Fahrt nach Boston

Kurzprosa zum Thema Abenteuer

von  phamatrix

Hätte ich nicht auf diesem Rastplatz auf der Interstate 90 bei Syracuse gehalten, wäre ich jetzt schon bei meiner Familie in New York City. Man hört und liest immer darüber, aber wenn es einen selbst trifft, glaubt man es erst nicht.
So erging es mir, als ich mit einem Sixpack Bud alkoholfrei zu meinem Wagen kam. Ein Mann stand dort und schien auf mich gewartet zu haben. Er machte zwar keinen verwahrlosten Eindruck auf mich, aber seine Kleidung schien irgendwie nicht zusammen zu passen.
»Können Sie mich nach Boston mitnehmen?«, fragte er.
»Sorry, aber ich fahre nicht nach Boston«, sagte ich. »Ich muss nach NY.«
Ich verzichtete darauf, ihm zu sagen, dass ich niemals Fremde mitnehme. Als ich einstieg, nahm der Mann unaufgefordert auf dem Beifahrersitz Platz. Mein Protest blieb mir im Hals stecken, als ich unvermittelt in den Lauf einer Pistole blickte.
»Tut mir leid, aber Sie werden mich nach Boston mitnehmen. Das ist nicht verhandelbar. Wenn Sie tun, was ich sage, wird Ihnen nichts geschehen.«
»Bitte nicht«, hörte ich mich flehen und hasste mich dafür. Noch nie hat jemand eine Waffe auf mich gerichtet. Ich hatte einfach nur Angst. Die Hände wurden feucht, mir wurde heiß und ich war außerstande einen vernünftigen Gedanken zu fassen.
»Sie müssen keine Angst haben«, sagte der Mann. »Sie müssen nur tun, was ich sage. Fahren Sie endlich los. Je eher wir in Boston sind, umso eher sind Sie mich wieder los.«
Ich war so nervös, dass mein Auto erst nach dem dritten Versuch ansprang. Ich gab viel zu viel Gas und die Reifen drehten quietschend durch. Die Blicke einiger Leute auf dem Parkplatz richteten sich auf uns, als wir mit einem Satz losfuhren und wieder auf die Interstate fuhren.
»Fahren Sie nicht so auffällig!«, mahnte mich der Mann und wedelte mit der Waffe. »Es ist in unser beider Interesse, wenn wir nicht angehalten werden.«
Ich hielt meinen Blick stur nach vorn gerichtet und schwieg. Was hätte ich auch sagen sollen?
»Sie haben sicher ein Mobiltelefon«, sagte der Mann. »Geben Sie es mir.«
Mit zittrigen Händen angelte ich es aus meiner Jacke und hielt es ihm hin. Er steckte es achtlos ein.
»W-was wollen Sie eigentlich von mir?«, fragte ich. »Ist es Geld? Ich gebe Ihnen alles, was ich habe, aber lassen Sie mich ... Ich will nur nach NY zu meiner Familie.«
»Das geht jetzt nicht. Ihr Geld interessiert mich nicht, aber ich muss nach Boston. Sie werden mich hinbringen. Wenn wir uns darauf einigen können, muss ich auch nicht ständig die Waffe auf Sie richten. Es war ernst gemeint, dass ich Ihnen nichts antun will. Das funktioniert aber nur, wenn Sie auch tun, was ich Ihnen sage. Das verstehen Sie doch.«
Albany 130 Meilen, stand auf einem Schild am Straßenrand. Dort würde ich nach Süden abbiegen, um nach Hause zu fahren. So jedenfalls der Plan. Ich blicke nach rechts, in das Gesicht eines Mannes, der mich aufmerksam beobachtet. Er wirkt nicht wie ein Verbrecher, erscheint sogar sympathisch – wäre da nicht die Pistole.
Ich nehme meinen ganzen Mut zusammen. »Warum haben Sie mich ausgewählt? Sie hätten auch in den nächstbesten Greyhound einsteigen können. Ich hab die Station gesehen. Die fahren ganz sicher auch nach Boston.«
Der Mann lacht humorlos auf. »Keine gute Idee. Zum einen habe ich kein Geld und Sie können sich denken, dass es Menschen gibt, die mich gern treffen möchten, bevor ich mein Ziel erreiche.«
»Ich gebe dir Geld«, sage ich hoffnungsvoll. »Und ich lasse dich bei der nächsten Greyhound-Station raus.«
»Vergiss es! Du bringst mich nach Boston und fertig. Wie heißt du überhaupt?«
»Trevor.«
»Okay, Trevor. Wir haben jetzt einen Deal und du wirst ihn erfüllen. Ich werde nicht weiter darüber diskutieren.«
Inzwischen begreife ich, dass mir keine unmittelbare Gefahr droht. Meine Angst tritt etwas in den Hintergrund. Ich verstehe diesen Mann irgendwie nicht. Er zwingt mich einerseits, will aber mein Geld nicht ... Was soll das alles? Und wer ist er?
Ich frage ihn: »Und wie ist dein Name, wenn wir uns schon duzen?«
Er grinst. »Nenn mich Joe. So heiße ich zwar nicht, aber das muss reichen.«
»Okay Joe. Du musst also unbedingt nach Boston ... Und hast eine Knarre. Ich hab verstanden, dass man offenbar hinter dir her ist und nicht will, dass du Boston erreichst. Was hast du dort vor? Was hast du angestellt? Willst du jemanden abknallen? Bist du so eine Art Killer?«
Seine Miene verfinstert sich. »Ich finde, du stellst zu viele Fragen. Mach dir keine Gedanken darüber, was geschehen wird, wenn wir ankommen.«
»Gedanken kann man nicht einfach abschalten«, sage ich. »Ich versuche nur, zu verstehen.«
Joe schien zu überlegen. »Ach, was soll’s? Ich bin in Buffalo aus dem Gefängnis geflohen. Ein alter Kumpel hat mir dabei geholfen. Von ihm stammt auch die Waffe.«
»Weswegen hast du gesessen?«
»Geht dich nichts an!«
»Irgendwie schon«, behaupte ich. »Immerhin sitzt du in meinem Wagen und ich habe dich am Hals. Ich muss dich nach Boston bringen und will eigentlich nur nach Hause.«
Er hebt seine Waffe. »Jetzt werde nicht frech, Trevor! Wir sind keine Kumpel. Manchmal kann man es sich nicht aussuchen.«
Inzwischen sind wir hinter Albany auf der 87. Ich muss einfach nur darauf bleiben und ich käme automatisch nach Hause.
»Mach dir keine Hoffnungen«, sagt Joe. »Du fährst gleich weiter auf der 90 nach Boston. Nicht mehr lange, und du kannst zu deinen Lieben weiterfahren. Aber erst, wenn ich in Boston bin. Verstanden?«
Ich nicke. »Ist ja schon gut. Aber ich müsste mal eine Toilette aufsuchen. Wenigstens das solltest du mir erlauben.«
»Wenn es sein muss. Aber mach dort keinen Fehler. Ich behalte dich im Auge.«
Kurz vor Lenox kommt endlich ein kleiner Rastplatz. Ich fahre raus und parke direkt vor dem kleinen Laden. Als ich aussteigen will, hält mich Joe am Arm fest.
»Ich komme mit, damit du nicht auf dumme Gedanken kommst.«
Hatte ich mir Hoffnungen gemacht? Ja, hatte ich, aber die zerstoben gerade in alle Winde. Joe hält vor der Toilette Wache und anschließend begleitet er mich sogar noch in den Laden, wo ich mir ein Wasser kaufen will. Aufmerksam beobachtet er mich über ein Regal hinweg, als plötzlich ein maskierter Mann in den Laden poltert und mit einer Pistole herumfuchtelt.
»Los Alter!«, brüllt er den Mann hinter dem Tresen an. »Alles Geld her! Sofort! Sonst knallt’s!«
Ich stehe wie versteinert. So etwas zwei Mal an demselben Tag? Wie wahrscheinlich ist das?
Während der Kassierer eilig alles Geld aus der Kasse klaubt, steht plötzlich Joe hinter dem Räuber und hält ihm seine Pistole an die Schläfe. »Du legst jetzt ganz langsam deine Knarre auf den Tresen, mein Freund. Der Maskierte schien erst zu überlegen, legt aber dann seine Waffe weg.
»Hast du Kabelbinder?«, fragt Joe den Kassierer. Der nickt.
»Gut, dann binden wir unseren Freund hier mal an die Heizung.«
Der Kassierer holt lange, stabile Kabelbinder. Der Räuber starrt nur auf Joes Waffe, die unentwegt auf ihn gerichtet ist.
»Machen Sie das«, fordert er den Kassierer auf. »Ich passe auf, dass unser Freund brav bleibt.«
»Und was mache ich dann mit ihm? Bleiben Sie hier, bis die Polizei eingetroffen ist?«
Joe lächelt. »Das geht leider nicht. Wir müssen weiter. Ziehen Sie die Binder daher ruhig recht stramm. Er muss es nicht bequem haben. Was meinen Sie?«
Der Kassierer grinst und zieht die Kabelbinder richtig fest. Sein Gesicht drückt dabei Genugtuung aus.
Wir verlassen den Laden und fahren weiter. Immer wieder blicke ich meinen Entführer von der Seite an. Seine Pistole hat er locker im Schoß liegen, aber sie zeigt nicht mehr ständig auf mich. Das beruhigt mich etwas.
»Joe, was war das eben?«
Als er nicht regiert, frage ich nochmals: »Joe?«
Er wendet mir sein Gesicht zu. »Ach Scheiß, was soll’s? Ich heiße nicht Joe. Mein richtiger Name ist Markus. Ich denke, es schadet nichts, wenn du ihn kennst.«
»Okay Markus, kannst du mir erklären, was das eben war – im Laden? Wieso hast du dem Kassierer geholfen?«
Markus zuckt mit den Achseln. »Der Kerl hat ihn bedroht – und dich auch. Das konnte ich nicht zulassen. Ich hasse Gewalt.«
»Sagt der mit der Knarre«, werfe ich ihm vor. »Was hast du wirklich vor?«
»Es ist für uns beide besser, wenn du nicht zu viel weißt. Bring mich nach Boston und fertig. Mehr musst du nicht wissen.«
»Dann eben nicht«, sage ich. »Aber dann bestehe ich darauf, dass wir gleich noch einen Stop machen. Ich habe einen Bärenhunger. Ich hab zuletzt zum Frühstück etwas gegessen.«
Markus macht ein nachdenkliches Gesicht. »Du willst etwas essen? Im Ernst? Du bist sicher, dass du keine Dummheiten machen willst? Es wäre wirklich dumm, wenn du versuchen wolltest, Hilfe zu erhalten.«
Er deutet auf die Pistole. »Du verstehst das doch. Sollen wir immer noch anhalten, um etwas zu essen?«
Er geht mir inzwischen echt auf die Nerven. Ich schlage mit beiden Händen auf das Lenkrad. »Was, verdammt noch mal, ist daran nicht zu verstehen? Ich habe ganz ordinären Hunger. Ich kann mich kaum noch auf den Verkehr konzentrieren.«
»Okay Trevor. Ich wollte das nur noch mal klarstellen. Fahr am nächsten Rastplatz raus und wir essen einen Burger – oder was auch immer.«
Ich weiß nicht, woran es liegt, aber meine Angst vor Markus, die mich zu Beginn unserer Fahrt in den Klauen hielt, ist fast nicht mehr zu spüren – und das, obwohl immer noch diese bedrohliche Waffe in seinem Schoß liegt und er nur danach greifen muss. Auf der Höhe von Springfield fahre ich raus und parke vor einem kleinen Diner.
»Du kennst die Spielregeln«, mahnt Markus und steckt seine Waffe in die Jacke. Gemeinsam betreten wir den Diner, in dem nur wenige Kunden sitzen. Da ich kein Held bin, verzichte ich darauf, Dummheiten zu machen, wie Markus das nennt. Wir bestellen jeder einen Burger und Chips so wie eine Coke. Markus dirigiert mich in eine Ecke im hinteren Teil des Ladens, wo wir Platz nehmen und essen.
Von unserem Platz aus haben wir einen guten Blick auf den riesigen Plasmafernseher über der Theke, auf dem CNN läuft. Als hätte man nur auf uns gewartet, kam eine Meldung über den Ausbruch eines Gefangenen aus einem Gefängnis in Buffalo. Es wurde um Mithilfe der Bevölkerung gebeten und gleichzeitig davor gewarnt, sich dem Mann zu nähern, der vermutlich bewaffnet wäre. Ein schlechtes Foto zeigte Markus in orangefarbener Gefängniskluft. Hätte ich nicht schon etliche Meilen mit ihm in einem Auto zurückgelegt, hätte ich ihn anhand dieses Fotos nicht erkannt.
Markus lacht. »Vermutlich muss ich mich dafür bedanken, dass sie ein so schlechtes Foto gewählt haben. Ich habe schon befürchtet, mich hier klammheimlich herausschleichen zu müssen.«
Als wir fertig sind, erhebt sich Markus. »Los, wir müssen weiter.« Auch ich stehe auf und wir verlassen den Laden. Wir grüßen freundlich und gehen zurück zum Auto.
Schweigend fahren wir weiter. In mir befinden sich etliche Fragezeichen. Markus ist mir ein Rätsel. Kurz vor Worcester halte ich es nicht mehr aus.
»Markus?«
»Hmm?«
»Ich möchte mit dir reden.«
»Dann mach das«, sagt er nüchtern.
»Ich versuche, dich zu verstehen«, sage ich. »Du brichst aus dem Gefängnis aus, besorgst dir Zivilkleidung und eine Waffe. Dann entführst du mich, zwingst mich, dich zu fahren. Mit Geld brauchtest du mich überhaupt nicht. Vorhin, als du den Räuber aufgehalten hast, hättest du dir das Geld auch schnappen und damit verschwinden können. Das hast du aber nicht getan. Stattdessen lässt du dich immer noch von mir herumfahren.«
»Wir fahren nicht herum. Wir fahren nach Boston«, korrigiert Markus.
»Das ist doch Haarspalterei!«, werfe ich ihm vor. »Fest steht, ich fahre nicht freiwillig nach Boston, sondern, weil du mich mit der Waffe dazu zwingst. Wenn ich der Meldung auf CNN glauben darf, ist es für mich auch besser, ich mache, was du sagst. Du bist gefährlich.«
Er sieht mich eine Weile schweigend an. Dann nimmt er seine Waffe in die Hand und ich spüre, wie meine Angst zurückkehrt. Bin ich zu weit gegangen?
»Fahr rechts ran!«, fordert er.
»Hier?«, frage ich. »Auf dem Highway?«
»Auf dem Seitenstreifen«, sagt er. »Ja, hier.«
Als der Wagen zum Stehen gekommen ist, legt Markus die Waffe wieder zur Seite.
»Du hast Angst vor mir«, stellt er fest. »Angst vor mir und meiner Waffe. Würdest du mir glauben, wenn ich dir sage, dass du von mir nichts zu befürchten hast.«
»Nicht wirklich«, gebe ich zu.
»Du hast mich nicht gefragt, wieso ich im Gefängnis war.«
»Kommt jetzt der Teil, wo du mir erklären willst, dass du unschuldig eingesperrt warst?«, frage ich zynisch.
Markus schüttelt den Kopf. »Nein, sicher nicht. Das habe ich mir ganz sicher selbst zuzuschreiben. Gut, es hätte nicht so lange sein müssen, aber auch das ist meine eigene Schuld.«
Irgendwie macht er mich neugierig. »Was ist passiert?«
»Ich hatte eine Freundin und war entschlossen, sie auch zu heiraten. Aber die Zeiten waren schlecht. Ich verlor meinen Job und war immer nur pleite. Aber man hat ja Kumpels, die einen nicht hängen lassen. Heute weiß ich, dass es die falschen Kumpels waren. Aber damals, als sie mir sagten, sie hätten da was am Laufen, schien das meine einzige Hoffnung zu sein. Meine Freundin verließ mich, als sie erfuhr, dass ich bei Einbrüchen mitmachte.«
»Und du hast nicht versucht, sie zu halten? Die kriminellen Aktivitäten wieder einzustellen?«
Er schüttelt den Kopf. »Ich steckte schon zu tief drin. Hey, ich war damals noch jung und – zugegeben – auch blöd. Ich hatte damals immer Geld und die Welt gehörte mir. Jedenfalls dachte ich das. Ein paar Jahre später haben sie mich geschnappt – mich und auch die anderen. Dabei hab ich nur Schmiere gestanden. Ich hab schon damals nichts mit Waffen zu tun haben wollen. Trotzdem war es in seiner Gesamtheit schon ein bewaffneter Raubüberfall und ich gehörte dazu. Zusammen mit einer früheren Verurteilung wegen Trunkenheit am Steuer brachte mir das zwölf Jahre ein. In ein paar Monaten wäre ich frei gekommen.«
»Was?«, frage ich überrascht. »Du wärst bald frei gekommen? Und dann brichst du jetzt aus? Entschuldige, aber ist das nicht völlig bescheuert?«
»Man kann es sich eben nicht immer aussuchen!«, fuhr er mich an. »Das verstehst du nicht.«
»Dann erkläre es mir doch einfach!«, forderte ich. »Tu nicht, als wäre ich dämlich. Und wo wir grade dabei sind: Wieso fuchtelst du ständig mit der Pistole herum, wenn du doch mit Waffen nichts zu tun haben willst? Bevor du dich jetzt wieder aufregst: Ich bringe dich nach Boston. Aber du bist es mir schuldig, zu erklären, was das alles soll.«
»Vielleicht hast du recht«, sagt er. »Ich habe dir doch vorhin von meiner Freundin erzählt.«
»Von der, die dich verlassen hat, ja.«
Markus fasste in seine Jacke und zog ein kleines Foto heraus. Er wirft einen Blick darauf und reicht es mir dann. Eine bildhübsche Frau von Anfang-Mitte zwanzig lächelt darauf.
»Das ist, oder war, deine Freundin?«, frage ich verständnislos.
»Nein«, sagt er lächelnd. »Das ist ihre Tochter ... Und meine Tochter.«
Ich bemerke einen Anflug von Stolz auf seinem Gesicht.
»Das ist meine kleine Beth. Das einzig Gute, das ich in meinem Leben geschafft habe. Morgen heiratet sie in Boston ihren Verlobten. Da will ich unbedingt dabei sein.
Ich habe einen Urlaubsantrag gestellt deswegen und eigentlich geglaubt, man würde mir das erlauben – wegen der guten Führung und weil ich sowieso bald rauskomme. Aber sie haben abgelehnt. Ich hatte gar keine andere Wahl ...«
Er blickt mir direkt in die Augen. »Was hättest du an meiner Stelle getan?«
»Ich weiß es nicht«, sagte ich ehrlich. »Verstehen kann ich dich aber.«
Er nimmt das Foto wieder an sich und streichelt mit dem Finger darüber.
»Und wie geht es jetzt weiter?«, will ich wissen.
»Morgen werde ich der Hochzeit beiwohnen. Ich will mit meiner Kleinen auf ihrer Hochzeit tanzen. Danach stelle ich mich den Behörden.«
»Und gehst in den Knast zurück?«
Er zuckt mit den Achseln. »Lässt sich wohl nicht ändern. Aber ich hoffe, dass ich keine all zu lange Zugabe bekommen werde. Es wurde niemand verletzt und ich bin – abgesehen vom Ausbruch – nicht straffällig geworden.«
»Belüg dich nicht selbst!«, rief ich. »Du hast mich entführt. Mit Waffengewalt.«
Ich deute auf die Pistole, die immer noch auf seinem Schoß liegt.
»Ach die«, meint er und hält sie mir hin. »Hier, nimm sie. Ist nicht mal geladen.«
Ungläubig starre ich ihn an. »Nicht geladen? Und was sollte das dann?«
Er zuckt mit den Achseln. »Ich musste dich ja überreden, mich zu fahren. Es reichte, dass du angenommen hast, sie wäre geladen. So wie auch dieser Räuber an der Raststätte ... Aber jetzt weißt du’s.«
Ich reiche ihm die Pistole zurück, doch er winkt ab.
»Ich hab keinen Bock mehr auf diesen Scheiß. Es liegt jetzt ganz bei dir, ob ich rechtzeitig zur Hochzeit meiner Tochter in Boston bin. Wirst du mich noch fahren?«
Ich überlege kurz.
»Ich stelle aber Bedingungen«, sage ich und jetzt ist es sein Gesicht, das Besorgnis zeigt.
»Bedingungen?«
»Zumindest eine«, sage ich. »Du gibst mir sofort mein Telefon zurück. Ich sollte längst in NY sein. Meine Frau wird sich Sorgen machen und ich hatte versprochen, zu Hause zu sein, wenn unsere Töchter ins Bett müssen.«
Markus greift sofort in seine Jackentasche und reicht mir mein Smartphone. Ich greife danach und steige aus dem Wagen aus. Markus lässt mich nicht aus den Augen und ich erkenne die Fragezeichen in seinen Augen. Wen würde ich anrufen?
Als ich wieder einsteige, sieht er mich nur schweigend an. Ich lasse ihn einen Moment zappeln.
»Ich habe nicht mit der Polizei gesprochen«, verrate ich ihm dann. »Es war meine Frau. Ich habe ihr gesagt, mir wäre etwas dazwischen gekommen und es könnte heute spät werden. Sie hat gemeint, ich solle vorsichtig fahren.«
»Und jetzt?«
Ich lächle ihn an. »Anschnallen! Wir haben noch ein gutes Stück bis Boston. Du musst zu einer Hochzeit und solltest nicht zu spät kommen.«

Als ich später in der Innenstadt von Boston stoppe, reicht mir Markus seine Hand und ich ergreife sie.
»Mach’s gut«, sage ich. »Bring deine Kleine gut unter die Haube. Und viel Glück für dein weiteres Verfahren.«
»Das werde ich ... Und danke. Du hast dich als guter Freund erwiesen, obwohl ich es anfangs nicht gut mit dir gemeint habe. Darf ich dich etwas fragen, Trevor?«
»Ja?«
»Darf ich dich vielleicht einmal anrufen, wenn ich raus bin?«
Eigentlich sollte ich froh sein, diesen Kerl einfach nur loszuwerden. Stattdessen ... Mir kommt kurz der Begriff Stockholmsyndrom in den Sinn, doch irgendwie ist das hier etwas anderes. Ein Lächeln macht sich auf meinem Gesicht breit und ich hole eine kleine Visitenkarte aus der Tasche.
»Hier. Pass gut darauf auf. So kannst du mich jederzeit erreichen. Melde dich einfach, sobald du frei bist, aber jetzt hau ab ... Ich will zu meiner Familie.«
Er drückt mich kurz und steigt dann aus. Ein kurzes Winken und dann ist er in der Menge verschwunden. Ich blicke ihm noch ein paar Sekunden nach, kann ihn aber nicht mehr entdecken.
Ich starte den Wagen wieder und wende. Es sind noch über zweihundert Meilen bis nach Hause. Mir geht dieser ganze Tag immer wieder durch den Kopf. Irgendwie bin ich sicher, dass ich Markus wiedersehen werde.


Hinweis: Du kannst diesen Text leider nicht kommentieren, da der Verfasser keine Kommentare von nicht angemeldeten Nutzern erlaubt.

Zur Zeit online:
keinVerlag.de auf Facebook keinVerlag.de auf Twitter keinVerlag.de auf Instagram