Die Zecken haben ihn am Arsch

Bild zum Thema Abschied

von  alter79


     
    „Wir sollten nach Polen, ans Grab!“
    „Du willst mich mitnehmen?“, war sie erstaunt. Pierre staunte auch.

    Ein hoch gewachsener grauhaariger Mann mit seltsam leiser Stimme erwartete sie am Bahnhof.
    „Ich spreche Deutsch!“
    „Fein.“
    „Wollen wir gleich auf den Friedhof?“
    „Ja, bitte.“
     
    Zehn Minuten dauerte die Fahrt in einem klapprigen Seat.
    Der Kirchhof morsch an allen Ecken, Staub tanzte um tausendjährige müde Bäume, darunter die gepflegten Gräber.
    Einen Ring und eine Uhr wühlte Pierre mit bloßen Händen in die Erde, putzte sich die Hände am Papiertaschentuch ab.
    „Danke, dass Sie meine Söhne nach Hause gebracht haben und Verzeihung, dass Sie dafür soviel Unannehmlichkeiten und Nöte erleiden muss
ten …“
    „Der Versuch war es wert. Sie waren prima Kerle!“
    „Dass Sie das sagen ... Auch meine Söhne haben immer nur gut von ihnen gesprochen.“


    Als Pierre ihm in die Augen sah, war die Seele dahinter längst in eine Zwischenlandschaft geflohen. Der Alte wankte, hielt ihn am Arm. Nervöse Finger an seiner Jacke, in seinem Gesicht – als suchten sie Erinnerungen. Speichel faserte am Mundwinkel, getrocknete Tränen an den Augenlidern.
    „Ich habe noch den Lohn Ihrer Söhne auszuzahlen“, unterbrach Pierre die Situation und gab ihm zwei der Steine.
    „Die werden Sie gut tauschen können ...“
    „Vielen Dank, der Herr!“
    Darauf wurde das Beieinanderstehen klebrig.
    „Darf ich Sie und Ihre Begleiterin zu etwas einladen?“
    „Nein, wir wollen gleich zurück.“
    „Ich fahre Sie zum Bahnhof!“
    „Danke.“
    Eine tiefstehende Sonne zeichnete scharfe Schatten auf die Sitzpolster, blendete in Augen.
     
    Der alte Mann stand auf dem Bahnsteig, sein Gesicht steinern, abgelebt, und wurde ein dunkler Flecken, der winkte. Winkte und aus …
     
    „Ich befand mich immer im Krieg gegen mich selber, immer im Kampf mit der Reise ans Ende der Nacht“, erklärte Pierre Marie auf der Rückfahrt, „Doch das soll jetzt vorbei sein; ich werde mit mir Freundschaft schließen. C'est ça !“
    „Tust du es für mich?“
    „Nein, ich tue es für mich. Es ist das Ziel des Skorpions, dass mir verl o ren gegangen ist – deswegen.“
    „Schade, es wäre schön gewesen ...!“
    Und wieder keine Pflicht von ihm, keine Chance von ihr, sich mehr als zu begegnen. Es war nur die Nähe, wie bei einem Unfall, an einem sonn i gen Morgen. Wie Essen von der Frittenbude, wie alles überall.
    „Du, Pierre, ich wollte dir schon lange einen Vorschlag machen!“
    „Ich höre.“
    „Ich kann gut kochen, du hast den Kahn. Ein bisschen Geld habe ich auch; wir könnten aus dem Kahn ein Restaurant machen.“
    Ihre Begeisterung schmerzte wie Nähe und sie hatte viel davon.
    „Und wie soll es heißen? ‚Zum Doppelmörder‘?“
    Er konnte sich vor Lachen kaum halten.
    „Sag doch so was nicht. Du bist freigesprochen worden. Die Leute h a ben geweint, als sie dein Motiv hörten ...“
    „Du hast Recht. Aber ich muss darüber nachdenken.“
    Da war wieder das alte Schwein in ihm, der Zocker – eiskalt. Bloß kein Gefühl zugeben, gerade die demütigen, die einen mögen.
    „Du Sau“, sagte er sich deswegen, „Sauhund!“
     
    Kochen konnte sie, und erst ihr Nudelauflauf! Alle zehn Finger leckte sich Pierre. Dagegen war Ordnung nicht ihre Stärke, dafür aber seine, noch von der Legion her. So ergänzten sie sich.
    „Gut, lass es uns machen!“
    Sie war glücklich und tanzte um ihn herum. Pierre blieb distanziert. I r gendwie freuen tat er sich schon, doch eher für sie.
    „Ich muss noch nach Hamburg.“
    „Wieso?“
    „Geschäfte! Schließlich kostet der Umbau allerhand.“
    „Ich hab doch auch was.“
    „Lass stecken, das bunkern wir als Reserve.“
     
    In Hamburg wollte er die restlichen Steine tauschen. Erste Kontakte w a ren geknüpft. Doch sein einst unbedingter Wille war faul und fett gewo r den, hatte Speck angesetzt. Lieber hätte er den ganzen Tag in der Sonne gelegen, sich braun und faltig braten lassen und zweifelhafte Romane gelesen. Doch er musste hin, denn er fand, sie hätten besseres verdient als Honig, Vollkornbrot und Haferflocken, und die Klunker wurden vom Liegen auch nicht besser.
     
    Er traf den Diamantendealer im Restaurant des Hotel Atlantik.

Der Mann war klein, vollgefressen, hatte dicke Beine und Füße in enormer Schuhgröße, trug eine knallbunte Jacke, einen kanariengelben Binder und eine Perücke.
    Pierre hatte die Steine in einer Brötchentüte. „Wie originell!“, rief der Dicke.
    „Sollte ich die Dinger auf einem Bauchladen präsentieren? Machen wir’s kurz.“
    „Nun denn, gehen wir aufs Klo.“
     
    Es war nicht das, was Pierre wollte. Doch als der Dealer eine Pistole zog – eine winzige Mauser – , und schon darüber musste Pierre lachen, schlug er ihm locker eine Rückhand von unten her in die Fresse, dass das Blut bis an die Decke spritzte, schnappte sich die Pistole, schleifte den grunzenden Dicken in das Toilettenkabuff, stopfte ihm die Perücke ins Maul, so weit es nur ging, band ihm die Hände mit dem kanariengelben Binder am Klobecken fest und steckte den feisten Schädel in die Schüssel. Endlich. Aus der
Jackentasche fischte er Brieftasche, Wagenschlüssel, Parkticket. Geld, das der im Überfluss hatte. Und darüber wunderte sich Pierre. Der wollte bezahlen und überfiel ihn? Oder was? Egal – fragen wollte er nicht. Nein, nicht schon wieder die Suche nach dem, was sich unter Oberflächen a b spielte. Nicht bei dem, nicht bei sich – nirgendwo.
     
    Pierre riegelte die Ttür ab und stieg über die Seitenabtrennung ins Nachbarklo, kam ins Freie. Wusch die Hände, das Gesicht. Spülte Rot wie Tod ins Waschbecken.

Im Restaurant legte er einen Schein auf den Tisch. Fête.
     
    Den Daimler des Dicken parkte er am Kurhaus in Bad Bevensen. Dort bemerkte man derartige Protzschlitten nicht. Den Rest Weges bewältigte er mit Bahn und Taxe, nur nicht auffallen. Dann lag er im Bett,
bei Marie. Und seine Augen, sein Kinn wurden nass. Er träumte vom Knast, der Legion, vom Vater. Und, dass das nie ein Ende nehmen würde. Wie auch …
     
    „Immer gerate ich in die Scheiße“, - als sie ihn weckte, fragte sie, warum er weinte. Das Mitgefühl des D-Zugs namens Marie überrollte ihn. Ihre menschliche Wärme. Anteilnahme, Mitleid, ihm so fremd, so beieinander Stirnen und Münder. Denken und nicht, Hände und sehnen. Sie liebte ihn. Und er?
    „Oh Herr, nimm mein Leben in deine Hände. Amen!“
     

15     
     
    Der Kahn wuchs von drinnen nach draußen. Aus nichts wurde was, das man nicht sah. Hart wurde weich, wurde er. Aus Holz wurde alles andere. Wurde besser als vorher. Fenster, Boden, Tische, Stühle, Küche, Klo. Außen blieb es gleich, wie er. Dann die Eröffnung. Das Dorf Schnackenburg, das eine Stadt war, feierte mit. Abgeschossene Freudenfeuer zischten über Land und Wasser, hoch über Prominente, Sekt, Bier und Wein. Die unten sah man nicht. Der Pfarrer ging als letzter, wünschte Glück und Segen aller wegen.
    „Mann, kann der einen Stiefel vertragen“, wunderte sich Marie.
    „Und dann hat der mir immer auf den Bauch geschielt. Meinst du, der dachte ich bin schwanger?“
    „Ich glaube, der war einfach nur glücklich.“
    „Meinst du Glück ist ansteckend?“
    „Nö, eher nicht. Der hat ´ne Spende im Opferstock gefunden – desw e gen!“
    „Von dir?“
    „Was du immer fragst! Ja, von mir. Ein paar von den Steinen …“
    „Oh, wie großzügig!“
     
    Pierre stand im Türrahmen der Steuerkabine. Er blickte auf eine Lan d schaft voller Müllhalden und Sandflächen, auf zerrissenes, blutiges Land. Auf Bagger, die kreischend und rumpelnd den Tummelplatz für Gespen s ter und Albträume vorbereiteten. Atomtransporte, Wirtschaft, Fortschritt und Rationalität im Salzabbau. Alle die Wirklichkeiten in Schwere und Düsternis, in Realismus und Ideologie.
    „Lasset alle Hoffnung fahren“, deklamierte der Pfarrer am Sonntag.
    „Widerstand“, kreischte die Meute.
     
    Pierre wünschte diese Landschaft in der Sonne dösen zu sehen, wie fr ü her. Stattdessen auch noch Emil. Der war blass und unscheinbar, wie i m mer. Emil ging auf die Vierzig zu und sah aus wie siebzig. Hatte Marie geschlagen und vergewaltigt, das konnte er noch; ihr das Kind wegg e nommen, auch das, abgetrieben. Sie zu Gelegenheitsjobs gezwungen. Auch an einem Tag, an dem sie sich die Haare dunkelblond färben ließ und ihr Leben ändern wollte.
    Emil und Marie in ihrer Stammkneipe, er in hölzernen Arbeitslatschen, Winter wie Sommer. Sie mit Mantel und Hut, Frühling und Herbst … Sie wollte trinken und ihre Ruhe. Früher hatte sie gedacht, sie würden eina n der Glück bringen. Emil war immer betrunken, ohne Arbeit. Freunde hatte er nicht. Er hatte sie, Marie. Ihr die Ersparnisse abgenommen, ihre Kleider zerschnitten, ihre Seele zerschlagen. Sie hatte nur noch Reste von sich selber und die von Emil verstümmelte Katze.
     
    Marie liebte die dreibeinige Katze, jetzt noch mehr als zuvor. Und überhaupt, das Leben war gegen sie, und es gab Tage, da verließ sie das Haus nur, um Katzenfutter und Suffzeug zu kaufen. Am Tattag hatte sie satte zwei Promille, wie man später messen würde. Und der Gutachter fand bei ihr eine Identität, die sie nicht hatte. „Kriminelle Energie“, schrieb er. Was wissen schon Gutachter … Denn bei ihr war es gelebtes Leben, das versunken war in Alkohol und Selbstmitleid, kein Wunder. Und nirgends richtete sie sich wirklich ein. Irrte durch die Zeit, verfuhr sich, verlief sich, versackte, versumpfte, war auf einer Seefahrt im schweren Sturm, im u n möglichen Versuch der Selbsterkundung, in Traumsequenzen, Halluzinationen, die keine waren, in Wirklichkeiten. Sie lebte Klischees, die sie aus abonnierten Zeitschriften bezog, wand sich in Abwehrhaltung zu jeglicher Realität, die sie sich letztlich schöngesoffen hatte.
    Es ging um Mord; darum nämlich, dass sie Emil umgebracht haben soll te.
    Marie saß auf der Anklagebank, doch es könnte auch eine andere gewesen sein, oder eine so ähnliche.
     
    „Wie war es denn? Erzählen Sie!“, dröhnte der Richter in ihre Gedanken.
    „Er kam nach Hause, betrunken wie immer, setzte sich in die Stube und rauchte. ‚ Kaffee!‘, brüllte er dann. Er war drei Tage verschwunden,  und genauso lange war ich betrunken, wissen Sie.“
    „Ich weiß gar nichts. Erzählen Sie weiter!“, schnauzte der Richter.
    „Ja, Herr Richter, äh, diesmal war alles anders. Er goss sich e ine zweite Tasse ein und erzählte alte Geschichten, wieder und wieder. Sprach o h ne aufzuhören. Dann zündete er sich erneut eine Zigarette an und ging ins Schlafzimmer. Er zog sich aus, ich konnte ihn durch den Spiegel auf dem Flur beobachten, setzte sich aufs Bett und sah sich in dem sonst leeren Zimmer um.
    „ Was bin ich doch für ein armes Schwein“, murmelte er. Er war ein K ö ter, der ferne Erinnerungen aufwühlte. Und er stöhnte dabei. Als er sich selber sah, so plötzlich, wie nie zuvor, war er nicht mehr der Mensch, den er kannte. Er war sich fremd! Ein kleines fettes Schwein voller Gestank, Schweiß, Akne und dunkler Selbstbedrohung. Was war da bloß los, fragte er sich und sagte dann: „ Mein Kopf ist immer leer. Und immer das Brennen in den Augen. Das Brummen in den Ohren. Dieser Singsang im Hirn. In mir lebt eine Welt, deren Geheimnis ich nicht kenne. Ein Meer als stumm blitzender Ton, ein sich entfernender Lichtfleck und Geruch; di e ser Taumel tausender Gefühle, die nicht erklärbar sind …
    Ich möchte einfach dasitzen und glücklich sein.

Er wusste wohl nicht, dass er es aussprach und nicht nur dachte.
„Glücklich sein“, hat er dann wiederholt, „das wär’s". Aber er hat mich nicht angesehen im Spiegel, hat mich überhaupt nicht gesehen, denke ich.

     "Komm her, du Schlampe!“ , brüllte er stattdessen, hatte den Gürtel aus der Hose gezogen und wollte mich damit schlagen, wie immer.
     



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Kommentare zu diesem Text


 Beislschmidt (12.04.23, 20:05)
Starker Tobak, Alter. Abgeklärt, desillusioniert und gut geschrieben.
Beislgrüße

Kommentar geändert am 12.04.2023 um 20:05 Uhr

 alter79 meinte dazu am 20.04.23 um 06:31:
danke für deinen hinweis, den ich bein. übersehen habe. herzl. dank + einen guten tag
lgr.
M.
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