Liebstahl G36
Text
von Isensee
Ich habe lange darüber nachgedacht, ob ich für irgendetwas in den Krieg ziehen würde. Die Nation? Ein zu großes Wort für zu wenig Herz. Ein verbeulter, fleckiger Begriff, der zwischen Patriotismus und Populismus hängt wie ein miefiger Vorhang in einer Eckkneipe. Aber da ist auch diese Stimme im Kopf: Irgendwer muss sich wehren.
Wir, die Nachkriegsgenerationen, sitzen da und spielen Freiheit wie einen schlecht gestimmten Song. Ein paar Akkorde aus Woodstock und Trümmerkindern, ein leiser Beat aus Technobunkern und Instagram-Filterkaffee. Wir haben uns nie gefragt, ob wir kämpfen würden, weil uns das Kämpfen abgenommen wurde. Sechzig Jahre lang. Oder länger? Frieden als Elternteil, Krieg als verstorbener Onkel, der aus sicherer Entfernung Geschichte ist. Jetzt klopft er an die Tür, unrasiert und stinkend nach Rauch und Metall. Und was mache ich? Würde ich mich ihm entgegenstellen?
Vielleicht müsste ich mir erst eine Uniform kaufen. Die gibt es sicher in coolen Tarnmustern, als Limited Edition von irgendeinem hippen Start-up, das bald mit dem NATO-Label kooperiert. Oder ich käme in meinen alten Docs und der Jeansjacke, die nach Zigaretten riecht, und hoffe, dass meine Schlagfertigkeit reicht, wenn die erste Kugel fliegt. Denn ehrlich: Was weiß ich vom Krieg außer dem, was ich in Netflix-Serien gesehen habe?
Aber… da ist diese Frage.
Was, wenn der Krieg nicht irgendwo ist, sondern hier? Wenn meine Straße der Schauplatz wird, wenn die Flagge des Angreifers über meinem Supermarkt weht? Verteidige ich dann meine Nachbarn, den alten Mann mit den Tauben und die Frau, die immer zu laut Musik hört? Oder ist es die Idee einer Nation, die ich dann beschütze, ein verwaschener Gedanke von Demokratie, den ich im Sozialkundeunterricht nie so recht verstanden habe?
Aktuelle Ereignisse machen diese Frage wieder groß. Es ist 2024, und Europa fühlt sich an wie ein alternder Punk, der merkt, dass die Party vorbei ist. Ukraine, Israel, Gaza – alles ist zu viel, zu nah und zu laut. Und die Welt schaut zu wie bei einem Streit in der U-Bahn, keiner weiß, ob er eingreifen soll oder kann. Aber was, wenn die Schlägerei mich plötzlich betrifft?
Ich wünschte, ich könnte sagen, dass ich bereit wäre. Dass ich eine Waffe nehme und meinen Namen schreie wie in einem schlecht synchronisierten Actionfilm. Aber ich weiß, ich würde zuerst an meine Hände denken. Die, die nie eine Faust ballten, außer aus Trotz. Die Hände, die zu viel Tippen gewohnt sind und zu wenig Greifen. Was können sie halten? Ein Gewehr? Oder nur eine Tasse Kaffee, die in den Schützengräben kalt wird, weil ich immer noch zögere?
Und doch… irgendwer muss es machen.
Vielleicht habe ich die Verantwortung, die Freiheit zu schützen, die ich nie erkämpfen musste. Vielleicht habe ich keine Wahl, wenn der Krieg nicht mehr im Fernsehen bleibt, sondern mein WLAN kappt und mein Zuhause brennt. Vielleicht werde ich dann kämpfen, weil alles andere wie Verrat an dem fühlt, was mich überhaupt zu dieser Frage gebracht hat: der Freiheit, sie stellen zu dürfen.
Aber vielleicht bin ich auch zu feige. Vielleicht gehöre ich zu der Generation, die lieber zynisch klugscheißt, als sich die Hände dreckig zu machen.
Das Problem ist, dass ich niemanden verurteilen will. Nicht die, die kämpfen. Nicht die, die fliehen. Nicht mal die, die sich weigern, darüber nachzudenken. Und das ist der eigentliche Schmerz dieser Frage: Es gibt keine Antwort, die sauber bleibt.
Also frage ich dich, Leser, der diesen Text bis zum Ende durchgehalten hat: Würdest du?