Der Hahn

Anekdote zum Thema Gewalt

von  GroAda


   Obwohl es früh am Morgen war, spiegelte sich eine dünne Luftschicht flach auf der perfekt asphaltierten Straße. Unaufhörlich trieb der Wind den Sand in schmalen Wellen über die Fahrbahn. Eine elegante schwarze Limousine fuhr in absoluter Ruhe in Richtung Hatta. Das breite, tiefe Innere bot beiden Reisenden angenehm klimatisierte Ledersitze, ein Carhifi System und eine Minibar mit alkoholfreien Getränken. Die dunkel getönten Scheiben trennten sie vom Chauffeur und der Außenwelt. 

 
   Prinz Salman telefonierte die meiste Zeit oder wurde angerufen,  was seinen Gast aber kaum störte. Sie schaute aus dem Fenster und dachte an nichts. Chaotische Geröllfelder lösten weiche Dünen ab, die wiederum einer langen, dürren Ebene Platz machten. Während Aine ihre Blicke über die Landschaft schweifen ließ, wurde der Wagen sachte zum Halten gezwungen. Eine größere Herde schwarz zotteliger Ziegen überquerte vor einem Dorf die einzige Straße weit und breit. Manche der Ziegen blieben stehen und schauten neugierig zur Limousine, andere drängten sich vor oder boxten ihren Nachbarn in die Seite. Es dauerte.
   
Nachdem endlich die Wolke aus Staub, Gestank und Fliegen verzogen war, sah Aine am Straßenrand ein kleines Mädchen, das schreiend und voller Blut hin und her rannte. Verfolgt wurde es von einem großen, wunderschönen, aber bösartigen Gockel, der es immer wieder brutal angriff und aggressiv auf Kopf und Rücken hackte. Im Bruchteil einer Sekunde durchschnitt der Anblick Aine wie das Fallbeil einer Guillotine und es brach etwas in ihr frei. Im Nu sprang sie, zu allem entschlossen, aus dem Wagen, schnappte sich einen krummen Knüppel, der gerade herumlag, und eilte dem hilflosen Kind entgegen. Als der Teufelsvogel sie sah, stoppte er, wandte sich von der Kleinen ab und rannte, halb fliegend, direkt auf Aine zu. Mit einem mächtigen Satz und nach vorn gespreizten Krallen setzte er zum Sprung an. Während Aine lief, hob sie ihren Knüppel wie einen Baseballschläger in die Höhe, umklammerte ihn fest mit beiden Händen und verpasste dem Hahn einen gezielten Schlag vor den Kopf, so dass dieser rückwärts taumelte, mit einem dumpfen Knall auf den Schotter plumpste und bewusstlos liegen blieb. Diese vortreffliche Gelegenheit darf ich mir nicht entgehen lassen, dachte sich Aine. Hastig sprang sie zu ihm, packte mit der einen Hand seinen Hals und hob ihn wie eine Trophäe gen Himmel. Mit der anderen Hand zog sie in Windeseile ein schmales aber scharfes Messer aus der Tasche und schnitt dem Gockel mit einem gekonnten Zug die Kehle durch. Es ratschte und der bunt Gefiederte klatschte mit einem trägen Puff zu Boden. Den Kopf ließ Aine langsam aus ihrer Hand gleiten, worauf er am schmutzigen Straßenrand sein Ende fand. 

   
   Wie auf Kommando hörte das Geschrei des Mädchens auf und entgeistert blickte es zu Aine. Just in diesem Moment legte sich eine beruhigende Stille wie eine schwere Decke über alles und jeden. Es war geschafft. Angesichts ihrer heroischen Tat jubelten Aines Gefühle wie zu einem römischen Triumph.   

 
   Dieses Glück aber währte nur kurz, denn eine dicke Frau lugte aus dem angrenzenden Haus auf die Straße, schaute zuerst zum Kind und folgte dann dessen versteinerten Blick bis zu Aine. Als sie aber ihr heiß geliebtes Federvieh tot vor Aines Füßen liegen sah, polterte sie mit einem ohrenbetäubenden Geschrei aus dem weiß getünchten Haus. 

 
   Die Situation drohte zu eskalieren und weckte Salman aus seinen Telefonaten. Wieso hatte sein Gast so blitzartig den Wagen verlassen und was war da draußen los? Ruckartig knallte ihm der Satz des Doktors vor die Stirn: “Oh Gott, was hat sie nun wieder angestellt”, und dem Prinzen schwante nichts Gutes. Er fragte seinen Chauffeur und dieser teilte ihm mit, was geschehen war. Daraufhin befahl ihm Salman, aus dem Auto zu steigen, zu der Frau zu eilen und sie zu beruhigen, was dieser tat. Ein Geldschein wurde gereicht. Gierig grabschte die Dicke zu und blinzelte mit zugekniffenen Augen zur Limousine, konnte aber durch die abgedunkelten Scheiben den Insassen nicht erkennen. Jedoch hielt sie es nicht davon ab, in ein noch größeres Geschrei zu verfallen. 

 
   Schließlich öffnete sich die hintere Tür der Limousine und Prinz Salman stieg mit einer ihm gewohnten behäbigen Ruhe aus dem Wagen. Er schritt zu seinem Gast und baute sich direkt hinter ihr auf, denn, was er auf jeden Fall vermeiden wollte, war eine Rauferei zwischen beiden Frauen. 

  “Wieso kreischt die Frau so laut?”, wollte Aine vom Prinzen wissen und der antwortete gelassen: 

  “Die Frau ist wütend, weil sie ihren Gockel getötet haben.”

  Mit dem Ärmel ihres Niqab wischte sich Aine den Schweiß von den Augen und sagte: “Er attackierte das Kind und hätte es töten können!”, aber Salman erwiderte trocken:  

  “Aber der Hahn ist viel mehr wert als das kleine Mädchen.”  

  Da riss Aine die Augen weit auf und Zornesfalten durchkreuzten ihre Stirn. Sie holte tief Luft und schrie mit voller Wucht in Richtung der Frau:

  “Waaaas?? Gleich hau ich dir eine aufs Maul. Warte nur, bis ich bei dir bin!” 

  Wild mit den Armen fuchtelnd, noch immer das Messer in der Hand, war Aine kaum zu bremsen. Dies sah die Vollschlanke und fing gleichermaßen an, mit Armen und Beinen zu rudern. Zum Glück sprang geistesgegenwärtig der Chauffeur direkt vor die Frau und versperrte ihr den Weg. Lautstark beschimpfte er sie und steckte ihr einen nach dem anderen Geldschein zu. Aber um Aine zu stoppen, bedurfte es mehr. Salman war gezwungen, sie rasch fest an der Schulter zu packen. Mit aller Wucht wollte sich Aine von ihm losreißen und davon stürmen, so dass er, ohne zu zögern, ihre Hüfte umklammerte, Aine hoch hob und sie zurück ins Auto verfrachtete. Und mit vollem Körpereinsatz blockierte er die offene Wagentür. Wie eine Furie wetterte Aine, als wäre sie von Sinnen. 

 
  Nun riss Salman der Geduldsfaden und er brüllte mit tiefem Bass: “Was denken Sie, wer Sie sind?! Sie kommen in unser Land und sind der Überzeugung, Sie können hier töten und schlagen, was und wen sie wollen.” Salmans Ausbruch verblüffte Aine so sehr, dass sie auf der Stelle verstummte. 

  “Aine, was ist in Sie gefahren? Ich verstehe Sie nicht und woher haben Sie eigentlich so schnell ein Messer?” 

  Die wortlose Antwort ließ nicht lange auf sich warten. Bockig  verschränkte Aine ihre Arme und rückte in die hinterste Ecke des Fahrzeuges. Demonstrativ wendete sie ihr Gesicht vom Minister ab und starrte aus dem Fenster. Dabei murmelte sie, leise mit den Zähnen knirschend, unverständliches Zeug vor sich hin.

  “Bei Allah, in meinem ganzen Leben ist mir noch nie so eine katastrophale Frau begegnet wie Sie. Mir reicht es für heute. Ich will nicht mehr.” Krachend schlug er die Türe zu und setzte sich vor zum Fahrer. Fassungslos schüttelte er den Kopf und sagte:.    

  “Bitte drehen Sie um, wir fahren nach Hause, wallah wallah, was für ein Tag.”


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Kommentare zu diesem Text


 AlmaMarieSchneider (17.05.23, 12:44)
Wunderbar und spannend erzählt.

Herzlichst
Alma Marie

 GroAda meinte dazu am 18.05.23 um 08:12:
Vielen Dank Alma Marie,

ich muss üben, mehr Substantive zu benutzen und weniger Adjektive.
Hast du mir folgen können oder warst du gestolpert?

LG Ada

 AlmaMarieSchneider antwortete darauf am 23.05.23 um 01:12:
Nein Ada, alles gut zu verstehen und zu folgen. 
Liebe Grüße
Alma Marie

 GroAda schrieb daraufhin am 23.05.23 um 12:11:
Vielen lieben Dank für die Rückmeldung.
Eine schöne Woche wünsche ich dir.

LG Ada
Agnete (66)
(17.05.23, 18:57)
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 GroAda äußerte darauf am 18.05.23 um 08:20:
Vielen Dank Agnete.

Ich halte mich aus Politik raus. Mich interessiert das Zwischenmenschliche. 
Meine Texte sind zum Teil autobiographisch. 

LG Ada
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