Es ist ja gut gemeint, aber

Gedanke zum Thema Alter

von  tulpenrot

Nicht sehr erbauliche Gedanken, angeregt durch die Aktionen im hiesigen Altenwohnheim

 

Eines Tages werde ich dann auch an einem der sauber gewischten Tische im Aufenthaltsraum sitzen, eine Strickjacke über den faltigen Armen, weil ich dauernd friere, obwohl es draußen milde ist und man eigentlich nicht frieren muss (ich hab mein Lebtag noch nie gefroren, aber dann werde ich vermutlich frieren), und darauf warten, dass der nächste Tagesordnungspunkt vor dem Zubettgehen erledigt wird – Stützstrümpfe ausziehen. Oder im Flur der Altenaufbewahrungsstelle am Rollator auf- und abgehen, damit ich gut schlafen kann.

Eine 16-jährige Sozialpraktikantin spielt vielleicht noch eine Runde mit mir Mensch-ärgere-dich-nicht, weil es noch Zeit ist und alte Leute das so gerne spielen. Manchmal hat sie auch ein Memory-Spiel dabei oder ein Puzzle.

Morgen muss ich mit Tüchern zu der Melodie von “Alle Vögel sind schon da“ wedeln oder zu „Hoch auf dem gelben Wagen“ mit den Händen klatschen und mit den Füßen stampfen, und dann geht es mit Watte pusten weiter oder mit lauter dämlichen Unterhaltungsspielen, die ich kaum kenne oder noch nie leiden konnte.

Übermorgen kommt ein Clown und will, dass ich lache, und ein Zauberer, der will, dass ich staune. Vor kurzem war ein gemischter Chor von älteren Sängern da und sang schwäbische Frühlingslieder zur Ziehharmonika. Das soll meine Stimmung heben. Der Posaunenchor der hiesigen Gemeinde bringt uns immer wieder mal ein Ständchen. Ich soll mich dann an früher erinnern. Das alles erweckt aber in mir keine Erinnerungen, sondern nur Widerwillen.

Das nennt sich dann Zeitvertreib. Als ob das jetzt das Schönste für mich wäre – die nur noch kurze Lebenszeit zu vertreiben! Weg damit, ich brauch sie nicht mehr!?

Und ich, ich soll diese Altenbelustigung sooo wunderbar und schön finden!.

Die Pflegerinnen geben sich zu den Festen alle erdenkliche Mühe, die Räumlichkeiten mit Kitsch und geschmacklosem Tand zu dekorieren, und wieder muss ich mich freuen, weil sie es ja alle so gut meinen.

Und allen meinen Besuchern (falls jemand kommt, aber es wird ja niemand kommen) werde ich artig sagen, dass ich sooo gut untergebracht bin.

Vielleicht bin ich eines Tages dazu bereit und willenlos genug, um auch diese Lebensphase durchzustehen.

Wer weiß?



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Kommentare zu diesem Text


 Redux (27.05.23, 19:13)
Hey, du schreibst beachtliche Texte in diesem Forum und durchschaust das alles. Weiter so!!!

 Mondscheinsonate meinte dazu am 27.05.23 um 19:17:
Bin auch dieser Meinung. Aber, das ist auch eine gescheite Frau.

 tulpenrot antwortete darauf am 27.05.23 um 20:21:
Ach nee, wirklich? Ihr macht Spaß.
Ihr habt viel zu viel Achtung vor mir.
Ihr seid doch selber gut.
Diesen Text hab ich grad beim Abendbrotessen geschrieben, einfach "von der Leber weg" - mich käst das alles so an.
Ich hab nicht damit gerechnet, dass das jemanden überhaupt interessiert...
Aber umso mehr - DANKE!
Muckelchen (70)
(27.05.23, 19:21)
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 tulpenrot schrieb daraufhin am 27.05.23 um 20:29:
Jetzt weißt du, wie das hier so ist. Noch lebe ich selbständig, aber wie lange noch? Ich denke mit Grausen an die kommende Zeit. Ich komme oft an diesem Heim vorbei, und alle schwärmen so davon hier im Ort. Ich kann da nicht mithalten. Aber, so denke ich, die "Geschmäcker" sind auch verschieden. Wie es denn mal mit mir wird, kann ich mir (noch) nicht ausdenken.
Danke für deine verständnisvolle Rückmeldung.
LG tulpenrot

 Drita (27.05.23, 19:40)
Liebe Tulpenrot, du hast so schön formuliert.  Ich wünsche dir noch viele schöne Jahre.

Liebe Grüsse
Drita

 Redux äußerte darauf am 27.05.23 um 20:26:
Manchmal sind die Texte, die man von der Leber weg, wie du es nennst, besser als die zu lange überdachten.
So, als ließe man der lang durchdachten Vernunft keinen Raum, damit die Wahrheit Raum bekommt.

 tulpenrot ergänzte dazu am 27.05.23 um 20:35:
Liebe Drita,
danke, dass du das hier lesen mochtest.
Ja, ich hoffe es und wünsche es jedem, dass seine letzte Wegstrecke liebevoll und würdig begleitet wird.

LG
tulpenrot

Lieber Redux,
nicht immer "schmeiße" ich mit Texten um mich. Sehr oft sind sie immer und immer wieder bearbeitet und "um- und numgewälzt". Heute hatte ich einfach mal den Mut, das hier so zu versuchen, ohne viel zu überlegen.
Ist offensichtlich auch ein Weg,
LG noch mal

 Redux meinte dazu am 27.05.23 um 20:37:
Ja, es ist wohl nicht der Weg. Aber ein möglicher, wie ich finde....

 Mondscheinsonate meinte dazu am 27.05.23 um 20:59:
Schmeiß bitte öfter. Das wär schön.

 tulpenrot meinte dazu am 27.05.23 um 21:17:
@ Redux
Ja, ich weiß und hab ja auch schon manchmal den Hopser über den Gartenzaun gewagt ...
@Mondscheinsonate
Die Schreiberei erwacht hin und wieder bei mir "stoßweise". Wir werden sehen, was kommt ...

 Quoth (27.05.23, 21:59)
Ja, Tulpenrot, die "Geschmäcker" sind verschieden, und sicherlich haben manche der dort Aufbewahrten Freude am Mensch-Ärgere-Dich-Nicht-Spiel und am bunten Flitter an Festtagen. Es geht ja immer darum, den größten gemeinsamen Teiler zu finden, und der ist Dir sicherlich zu niedrig. Meine Mutter war auch in so einem Heim - zuerst widerwillig, aber dann hat sie Mitbewohnerinnen gefunden, mit denen sie sich gut unterhalten konnte (z.B. weil sie auch aus Hamburg stammten), denen sie helfen konnte (Worte wiederzufinden u.a.), mit denen sie sich streiten konnte (z.B. mit einer ständig die Bild-Zeitung zitierenden Pastorenfrau, die sie zum evangelischen Glauben bekehren wollte) - und sie ging in die Pflegeabteilung, verabreichte Austrocknenden teelöffelweise Apfelsaft, oder half in der Küche Kartoffeln zu schälen ... Die Realität des Bewohnens kann dann doch ganz anders aussehen als für eine Besucherin, und gerade eine so gebildete, aber nicht eingebildete Frau wie Du würde dort bestimmt Gesprächspartnerinnen finden! Gruß Quoth

Kommentar geändert am 27.05.2023 um 22:01 Uhr

 kipper meinte dazu am 28.05.23 um 01:52:
Es macht wenig Sinn, sich über die Niedrigkeiten eines Altenheims zu erheben und sich davon abgestoßen zu fühlen, wenn man noch gar nicht „so weit“ ist.
 
Wenn Du Glück hat, kommst Du ja nie dorthin, wo man bemüht ist, den Rest Deiner Persönlichkeit bis zu einem Ende halbwegs menschlich zu gestalten. Gäbe es diese Heime nicht, wären die Omis und Opis wirklich auf sich selbst oder ihre (so vorhandene) Nachkommenschaft angewiesen, und es wäre Fürchterliches zu sehen, zu hören, zu riechen und zu erleben.

Leider werden wir im Alter, wenn nicht nur der Körper, sondern auch der Geist schwindet und Krankheiten uns beherrschen, bald so hilflos, dass wir beim besten Willen gar keine Möglichkeit mehr haben, unser Dasein selbstbestimmt zu gestalten. Es gibt einen sehr berührenden Film von Keisuke Kinoshita aus dem Jahr 1958 („Die Ballade von Narayama“), in der wir erleben, wie im alten Japan die 70jährigen Dorfbewohner auf dem nahegelegenen Berg „entsorgt“ wurden oder sich selbst entsorgt haben.

Dass „Altwerden nichts für Feiglinge“ ist, hat Hans-Joachim Fuchsberger auf den Einband seines 2011 im Gütersloher Verlagsahaus erschienenen Büchleins geschrieben und zugegeben, dass er den Spruch von Mae West hatte, die ihn in den 1970ern als erste drauf gehabt haben soll.

Wenn wir Glück haben, werden wir schlagartig aus dem Leben gerissen oder können selbst bestimmen, wann und wie. Wer dieses Glück nicht hat, ist auf uns angewiesen. Es liegt also an uns.

Wohlgemut

kipper

 tulpenrot meinte dazu am 28.05.23 um 20:54:
@ Quote
Dein Kommentar macht mir wieder Mut. Ich finde toll, was du über deine Mutter berichtest, dass sie mit so viel Schwung und Ideen ihren Alltag aktiv gestaltete und sich nicht einfach nur "aufbewahren" ließ, sondern ganz souverän ihre Fähigkeiten für andere und auch für sich nutzte.

Die Realität des Bewohnens kann dann doch ganz anders aussehen als für eine Besucherin
Das stimmt, ich war nur Beobachterin, Besucherin hier, kenne aber auch andere Verhältnisse, z.B. als meine Großmutter und auch meine Mutter nicht mehr alleine leben konnten. Oder erinnere mich auch eine Alteneinrichtung an meinem früheren Wohnort. Da ging es anders zu als hier.

Aber dir erst einmal vielen Dank für deine Gedanken!

@ kipper
"Erheben über die Niedrigkeiten des Altenheims" - das trifft.

 Quoth meinte dazu am 28.05.23 um 23:03:
Hallo Tulpenrot, diesen "Schwung" hatte meine Mutter nur, weil sie sich nicht so lange wie irgend möglich an die eigene Wohnung geklammert hat. Den Fehler machen viele: Sie ziehen erst ins Heim um, wenn es gar nicht mehr anders geht, und dann sind sie meist das, was Du auch für Dich befürchtest: reine Aufbewahrungsfälle. Ins Heim sollte man/frau gehen, wenn die Kraft, um (mit)zugestalten und Freundschaften aufzubauen, noch da ist. Leider scheitert das oftmals an den höheren Kosten ... Herzlich grüßt Quoth (mit englischem th: "Quoth the raven: Nevermore!")

 tulpenrot meinte dazu am 29.05.23 um 14:20:
@ Quoth Ohh, ein Freud'scher Verschreiber. Entschuldige vielmals! Tut mir Leid.
Diesen Rat, möglichst frühzeitig zu gehen, kenn ich natürlich. Aber er ist nicht immer so problemlos zu verwirklichen.

 AchterZwerg (28.05.23, 06:49)
Du sagst es Angelika.
Das staatlich geförderte Geschäft der Altenbespaßung ist ein grauenhaftes: Brett- und Kartenspiele für Kinder ab sechs Jahre, Qi Gong im Sitzen, Junge komm bald wieder und sag mir, wo das Leben ist.
Solche wie wir kommen im Programm leider (?) nicht vor.

Bis dahin liebe Grüße
der8.

 tulpenrot meinte dazu am 28.05.23 um 21:00:
Ach, wenn es doch anders wäre - es könnte anders sein, aber leider nicht hier. Wie ich eben schon bei Quote schrieb, ich kenne auch andere Beispiele, bessere. Ich hoffe, dass wir dann, wenn es so weit ist, ein solch besseres Unterkommen finden. Das hat nichts mit Überheblichkeit zu tun, sondern mit dem gedankenlosen Umgang mit den Alten, die man dümmer macht als sie sind.
Agnete (66)
(28.05.23, 09:50)
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 tulpenrot meinte dazu am 28.05.23 um 21:01:
Ich wünsche dir, dass du solchem "Tand-Leben" entgehen kannst.
Danke für deinen Kommentar und auch LG

Antwort geändert am 28.05.2023 um 21:02 Uhr

 AZU20 (28.05.23, 10:02)
Wehre Dich dagegen, solange Du kannst. LG

 tulpenrot meinte dazu am 28.05.23 um 21:02:
Ja, ich tue mein Bestes. LG

 linkeln (05.09.23, 22:24)
Ja ,so ist es. Aber du bist sicherlich nicht so einfach zu händeln🥳und das ist gut so.Auch die Altenheime müssen sich ändern und nicht nur die Alten. Mann/Frau muss sich nicht anpassen.

 tulpenrot meinte dazu am 03.10.23 um 22:02:
Ich sehe gerade, dass ich auf deinen Kommentar noch gar nicht geantwortet hab. Entschuldige bitte.
Nicht einfach zu händeln sei ich? Keine Ahnung. Ich bin eigentlich ein friedlicher Mensch und leide lieber, als dass ich mich wehre oder streite. Nur manchmal begehre ich dann doch auf, wenn es zu bunt wird. Was ich aber mit diesem Text sagen will: Ich finde es schwierig, Alten mit Überheblichkeit zu begegnen und sie zu naiven, kleinkarierten Kreaturen zu degradieren. Das finde ich unwürdig. Es sind doch Menschen, die ein oft langes, auch beschwerliches Leben durchgestanden haben. Man hat kein Recht, sie zu belächeln und sie für dämlicher zu halten als sie sind, auch wenn sie jetzt schwach und wunderlich werden.
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