wasser zu versinken.

 

Meine Stimmung gewinnt an Stärke und ich rufe den Schwänen zu: „Ich will leben.“

Die heben erstaunt ihre Köpfe.

Ich hatte mich immer für groß und gütig gehalten, jeder Zoll ein Mann, aber mit dem Herzen einer Frau. Doch sie hat sich einem sehr viel Älteren zugewandt.

 

Ich versuche den Anker zu lichten, doch er bewegt sich nicht, hat sich verhakt im morastigen Grund des unklaren Wassers. Ich ziehe kräftiger, doch plötzlich ein Ruck, der mich beinahe über die Bordkante wirft. Das Boot schaukelt heftig, doch ich kann mich fangen und ein Kentern verhindern. Es ist kein Widerstand mehr zu spüren. Ich ziehe die Leine ein und betrachte staunend das Ende ohne Anker, das Boot ohne Bindung.

In diesem Moment explodieren meine Sinne, so als würden hundert Spiegel in meinem Schädel mein ganzes Leben im Zeitraffer reflektieren und dann verlassen. Ich beschließe mehr den Augenblick zu leben, nicht voraus und auch nicht hinter der Zeit. Sie wird später schon merken, dass sie eine Fehlentscheidung getroffen hat – vielleicht auch nicht. Es ist mir egal.

 

Auf der Rückfahrt wähle ich die Route über den Osterbekkanal, der in der großen Außenalster mündet. Ich umkurve die Bellevue im Nordosten des großen Wassers, dort wo die Straße einen Bogen macht, genieße den traumhaften Blick in Richtung Innenstadt. In der Ferne der Michel und die anderen Spitzen Hamburgs, St. Jacobi, St. Petri, St. Katharinen, das Rathaus und St. Nikolai, eine Bilderbuch-Silhouette, leider durch viele Hochhäuser etwas verschandelt.

Ich kreuze die Stelle, auf der wir mit meiner Jolle bei eiskaltem Wasser Anfang April im vorigen Jahr gekentert und beinahe ertrunken waren, weil wir keine Schwimmwesten getragen hatten. Ein Alsterdampfer hatte uns im letzten Moment gerettet. Sie wollte seitdem nie wieder segeln.

Unter der historischen Krugkoppelbrücke hindurch paddle ich in den Alsterlauf flussauf und dann zurück in den Isebekkanal.

Ich beschließe, das Kanu zu verkaufen und Hamburg zu verlassen, auf zu neuen Ufern in den wärmeren Süden zu ziehen.



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Kommentare zu diesem Text


 lugarex (10.03.23, 07:30)
Hamburg -heute sprachlos! (Dafür schöner Text!)

Gutes Wochenende trotzdem Luga

 uwesch meinte dazu am 10.03.23 um 08:59:
Mußte erst einmal recherchieren was in Hamburg geschah. Du meinst sicher das Blutbad des Islamisten.
Danke für Lob und Empfehlung.  LG Uwe

 eiskimo (10.03.23, 08:24)
Eine beschauliche Erzählung, die plötzlich ganz viel Fahrt aufnimmt - da kann man nicht mehr aussteigen. Sehr gelungen!
Der Hintergrund Hamburg und das Wort Abschied bekommen im Kalender heute eine zusätzliche Dramatik. Das muss man ausblenden.
LG
Eiskimo

 uwesch antwortete darauf am 10.03.23 um 09:02:
Dank Dir für Kommi und Empfehlung.
Das Blutbad konnte ich natürlich nicht vorausahnen. Die Urversion des Textes habe ich übrigens vor längerer Zeit geschrieben und etwas überarbeitet. Man lernt ja dazu :) 
LG Uwe
Teolein (70)
(10.03.23, 09:06)
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 uwesch schrieb daraufhin am 10.03.23 um 12:06:
Als Großstadt ist Hamburg sehr lebenswert. Ich habe nach meiner Flensburger Zeit als Jugendlicher dann 40 Jahre dort gelebt, teils mit Segeljolle auf der Außenalster, später dann mit Kanu die Flüsse und Fleete befahren. Dann hat die Liebe mich in den Süden Nähe Freiburg geschleust.
Danke Dir für Empehlung und Kommi. LG Uwe

Antwort geändert am 10.03.2023 um 12:07 Uhr

 harzgebirgler (10.03.23, 09:38)
wenn hamburg dich zu nerven droht
hilft zur not auch ein paddelboot! :D 

ansprechend geschrieben & gerne gelesen!

lg vom harzer

Kommentar geändert am 10.03.2023 um 09:39 Uhr

 uwesch äußerte darauf am 10.03.23 um 12:08:
:) Danke auch für Deine Empfehlung und LG Uwe

Antwort geändert am 10.03.2023 um 12:09 Uhr

 Dieter_Rotmund (10.03.23, 12:30)
Der erste Kursiv-Satz ist zu kitschig, den würde ich umarbeiten oder streichen. Im Grunde ist die Bootsfahrt an sich ja auch viel interessanter als das Trennungs-Gejammer.

 uwesch ergänzte dazu am 10.03.23 um 13:06:
Könnte man machen, aber muß nicht sein. Ein bissel Kitsch in Beziehungszusammenhängen - warum nicht?
Ich glaube die Bootsfahrt allein wäre zu sehr Sachtext. Kannst dir ja das Trennungsgejammer wegdenken oder den Text kopieren und die Teile streichen :)   LG Uwe

 EkkehartMittelberg (10.03.23, 15:33)
Sehr gelungen, ein Abschied nehmen von der Natur und der 
Liebe in Hamburg,

LG
Ekki

 uwesch meinte dazu am 10.03.23 um 16:01:
Danke Dir, auch für Deine Empfehlung. Ich bin auch sehr zufrieden damit. Es macht ja viel Arbeit, mal so was Längeres zu schreiben in diesem schnelllebigen Forum.
LG Uwe

 AlmaMarieSchneider (11.03.23, 00:49)
Lieber Uwesch,

ich lese Deine Texte immer sehr gern. Auch dieser ist gut gelungen.

Liebe Grüße
Alma Marie

 uwesch meinte dazu am 11.03.23 um 07:56:
Das freut mich sehr und beruht auf Gegenseitigkeit. Wir ticken wohl ähnlich.
Danke und Dir einen schönen Tag.  LG Uwe

 Quoth (11.03.23, 09:49)
Das war die endgültige Tilgung unserer Liebe, dem Verschlingen der Zeit zwischen dem ersten Blick auf der Vernissage eines befreundeten Künstlers und dem Zuschlagen der Haustür meiner Jugendstilwohnung in Hamburg-Eimsbüttel.

genieße den traumhaften Blick in Richtung Innenstadt. In der Ferne der Michel und die anderen Spitzen Hamburgs, St. Jacobi, St. Petri, St. Katharinen, das Rathaus und St. Nikolai, eine Bilderbuch-Silhouette, leider durch viele Hochhäuser etwas verschandelt

Unter der historischen Krugkoppelbrücke
Diese kunsthistorischen und die soziologischen Betrachtungen zu Reichtum und Armut der Anwohner wollen sich für mich nicht recht mit der existenziellen Aufgewühltheit der Trennung verbinden. Und hat der Icherzähler nicht auch längst eine neue Liebe gefunden, die er im letzten Satz nur verschleiert? Interessant zu lesen - Hammonia, Hammonia, o wie so herrlich stehst du da! Gruß Quoth

 uwesch meinte dazu am 11.03.23 um 10:53:
Für mich sind Aussagen verschiedener Denkweisen kein Problem. Ich empfinde das als Bereicherung, wenn ich z.B. ein Beziehungsproblem aus soziologischer UND psychologischer Sicht beschreiben und "verweben" kann. Es sind doch jeweils nur Möglichkeiten, um einen Zustand von verschiedenen Seiten zu beleuchten.
Dank für Deinen Kommi und LG Uwe

 Quoth meinte dazu am 12.03.23 um 18:15:
Auch für mich sind "Aussagen verschiedener Denkweisen" kein Problem, aber wenn Du hier über Reichtum und Armut der Anwohner berichtest, steht das eben in keinerlei Zusammenhang mit dem Beziehungsproblem, Du "verwebst" es nicht. Auch dies, das bloß Aneinandermontieren ist natürlich legitim - es lauft darauf hinaus, dass ich von einer Erzählung mehr Homogenität erwarte, als Du sie mir geben willst. Wollte der Icherzähler tatsächlich mit der Frau ein Kind haben, weil sie in dem schönen Hamburg mit seinen vielen schönen Kirchtürmen wohnte? Dann begreife ich auch, warum, sie ihn verlassen hat ... Gruß Quoth

 Moja (11.03.23, 11:10)
Deine vielschichtige Erzählung gefällt mir, Uwe, 
bin gerne mitgepaddelt durch Hamburg, meiner alten Liebe!

Grüße vom Berliner Meer,
Moja

 uwesch meinte dazu am 11.03.23 um 15:34:
Das freut mich. Ich bin erstaunt, dass es so viele Hamburgfans gibt. Das läßt leider die Mieten dort explodieren.
Dank dir und LG Uwe
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