Sie wusste nicht, dass ich da war. Nicht wirklich. Vielleicht hatte sie mich einmal bemerkt, irgendwo an der Peripherie ihrer Wahrnehmung – ein Schatten in einem Café, ein Blick durch eine angelehnte Tür. Aber Menschen wie sie, die mühelos strahlten, übersehen die Winkelwesen. Sie sehen uns erst, wenn wir nahe genug sind, um unseren Atem in ihrem Nacken zu spüren.
Ihr Licht war alles. Ein kaltes Licht, kein warmes, kein einladendes. Es war wie das Mondlicht auf Schnee – blendend, aber distanziert, fast grausam in seiner Reinheit. Sie bewegte sich durch die Stadt wie eine Fremde, obwohl alle Straßen und Stimmen sie zu kennen schienen. Ich folgte ihr nicht aus Neugier oder Begierde. Ich folgte, weil es niemand sonst tat. Die anderen sahen sie, bestaunten sie vielleicht, aber niemand wagte es, wirklich hinzusehen.
Anfangs genügte es, ihre Routine zu studieren. Ihre Lieblingsplätze, die Art, wie sie einen Cappuccino umrührte, ohne je zu trinken. Es war beruhigend, ihre Tage wie eine mathematische Formel zu entschlüsseln. Ordnung in einer chaotischen Welt. Sie ging immer um 19:45 Uhr aus der Buchhandlung, nie früher, nie später. Ein Mensch wie eine Uhr, dachte ich damals. Später verstand ich, dass sie unpünktlich war, nur nicht für mich.
Die Briefe waren eine Schwäche. Ich schrieb sie mit zittrigen Händen, versteckte sie in Zeitungen, die ich vor ihrer Wohnungstür platzierte. Ich hasste diese Briefe. Sie waren banal. Wörter, die nichts einfangen konnten von dem Sturm, den ich in mir trug. Aber sie las sie. Manchmal fand ich sie geöffnet, sorgfältig gefaltet auf dem Fensterbrett, als wäre es ein stilles Gespräch zwischen uns beiden.
Dann kam der Regen. Ein wütender Regen, der die Stadt verschlang. Ich wartete an der Ecke ihres Blocks, während der Sturm die Straßen leerte. Sie kam heraus, ohne Schirm, als ob die Nässe ihr nichts anhaben konnte. Ich trat einen Schritt vor, aber sie hielt inne und sah direkt zu mir. Für einen Moment war alles still – kein Regen, keine Straßenlichter, nur wir.
Sie schrie nicht. Sie rannte nicht. Sie sah mich an, als hätte sie gewusst, dass dieser Moment unvermeidlich war. Und ich? Ich war sprachlos. Es war, als hätte sie etwas aus mir herausgerissen, etwas, das ich nie zurückholen könnte.
Die Tür zu ihrer Wohnung war nicht abgeschlossen. Drinnen roch es nach Tee und trocknender Farbe. Ihre Welt war klein, präzise, eine Symphonie aus Details, die ich all die Monate aus der Distanz bewundert hatte. Ich sah die Tasse auf dem Tisch, halb leer, den Stapel Bücher mit Eselsohren, die nie ganz geradegezogenen Bilder an den Wänden. Ein Zuhause.
„Warum?“ fragte sie leise. Nicht verängstigt, nur müde. Ich wusste keine Antwort.
Es war kein lauter Moment, kein Knall. Es war ein stilles Zerbrechen, wie das Splittern von Glas in einem leeren Raum. Ihre Augen sagten mir, dass sie mich nicht fürchtete, und genau das machte es unerträglich. Ich schrie, nicht sie. Ich zerstörte, nicht sie. Ich rannte, nicht sie.
Am nächsten Tag war die Stadt wieder normal. Menschen drängten sich in Cafés, lasen Zeitungen, lachten. Aber ich wusste, dass ich nie wieder Teil dieser Welt sein würde. Ich hatte einen Bruch geschaffen, der nur in mir existierte.
Und sie? Sie saß in ihrem Fenster, eine Tasse Tee in der Hand, und las. Als hätte es mich nie gegeben.