Herr Kamrath blickt in seinen Garten.

Kurzgeschichte

von  TassoTuwas

Der abgeschabt Sessel stand so vor dem riesigen Fenster, das vom Boden bis zur Decke und über die gesamte Zimmerbreite ging, so dass man von dort den ganzen Garten im Blickfeld hatte. Es war Herrn Kamraths Lieblingsplatz, und er verbrachte dort die meiste Zeit des Tages, ohne dass es ihm langweilig wurde. 

Es war wie immer, wenn er sich in den Polstern zurecht gerückt hatte, ging sein Blick über die fleckige Terrasse, die stumpf-braunen Rasenreste, die ausgetrocknete Mulde, an deren Rand letzte verdorrte Teichpflanzen hingen, bis hin zur unregelmäßig wild wuchernden Hecke, die das Grundstück zum Nachbarn abgrenzte. 

Dort verharrte er für Minuten versonnen, dann wanderte sein Blick langsam zurück und dabei verwandelte sich der Garten auf wunderbare Weise. Es war als würde ein bunter Teppich vor seinen Augen ausgerollt. Das Gras war von gleichmäßig geschnittenem satten Grün, mit breiten Blumenrändern und von hellen geharkten Kieswegen gesäumt. Dutzende Pflanzkübel jeder Größe verteilten sich ringsum und auf dem Teich schwammen Seerosen und es plätscherte der Springbrunnen.

Das, was sein Herz aber erwärmte und ein Lächeln auf sein Gesicht malte, waren die kleinen Mädchen im Garten in ihren bunten Kleidchen und den wehenden Schleifen im Haar.

Rebecca, die Wissbegierige und Älteste, lag lang hingestreckt im Gras auf der Suche nach dem, was da zwischen den Halmen herumhuschte. Hatte sie etwas entdeckt, schob sie die Hand vorsichtig in die Nähe des Krabblers in der Hoffnung, dass er sich traute auf ihren Finger zu klettern. Sie suchte die Begegnungen auf Augenhöhe, besonders die mit den Schnecken, war fasziniert davon, wie sie die Fühler aus und einrollten und ins Haus verschwanden. Dann hatte er ihr vom Schneckenkönig erzählt und woran man ihn erkennen konnte. Seitdem hoffte sie, dass sich einer in den Garten verirren würde, aber Schneckenkönige sind selten und so hatte sie noch nie einen zu Gesicht bekommen. 

Wen wundert es, dass sie später Biologie studierte und bei einem Gastsemester in den USA Jim kennen lernte, sich in ihn verliebte und mit ihm an ein Meeresforschungsinstitut an die Westküste ging. Und jetzt hatte er im fernen San Diego mit Cheyenne und Geronimo zwei Enkelkinder, in deren Aden zu einem Achtel Indianerblut floss.

Rebecca hatte die grünen Augen ihrer Mutter, die ihm unvergesslich waren

Ricarda, die Einfühlsame und Zweitälteste, schob ihren Puppenwagen über die Kieswege und hatte die Sandkiste zu ihrer Wohnung gemacht, die sie mit einem Dutzend Puppen jeder Größe und Farbe teilte. Denen erklärte sie die Welt. Ganz besonders am Herzen lag ihr die Gesundheit ihrer Puppenkinder, so wurde die Sandkiste regelmäßig zur Arztpraxis. Dazu rückte sie sich die Rotkreuzhaube auf den blonden Locken zurecht und aus dem Arztkoffer kamen alle vorhandenen Gerätschaften zum Einsatz. Früh wusste sie, was sie werden wollte. Für ihr Studium musste eine Hypothek aufgenommen werden und nachdem sie es mit Schwerpunkt Kindermedizin abgeschlossen hatte, ging sie für ein Jahr für eine Hilfsorganisation nach Afrika. Aus dem einen Jahr wurden mehrere und in einem ihrer letzten Briefe schrieb sie, dass in einem entfernten Landesteil eine weitere Krankenstation gebaut würde und man ihr die Leitung angeboten hätte.

Ricarda hatte das sanfte Herz ihrer Mutter, wer wollte ihr das Bleiben verübeln.              Roberta, die Jüngste und Verwegendste war an Unternehmungslust und Tatendrang kaum zu bremsen. Auf der Schaukel schwang sie sich in die höchste Höhe, lachte und quietschte vor Glück, wenn er rief, sie solle es mit dem Schwung nicht übertreiben, sprang aus dem Flug herunter, landete auf allen Vieren und eilte zum Trampolin. Mauern waren für sie zum darauf balancieren, und schließlich fing sie an auf Bäume zu klettern. Angst schien ihr fremd, die hatte er umso mehr, und er überlegte, wie er das Interesse dieses Wildfangs auf etwas Gefahrloseres lenken könnte. Dann kam ihm die Idee, ihr eine Kamera zu schenken und tatsächlich wurde das Fotografieren ihre Leidenschaft.

Er atmete auf. Durch einen Glücksfall fand sie einen Presseverlag, ging nach Berlin, weil sie dort sein wollte, wo Weltgeschehen stattfand. Ihr Talent, das Wesentliche im Bild festzuhalten, schien die Agentur zu überzeugen und bald darauf erfuhr er, dass ihre Fotoreportagen in den großen Tageszeitungen zu finden waren, erkennbar an der Bildunterschrift, Foto RK. Er suchte und fand sie. 

Es waren Bilder aus den gefährlichsten Krisengebieten dieser Welt.

Roberta hatte den Löwenmut ihrer Mutter, die bis zum letzten Atemzug gekämpft hatte.  

Herr Kamrath schlug die Augen auf, als er den Druck einer Hand auf seiner Schulter spürte. Es dauerte eine Weile, bis er wieder zu Ort und Zeit gefunden hatte.

Die etwas übergewichtige Frau bewegte sich mit erstaunlicher Schnelligkeit und schob ihm das Schälchen mit den Tabletten hin.

"Ich hab ihnen schon die Sachen rausgelegt".

"Muss das sein?", sagte er nach einer Weile des Überlegens. 

"Muss...", antwortete sie mit Nachdruck, "...Sie wissen in einer Stunde kommt der Notar, und da wollen wir doch gut aussehen".

Er warf einen langen Blick in den Garten, "Ich sollte es mir vielleicht doch noch einmal überlegen..."

"Herr Kamrath...", die Frau atmete hörbar ein und wieder aus, "...wir haben das doch alles besprochen oder soll es Ihnen auch so gehen, wie der alten Frau Berger, wo der Staat das ganze Erbe einkassiert hat?"






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Kommentare zu diesem Text


 tueichler (06.04.23, 00:20)
Lieber Tasso, das ist ja eine ganz neue und sehr interessante Seite Deines Schreibens. Ein ähnlicher Fall ereignete sich in meinem Dorf. Die Bewertung lässt viele Schlüsse zu, einige werden richtig sein. Sehr gern gelesen!
😎

 TassoTuwas meinte dazu am 07.04.23 um 09:58:
Moin Tueichler,
sozusagen die zweite Facette.
Allerdings, bis zum Brillantschliff fehlen mir nur noch 56 Facetten  :( ! 
Tatsache ist, die Schlüsse können sehr unterschiedlich sein.

Danke und ein schönes Osterfest wünscht
TT

 harzgebirgler (06.04.23, 07:53)
:) :) 
toll geschrieben, gerne gelesen!

...das abhängen von pflege und betreuen
scheint der herr kamrath zwar schon zu bereuen
doch reißt sich wohl die dicke ohne scham
am ende untern nagel seinen kram
erschleicht das erbe sich durch sanften druck
damit sein nachwuchs in die röhre guck'
der sich ja eh nicht kümmert offenbar -
so macht dann der notar die sache klar... :angry: 

lg
harzgebirgler

 TassoTuwas antwortete darauf am 07.04.23 um 10:13:
Gibt's beim Verblichnen was zu holen
sei seine Seele Gott empfohlen
danach sieht man die Fetzten fliegen
jeder möchte nur das Beste kriegen
:ermm: 
Dir ein schönes Ostern
TT

 AlmaMarieSchneider (06.04.23, 16:27)
Der Text hat mich mitgenommen, mich aus dem Fenster blicken lassen....und auch zurück.
Wunderbar erzählt!

Herzlichst
Alma Marie

 TassoTuwas schrieb daraufhin am 07.04.23 um 10:18:
Liebe Alma Marie,

wie gut, dass das Alter die Erinnerung verklärt!
Vielleicht war alles ganz anders?

Ich wünsche dir schöne Ostertage
TT

 Saira (06.04.23, 17:06)
Lieber Tasso,
 
deine Kurzgeschichte fesselt mich. Ich sehe Herrn Kamrath zunächst in einer, wie mir scheint, melancholischen Stimmung. Er blickt von seinem Lieblingssessel aus in seinen ungepflegten Garten.
 
Schenkt ihm diese Aussicht Bilder aus der Vergangenheit? Seine Gedankenreise erscheint mir realistisch. Es müssen seine Töchter sein, die einst im bunten, schönen Garten spielten und die ihre Lebenswege jeweils auf besondere Weise beschritten. Immer im Hintergrund ist seine verstorbene Frau. Rebecca hatte die grünen Augen, Ricarda das sanfte Herz und Roberta den Löwenmut der Mutter.
 
Dann der Szenenwechsel zurück in die Gegenwart. Herr Kamrath wird offenbar von einer Pflegerin versorgt. Was bedeutet das Testament, das erst jetzt aufgesetzt werden soll? Was bedeuten seine Zweifel auf eine Nachlassbestimmung? Sind die Töchter nicht ohnehin die Erbinnen? Spielt die Pflegerin eine böse Rolle?
 
Fragen, die für mich unbeantwortet bleiben.
 
Deine Erzählung berührt mich. Die Bilder, die du entstehen lässt, sind fesselnd!
 
Herzlichst
Sigi

 TassoTuwas äußerte darauf am 07.04.23 um 20:36:
Liebe Sigi,

aus der Erzählung ergeben sich tatsächlich sehr viele Fragen, aber sie werden nicht beantwortet.
Ist es wirklich möglich drei Töchter zu haben, die alle einen so außergewöhnlichen Lebensweg beschritten haben?
Ich weiß nur, dass es jeden Vater Stolz machen würde solche Töchter zu besitzen!  
Tatsache oder alles nur im wirren Kopf enstanden? 
Die Deutungshoheit bleibt beim Leser, und wie er auch entscheidet, er hat recht.
Der Schluss ist allerdings ist traurige Realität.

Ich wünsche dir ein schönes Osterfest.
Herzliche Grüße
TT

 Saira ergänzte dazu am 08.04.23 um 19:20:
In seinen Tagträumen zu leben hat in meinen Augen nichts mit einem wirren Kopf zu tun! Manchmal ist die Flucht in eine Art von Wunschdenken, wie etwas hätte sein können, sehr schön. Was wären wir ohne unsere Träume, lieber Tasso?
 
Fühle dich bitte freundschaftlich umarmt
von deiner Forenfreundin
Sigi

 Didi.Costaire (06.04.23, 23:15)
Hallo Tasso,

schon der "abgeschabt Sessel" gleich zu Beginn lässt aufhorchen und im Grunde wirkt alles traurig, aber es liegt auch im Auge des Betrachters.

Beste Grüße,
Dirk

 TassoTuwas meinte dazu am 07.04.23 um 10:26:
Lieber Dirk,

die letzten zwanzig Jahre saß ich in der Firma auf dem selben Stuhl (mit Armlehnen). Zum Abschied durfte ich ihn mitnehmen. Inzwischen sind wieder zwanzig Jahre vergangen und alle sagen: "Schmeiß das alte Ding weg".
Tu ich aber nicht  :D !

Schöne Ostern wünscht die
TT

 Teichhüpfer (09.04.23, 09:03)
Du musst denen sagen, was du willst. Das geht eigentlich nur über einen Notar. Die das Erbe bekommen, müssen das dann bewältigen.

 TassoTuwas meinte dazu am 09.04.23 um 10:50:
Moin Jens,

du bringst es auf den Punkt!

TT

 TrekanBelluvitsh (13.04.23, 14:22)
In Wahrheit sind wir immer das, was wir waren. Man bringt uns früh bei, in die Zukunft zu schauen. (dabei ist das, was uns als Zukunft verkauft wird zumeist nur die Gegenwart im Morgen wenn sich nichts ändert.) Erst spät realisieren die Meisten von uns das gestern - und seinen Wert. Erinnerungen machen diesen Wert aus und können darum auch wertvoller sein als die Gegenwart.

 TassoTuwas meinte dazu am 14.04.23 um 18:58:
Tatsächlich ist das Gestern, das Einzige was sich beweisen lässt.
Die Gegenwart ist viel zu kurz, und die Zukunft, wie viele sagen, vielleicht schon verspielt.
LG TT

 plotzn (13.04.23, 15:29)
Servus Tasso,

da kann man nichts machen - die gute Pflegerin hat einfach die übergewichtigen Argumente.

Und das lebenslange Wohnrecht lässt sich mit den richtigen Mittelchen auch besiegen.

Liebe Grüße
Stefan

 TassoTuwas meinte dazu am 14.04.23 um 18:53:
Hi Stefan,

tatsächlich hatte ich mit dem Gedanken gespielt, dich als Altenpfleger anzuheuern. Nach sorgsamem Lesen deiner geschätzten Zeilen, fühle ich mich plötzlich noch fit genug, die nächsten zwanzig Jahre allein zu meistern!

Mit freundlichen Grüßen
TT
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