... das bisschen ...

Bild zum Thema Menschen

von  alter79

  „Mit dem Tiere hüten , verdiene ich mir was dazu.“  Was immer das bedeutete.

    „Eine Sekunde!“, bat er, „bin gleich wieder da.“
     
    Pierre sah aus dem Wohnzimmerfenster in den Hinterhof -, auf Mülltonnen hinter der Kastanie vor  der eine Tonne brannte, ein Feuer, an dem sich 
halbnackte Typen wärmten und ihre Klamotten trockneten, die sie aufgespießt hatten; worauf, das konnte er nicht erkennen. Er sah auch, dass Fusel in einer großen Flasche die Runde machte. Dieses durch Fensterglas gedämpfte Hunde knurren, das heisere Gegröle, hörte er.
    Die Erinnerungen, diese Bocksprünge der Seele, die Schemen des Gewesenen, da befand er sich – im Feindesland:

    Sam und er in einem Truck, die Munition für die Truppe an der Front transportierten.

Über Stunden ein immer enger werdender Streifen Luft, nicht sichtbar, der Korridor zwischen Lastwagenrädern und Minen. Sam, der das Tonnen schwere Ungeheuer urplötzlich anhielt, mitten auf der Fahrbahn stehen ließ, heraussprang, zwischen die Minen lief, und nicht mehr weiter wollte. Dann, ein Schäferhund, der aus einem nahen Gebüsch auf Sam zusprang, bellte, und Sam, der zu Bewusstsein gekommen schien, dem langsam davonlaufenden Hund Schritt auf Schritt folgte. So weit weg, dass Pierre ihn aus den Augen verlor – bis Tanger, Monate später.

    Dieser Sam, der gerade dabei war sich im Café St. Lux einen gefälschten Pass zu besorgen. Ab da wusste er, wie er ihn vermisst hatte, diese Angst um ihn, wie um einen Bruder. Sam war sein Bruder. Deshalb gab er ihm, was er an Scheinen hatte. Schob das Geld unter die Kaffeetasse auf dem Tisch.

    „Kauf dir eine gute Fleppe. Du weißt, was die Legion mit Deserteuren macht, man...!“
    „Ich weiß, Pierre.“ Und er hatte ihn erneut vermisst, den Bruder hier, der nun bei den Loosern war. U
nansprechbar, unmöglich und doch... seine Entscheidung unumkehrbar, wie alle Entscheidungen, die man vollzog.    

Er hatte gespürt, er konnte nicht bleiben, denn er konnte sich immer wieder selber in der Käfighaltung der Sucht sehen und das reichlich. Also legte er eine Handvoll Geldscheine auf den Tisch und ging, ohne ein weiteres Wort.
     
    Als er auf die Straße trat, hörte er Sam aus dem Fenster brüllen: „Komm sofort zurück,  sofort, du Idiot! Ich hab dir doch so viel zu erzählen!“ Doch Pierre war erschöpft, kaputt in der Anstrengung mit sich selber, also drehte er sich um, blickte hoch, winkte lediglich. Und dann, als Sam mit der Schreierei nicht aufhörte, stand er stramm, wie damals, und grüßte militärisch. Doch der schrie und tobte unbeirrt weiter: „Komm zurück, Kretino, Diabolo! Komm schon, komm ...“, und, nach einer Pause: „Ach, steck dir deine Kohle in den Arsch, du Idiot!“ Dann regnete es Geldscheine aus dem Fenster.

Die Typen im Hinterhof mussten die Farbe des Geldes gerochen haben, stürzten auf die Straße und fielen rülpsend und einander beißend wie zahnlose Tiger, über die Beute her. - Und das war das Letzte, was Pierre von Sam und dem Ort des Schreckens sah, hörte, dachte.
     
    Ein Taxi fuhr ihn in die Pension „Das Versteck“, die Absteige kannte er von früher. Dort angekommen, legte er sich aufs Bett, orderte Wodka und feierte den Sieg über sich und über das, was er nicht kannte. Als er betrunken genug war und die Niederlage, die ihm Sam in seinem Namen beigebracht hatte, erkannte, weinte er. Auch das war ihm eher unbekannt. Danach war er müde, leer von Tränen und Trauer und freute sich über das frisch bezogene, kühle Bett. Dort liegend entspannte sich sein
gedankenschweres Hirn, amüsierte sich sein Gemüt in mehr und mehr Wodka; und doch hatte er die ewigen Wünsche nicht vergessen. Ja, die waren da – immer. Und dieses Wissen floss herzwärts, hirnwärts, in ein anderes Ich. Es war wie so oft: Es strömten Gefühle aus dem Schlaf in die Wachheit und verlagerten sich hinter die zusammengekniffenen Augen; und er sah zum tausendsten Mal, wie er drohend die Faust hob und die sich ihm wie von selber und im Zorn der Selbstverstümmelung Nachdenkens statt Schlaf – an den Kopf schlug. Danach sah er sein karpfenartiges Maul sich öffnen und Befehle brüllen; er wusste es später nicht mehr, sah aber immer wieder sein knallrotes Gesicht unter dem Képi blanc hinter der Scheibe des Lastwagens, daneben ein zweites Gesicht, ein verzweifeltes, das von Sam, der gleich darauf schrie,  die Fahrertür aufgerissen und das Fahrzeug verlassen hatte , und draußen weiter schrie und tobte, und kreischte und rannte – rein in das Minenfeld.


    Pierre
vermochte seinen Hass auf die längs von Minen und Körpern verstopfte Straße fließen zu sehen. Sah Blut, abgerissene Arme und Beine; aus Leibern herausgerissene Eingeweide, die da lagen wie kaputte Brücken. Wirr gekrümmte tot-freie Menschen an den Rändern vorbei fließenden Lebens. Die zerpressten Seelen der Erwachsenen, die wenig gelebten von Kindern, deren Körper zerbombt wie die Landschaft.


    Alles, was er als
Krieger abgefeuert hatte, das ihn so schmerzlich selber immer wieder getroffen hatte, war endlos, und immer und immer wieder hatte er diese Bilder vor Augen, die toten Gestalten, sein ständiges Wiedererleben von Geschichte und Erinnerung. Und in dieser Erinnerung ging er, um Vergebung suchend, leer aus. Letztlich war dieser seelische Zustand, diese Ödnis, Erinnerung denken zu müssen. Käfighaltung, war eine Maßnahme, die von Gott in sein Hirn gesandt wurde, um ihn ständig neu abzustrafen.




Anmerkung von alter79:

geändert :) thx Dieter

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