„Sie haben mich bestellt und holen mich nicht ab“,

Text

von  Drita

„Sie haben mich bestellt und holen mich nicht ab“, wiederholte sie immer wieder. „Tak, tak, tak“, hörte man jemanden mit einem Stock, der durch den langen Gang ging. Es war 04:00 Uhr morgens. Ich bereitete die Medikamente für den neuen Tag vor. In jeder Ecke der Klinik waren Masken aufgestellt, oder wie sie hier in der Schweiz sagen, „wakiss“. Es war die Zeit des Fasnachts (Karnevals). Der Stock, der das „tak, tak, tak“ von sich gab, versetzte mich in eine Art Angst.

Langsam ging ich aus dem Medikamentenraum, um zu sehen, wer im Gang war. Im ersten Moment sah ich niemanden, nur eine „wakiss“ mit herausragenden Zähnen und schwarzen Haaren. Der Stock war weiterhin zu hören. Ich drehte den Kopf vorsichtig, hinter mir sprach Frau Borer. Sie war in ihren 90ern. Abgesehen davon, dass sie an Alzheimer litt, klagte sie nicht über andere Krankheiten. Schnell drehte ich mich um und sah, dass sie in schönen Kleidern gekleidet war. Sie hatte ihre Haare sorgfältig frisiert und trug ihre Tasche in der linken Hand. Sobald sie mich sah, begann sie zu sprechen: „Sie haben mich bestellt und holen mich nicht ab“. Sie wiederholte diesen Satz mehrmals.

Ich ging näher und bat sie, ins Zimmer zurückzukehren, da alle anderen schliefen. „Ich bin bestellt, und ich werde nicht abgeholt“, sagte sie, „tak, tak, tak…“ Sie rief weiter und ging sogar schneller. Ich ging mit ihr, versuchte sie zu beruhigen. Es war zu spät, um ihr ein Beruhigungsmittel zu geben. Die Nacht war fast vorbei. Sie setzte sich vor der Haupteingangstür an einen schönen Tisch. Ich setzte mich für einen Moment neben sie. Ich fragte sie, wohin sie gehen wollte. „Zur Arbeit“, sagte sie. „Jetzt kommen sie, um mich abzuholen, sie haben mich bestellt.“

Die Eingangstüren waren geschlossen und niemand konnte sie bis 06:00 Uhr öffnen. Ich ließ sie warten und ging zurück, um die Arbeiten mit den Medikamenten abzuschließen. Danach musste ich auch eine Kontrolle in den anderen Patientenräumen durchführen. Die Zeit verging schneller an diesem Morgen. Normalerweise, wenn ich die Nachtschicht arbeitete, erlebte ich gegen 04:00 Uhr morgens eine Schlafkrise. An diesem Morgen musste ich mich beeilen, um alles zu erledigen.

Als ich das vorletzte Zimmer auf der Station betrat, erinnere ich mich nicht an die Zimmernummer, hatte sich der Gesundheitszustand von Herrn Schweizer verschlechtert. Frau Borer war immer noch zu hören, wie sie rief: „Sie haben mich bestellt und holen mich nicht ab“, und der Stock machte weiterhin „tak, tak, tak…“ In diesen Momenten begannen auch die anderen Patienten, sich zu melden. Man hörte Stimmen in den Zimmern. Ich konnte Herrn Schweizer nicht alleine lassen, während Frau Borer mit ihrem Stock und ihrem lauten Ruf „Sie haben mich bestellt und holen mich nicht ab…“ den Schlaf der anderen Patienten störte. Ich fühlte mich unwohl. Nachdem ich Herrn Schweizer eine Medikament gegeben hatte, die vom Arzt und seiner Familie unterschrieben wurde, verschwanden seine Schmerzen.

Ich schloss die Tür mit Bedauern und sagte Lebewohl. Ich hatte es kaum geschafft, bis 07:00 Uhr, als auch die Tagesschicht kam. Ich denke immer noch an die „wakiss“, wenn ich sie sehe…

PS: Herr Schweizer verstarb zwei Tage später. Frau Borer hatte als Verkäuferin gearbeitet und war während ihrer Arbeit immer früh aufgestanden, um rechtzeitig zur Arbeit zu kommen.



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Kommentare zu diesem Text


 Graeculus (23.11.24, 17:28)
Eindrucksvolle Schilderung einer schwierigen Arbeitsnacht. Wenn Alzheimer-Patienten sich einmal auf eine Idee versteift haben, die dann in Dauerschleife abläuft, benötigen sie eigentlich eine Einzelbetreuung - etwa: "Gut, dann warten wir gemeinsam, bis Sie abgeholt werden."
Aber da gibt es ja noch andere Patienten.
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