Dann selbst im düsteren Auge keine Träne wird mehr sein...

Text

von  theatralisch

Wie's mir geht?
Ja.
Immer noch eine der am häufigsten gestellten Fragen auf Tinder.
Die eigentliche Antwort ist: Gar nicht.
Irgendwann - spätestens dann, wenn einer eigene Kinder hat - wird er eine zuweilen bizarre Verbindung zu den eigenen Eltern spüren. Verbunden habe ich mich mit meinen Eltern selbstredend (Sie sind schlechte Menschen.) nie gefühlt. Doch da ist dieses Inhärente: Merken, wie eigene Züge denen der Erzeuger ähneln. Für mich ist das abscheulich. Und seitdem ich mich ein stückweit wie meine Eltern fühle, wünsche ich mir, dass das endet. Mir ist egal, was mit meinen Eltern passieren wird. Ich habe quasi den Kontakt zu ihnen abgebrochen. Darum geht es nicht.
Der Punkt ist nämlich, dass es um gar nichts (mehr) geht. Der Mensch "ernährt" sich von Erinnerungen. Mal de facto: Insbesondere im hungrigen Zustand wird im Supermarkt zu Lebensmitteln gegriffen, die gerne in der Kindheit verzehrt wurden. Bei manchen Menschen - den neurotypischen - wiegt dieses Gefühl eher wenig, fällt kaum auf. Bei den Neurodivergenten ist es, als würde an einer einzigen Erinnerung das ganze Leben hängen und daraufhin das Herz mitsamt dieser Erinnerung in 1000 Teile zerspringen. Wie einer vielleicht so sagen würde. Im Prosa-Texten bin ich eingerostet. Früher war das anders: Da habe ich mich wie Isabella / ich gefühlt, Schreiben und Bier fand ich gut sowie Musik; und vor allem meine Fantasie.
Heute schlafe ich. Immer. Auch mit offenen Augen. Denn es ist alles gesagt und getan. Leben bedeutete Anpassung. Authentizität und Selbstverwirklichung sind Illusionen. Und ich bin demzufolge desillusioniert.
Diese Psychiater: "Machen Sie Sport?" Ja, diese Psychiater verstehen gar nicht, worum es geht, denn sie sind ja Menschen, hihi. Ich mache jeden Tag Sport. Ich war Leistungssportlerin. Sport bedeutete mir viel und heute ist es überlebenswichtig. Ich mache quasi nur noch Sport. Sonst bin ich meistens untätig.
Heute schrieb ich jemandem, dass ich erst am Samstag nach einem Tinder-Date merkte, wie abscheulich ich den Kontakt zu Menschen schon immer fand. Oder in jedem Fall unnötig. Nichts, aber auch wirklich gar nichts zieht mich zu Menschen. Und das war schon immer so. Ich habe weder Depressionen noch treibe ich keinen Sport oder kann keine Bilanz ziehen. Das gelingt mir alles ziemlich gut.
Früher war ich zu oft empört. Zurecht empört. Grund für meine Empörung war fast immer das Gefühl von Ungerechtigkeit im Kontext von Leistung: Es ist ohne Frage so, dass Leistung verbunden ist mit Willkür. Aber Leistung ist unweigerlich schlecht und sollte abgeschafft werden. Ich wünschte mir immer, dass ALLE Menschen verstünden, dass wir nur dann überleben können, wir uns vollkommen der Nächstenliebe widmen. Wenn wir uns selbst endlich in Ruhe ließen. Denn vor dem ganz großen Hintergrund der Fürsorge für eine einzige Welt sind wir selbst unwichtig. Destruktive Gefühle wie Neid, Missgunst haben hier keinen Platz. Doch solange es um Leistung geht, wird nie jemand verstehen, was, wer und wo wir eigentlich sein könnten und sollten - wie schön das dann alles wäre! Wie schön.
Wenn ich das so erzähle, spüre ich einen Kloß im Hals. Ich sehe meine herzensgute Oma vor mir - umgeben von Blumen in ihrem Blumenbeet. Sie sieht mich und lächelt. Das hat niemand mehr sonst nach ihrem Tod wieder auf diese aufrichtige Weise getan. Meine Oma war empört wie ich; sie wusste über Nächstenliebe Bescheid.
In meinen Augen geht es also nicht einfach darum, seinem eigenen Dasein als Erdenbürger etwas abzugewinnen und das individuell Beste rauszuholen. Es geht um ein Gefühl, das es weder zu besitzen noch zu vermeiden gilt. Ein einziges Gefühl, das jedoch ganz viele Facetten hat: Es ist manchmal ganz warm (Der Mensch ist voller Hoffnung.) und manchmal ganz kalt (Der Mensch will den Wald sehen, nur den Wald sehen; es wäre alles da, so schön, aber...aber das Ausdruckslose, das in den Augenhöhlen der Menschen wohnt, spricht Bände...).
Obschon ich wissenschaftlich arbeiten kann und weiß, was das bedeutet und wie wichtig das ist, habe ich Meinungen, Gefühle: Etwa zu Menschen wie Marianne B.
Den meisten Menschen geht es nur um sich selbst, um ihr eigenes Ego. Was sie auch tun, tun sie, um sich irgendwie zu profilieren. Und meistens spielen die Eltern eine erhebliche Rolle: Wer nie von seinen Eltern gehört und gesehen wurde, will von anderen gehört und gesehen werden. Aber das ist falsch, denn Liebe gäbe es umsonst, ganz ohne Gegenwert. Es dürfte erst einmal gar keine Rolle spielen, welche Titel oder Auszeichnungen ein Mensch hat (Stichwort Leistung). Dennoch empfand ich mein Studium als unerlässlich im Kontext der Reflexion, des effizienten Denkens, das einzig zielführend ist.
Es gibt also keine Welt für uns alle. Und seit - wenigstens metaphorisch gesprochen - Gott Adam und Eva aus dem Paradies vertrieben hat, gab es diese Welt auch nicht mehr.
Was auch immer. Versteht mich nicht falsch! Was auch immer. Doch wie gesagt: Es kann nur einen Weg geben. Für uns alle. Leistung ist falsch. Fehlende Nächstenliebe auch. Unsere Neigungen sind bedeutungslos. Es geht um etwas, das allenfalls latent erahnt werden kann, aber immer unter der Oberfläche, also unerreichbar, bleiben wird. Sobald wir die Fähigkeit besitzen, das zu reflektieren, sind wir verloren und können nicht mehr zurück. Irgendwann wird auch der Schmerz, der damit in Verbindung steht, nachgelassen haben - dann "[selbst] im düsteren Auge keine Träne" (Heinrich Heine) wird mehr sein.


Anmerkung von theatralisch:

Ja.

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Kommentare zu diesem Text


 uwesch (22.05.23, 18:05)
Eine sehr differenzierte Betrachtung Deines Lebens, die nicht zur Nachahmung einlädt, aber gut geschrieben ist. Vielleicht bahnt sich da ja mal ein Wandel an.
LG Uwe

 theatralisch meinte dazu am 22.05.23 um 20:07:
Warum "meines" Lebens? Da dies eine Autorenseite ist, sollte zunächst davon ausgegangen werden, dass diese Texte sowohl fiktiv als auch autobiografisch sein können. Insofern fehlt hier ein Teil der Annahme.
Danke für den Kommentar!

 uwesch antwortete darauf am 22.05.23 um 20:24:
Sorry - klar, das Recht nehme ich mir auch manchmal heraus, die wahre Identität nicht deutlich zu machen.

 Augustus (23.05.23, 00:47)
Salve. 
Es bedarf weniger Worte den Text zusammenzufassen. Alles findet sich in den ersten Zeilen. 
Das „Ja“ deute ich dem Leben zugewandt. Das Leben wird bejaht. Wohl sind auch damit Wünsche und Hoffnungen wie gewöhnlich verbunden. 
Allein das „eigentlich Gar nicht“, deutet auf das „auf der Stelle treten“ oder „nicht wirklich vorwärts kommen“. 

Einerseits wird der Kontakt zu den Eltern abgebrochen, den Menschen, die man inwendig kennt, andererseits werden auf einer Dating-Platform der Kontakt zu wildfremden Menschen gesucht, die man nicht kennt. M.E. sucht der Prot. entweder so etwas wie Heimat in der Fremde oder die Fremde ist eine kurzzeitige Ablenkung vor einer missbilligenden und unangenehmen Heimat.

 theatralisch schrieb daraufhin am 31.07.23 um 22:59:
Niemanden empfand ich je als so fremd, wie die Person, die meine sogenannten Eltern als mich beschrieben. Aber das liegt an ihrer Charakterschwäche.

 Augustus äußerte darauf am 01.08.23 um 12:34:
Man spürt die Gräben.
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