2002
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2003 

2002/03

Parodie zum Thema Selbsthass/verletzung/mord

von  Terminator

Guten Tag. Ich, Stotterer, Autist und Mißgeburt, möchte über meine wundervollen Erfahrungen mit Suizid berichten. Ich wurde als Kind sechsmal operiert, um die Missbildung zu beseitigen. Es war jedesmal ein traumatisches Erlebnis für mich, aber was solls: Kindheit ohne Trauma ist eine schlechte Kindheit, oder? Wer diese Krankenhausaufenthalte mit 2, 3, 5 und 9 Jahren nicht erlebt hat, dem ist echt was entgangen. Insbesondere in der Zeit des Zerfalls der Sowjetunion, als das medizinische Personal wegbrach und die Medikamente knapp wurden. Die Wundinfektionen waren nicht durch Mangel an Hygiene verursacht, sondern, nun, ich war halt ein Kind und spielte oft draußen.


Nach der Emigration nach Deutschland übernahm das Stottern die Hauptrolle: ich wurde in der 7. Klasse der Hauptschule jeden Tag ausgelacht und nachgemacht, später im Gymnasium nur gemieden. Vom Autismus wusste ich selbst als Student noch nichts, was aber nicht bedeutet, dass ich keinen hatte. Für die täglichen Kopfschmerzen durch Lichtempfindlichkeit, Reizüberflutung usw. hatte ich damals keine Erklärung, und konnte mir nicht einmal eine konsistente personalisierte Verschwörungstheorie zusammenbasteln. Also: geile Kindheit, geile Schulzeit. Ich bin so nostalgisch!


Nun ja, die wunderbare Schulzeit, die von Isolation, Selbsthass, Schuldgefühlen und immer schwererer Depression (welche beschämt, aber nicht behandelt wurde) bestimmt war, neigte sich ihrem Ende zu, und ich erkannte, dass mir nun ein freudloses Restleben bevorstehen sollte ohne all die schönen Erfahrungen, die zu Kindheit und Jugend halt so gehören. Mein Leben war scheiße, und die Zukunft war noch scheißer. Was sollte denn noch kommen? Arbeit? Karriere? Und wozu? Erwachsen werden, etwas in der Welt bewirken? Und wozu? Aus der heutigen Perspektive hätte ich leicht reden, darum lasse ich diese außen vor. Denn heute sehe ich mich als einen leidgeprüften Wohlgeratenen auf dem Weg zur Vortrefflichkeit, um mir letztlich verdienstvoll den Titel "Übermensch" verleihen zu können. Dieses Leben ist mein Purgatorium, spaßiger: ein Super-Mario-Spiel für absolute Masochisten, die für einen Highscore, für den man sich in der Welt nichts kaufen kann, untierische Müh und unmenschliches Leid auf sich nehmen. 


Und jetzt bin ich wieder 19. Also: warum soll ich noch weiter leben? Der Entschluss, nicht weiter leben zu wollen, wurde am 16.2.2001, zwei Tage vor meinem 18. Geburtstag, erstmals klar gefasst. Der Sommer 2001 war geprägt von ultraekelhaften Alpträumen, als wäre mein Leben im Wachzustand nicht grauenvoll genug. Im August bereitete ich mich zur Tat vor. Am Vormittag des 11.9. war es so weit: ich verließ die Französisch-Doppelstunde, kaufte mir was zum Pulsadern-Aufschneiden und eine Flasche Mineralwasser und fuhr mit dem Fahrrad zu einer Brücke über dem Fluss Aller, unter welcher ich früher oft ausruhte, weil dort Ruhe war. Es nieselte. Ein Auto stand da. Ich konnte nicht zur Tat schreiten, solange es noch da stand. Ich wartete, doch es fuhr nicht weg. Es wurde mir kalt und ich verschob den Suizid auf einen anderen Tag.


Des einen Nine-Eleven, des anderen Gotteszeichen. Gott hat einen sadistischen Humor, dachte ich, und lebte weiter, weil ich neugierig war, was nun mit der Welt passiert. Ein Abschiedsbrief war bereits verfasst, aber ich verlegte den Abschied auf später. Im Januar 2002 sollte es nun wieder so weit sein. Zu dieser Zeit hatte ich aber oft Umgang mit Kindern aus der Verwandtschaft, und hielt durch, um diese nicht zu traumatisieren. Auf Erwachsene hätte ich keine Rücksicht mehr genommen. Böser Bub! Wie kannst du das deinen Eltern bloß antun! Keine Sorge, ich hatte Schuldgefühle genug: ich hatte einen krankhaften Schuldkomplex, der mein Leben komplett lähmte. Ich konnte keine negative Nachricht aus dem Fernsehen oder aus dem Leben anderer vernehmen, ohne sie auf negative Art auf mich selbst zu beziehen. Entweder: "Guck, dem da geht es noch schlechter als dir". Oder: "Irgendwie bin wohl ich daran schuld".


Ach, übrigens habe ich den 25.6.2001 vergessen. Da schrieb ich meinen ersten Abschiedsbrief, für den Fall der Fälle. Da wusste ich aber noch nicht, wie ich zur Tat schreiten sollte. Ich schaute mich in der Apotheke um, aber meine pharmazeutischen Kenntnisse waren sehr begrenzt. Und nun, im langen Jahr 2002, dem gefühlt längsten meines Lebens, dachte ich jeden Tag an den Freitod, und dieser Gedanke war mein einziger Trost. Verlierer, Versager, nichts wert und an allem schuld: mein damaliges Selbstbild. Mitte 2002 wollte ich es nochmal versuchen. Damals unternahm ich lange Fahrradfahrten, oft über mehr als 15 Stunden und dementsprechend über 200 Kilometer. Irgendwo, an einem entlegenen und von Schaulustigen verlassenen Ort wollte ich es tun.


Warum ich noch lebe? Ich weiß es nicht. Ich hätte mich aus heutiger Sicht nicht verurteilt, wenn ich es damals getan hätte. Aber die Selbstironie hat mich wohl vom Suizid abgehalten. Ich dachte, so viel Leid kann es in einem echten Leben doch gar nicht geben, ich lebe bestimmt in einer Tragödie für die Götter oder einer Seelenprüfungs-Computersimulation!


Jedenfalls verschwanden die Suizidgedanken auch 2003 nicht, denn alle Probleme waren immer noch da. Ich dachte nur: ach, wenn nicht heute, dann morgen, eilt ja nicht. Und ich kämpfte täglich mit unerträglichen Schuldgefühlen. Als ich 2004 den Kampf schließlich gewann, und einen positiven Selbstbezug (um den Preis eines bis ins Manichäische negativen Weltbezugs) herstellte, da war mir die offene Tür meine tägliche Rettung vor der Verzweiflung: ich kann mich jeden Tag aus dem Leben verabschieden, und ich darf es. Deshalb habe ich mich nicht 2004, 2005, 2006, und auch nicht 2007 umgebracht. Wobei ich Ende 2006 in einem Gedicht feststellte, dass "sich umbringen" letztlich ein "sich um nichts Bringen" wäre: mein Leben war immer noch nicht lebenswert, es war nur Leid und sonst nichts. Ich hatte keine Hoffnung, ja keine Vorstellung, wie mein Leben jetzt noch besser werden könnte: 24, nie Kind gewesen, nie Teenager gewesen, immer nur gelitten, gelitten, gelitten. Als würde ich Hitlers Karma abbüßen (der Gedanke kam mir damals oft).


Im Februar 2008 kam die Wende: bevor ich 25 wurde, begann meine Lebensqualität leicht aber kontinuierlich zu steigen. Von keinem Mitmenschen bekam ich Hilfe (ich suchte, ohne es einer anderen Person zu sagen, außer dem Psychotherapeuten selbst, einen Psychotherapeuten auf, der mir aber nicht helfen konnte: das Fluoxetin wirkte zwar auf der chemischen Ebene ein wenig, löste aber kein existentielles Problem, weshalb ich es eigenmächtig absetzte und nie wieder psychotherapeutische Hilfe suchte; das war im Winter 2004/05). Ich bekam Beschämungen, Beschuldigungen, Suiziddrohungen (wenn du dich umbringst, dann...), kurz: die Mitmenschen vergößerten mein Leid erheblich. Waren sie NPCs in meinem computersimulierten Purgatorium? Wer weiß, wäre jedenfalls, angesichts ihres Verhaltens, keine zu abwegige Verschwörungstheorie. Also: an der Hilfe anderer lag es nicht. Sie trieben mich (unabsichtlich, gestehe ich fairerweise zu) noch weiter in tiefe suizidale Verzweiflung.


Was hat mich gerettet? Mein Lebenswille und die Philosophie. Ich war 2004/05 Buddhist, 2005/06 Cioranianer (Radikalnihilist), 2006/07 Schopenhauerianer, und ab 2007/08 Hegelianer. Hegel war mein Nietzsche: er gab meinem Leid einen Sinn, zeigte mir den Weg, um nach einer Selbstvervollkommnung zu streben, die ich heute mit dem Übermenschen identifiziere, und nährte meine größte Sehnsucht, die Sehnsucht nach Erkenntnis. 2008 war das erste Jahr der Lebensbejahung seit 1998 (1999 hatte ich bereits, als neu konvertierter Christ, auf den baldigen, sehr baldigen Milleniums-Weltuntergang kurz vor dem Jahr 2000 gehofft), und seitdem, obschon ich mir die Tür zum Ausgang stets freigehalten habe, habe ich nicht mehr mit dem rettenden Gedanken an den Suizid mein Leben ertragen müssen: es wurde aus eigener Kraft immer besser. Ich baute mein Leben aus dem Nichts neu auf. Anfangs war es eine bescheidene Hütte. Heute steht, bildlich gesprochen, ein hohes Schloss auf hohen Klippen, unvorstellbar schön und unerreichbar hoch. Ich bin ein glücklicher Mensch, mit Lebensfreude und Dankbarkeit erfüllt.


Zu kitschiges Ende? Dann hauen wir mal drauf. Das Beste: ich habe alles allein geschafft. Keiner war für mich da, als ich in Not war, keiner kann Ansprüche stellen auf ein Zimmer in meinem hohen Schloss, ja nicht einmal auf einen Katzentisch in meinem Vorgarten! Da kommen junge hübsche süße zierliche Frauen: "Ach, hihi, wir bringen dir Liebe, Zärtlichkeit..." Erstens seid ihr mir nicht schön genug, und zweitens, wo war eure Liebe, als ich an Lieblosigkeit Todesqualen litt? Wo war eure Zärtlichkeit, als ich mich verzweifelt nach eine Beziehung sehnte? – Denke ich heute wirklich so? Natürlich nicht. Aber der 19-Jährige von 2003 würde das heute denken. Ja nicht bloß denken: er würde feierlich Abrechnungslyrik verfassen!


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