Wie ich wurde, der ich bin

Erzählung

von  Quoth

Es gibt das Foto der Frau, die Mutter zu nennen ich liebreich verpflichtet bin, auf dem sie vergnügt vor einer Sandburg sitzt, auf die deren Erbauer und Bewohner mit Muscheln geschrieben hat: HITLER. Da diese Beschriftung am linken Rand des Fotos beginnt, ist nicht auszuschließen, dass davor noch etwas stand, wie z.B. „WÄHLT“ oder „HEIL“ oder auch der Vorname des Mannes, der dem Jahrhundert wie kein anderer sein Brandzeichen aufdrücken sollte, obgleich er dazu in keiner Weise durch Bildung und Werdegang berufen war, ja, vielleicht aber gerade deshalb. Die fröhlich in die Kamera lachende junge Frau – im Badeanzug, mit Zwickel versteht sich! – bereits gut gebräunt und, wie ich mir zu bemerken erlaube, durchaus gut aussehend, flott gleichsam, schlank, aber nicht dünn, und im Lachen auch nicht nur dummeitel Zähne zeigend, sondern verständnisinnig ein wenig verlegen sich selbst belächelnd – ist zu diesem Zeitpunkt noch gut zehn Jahre von jenem 6. Mai entfernt, an dem meine Wenigkeit, gelbsüchtig und mit einem Matschauge geschmückt, das bereits von Krieg umqualmte Licht einer Welt erblicken sollte, die im Begriff war, unterzugehen. Dieses Foto, betrachte ich es nun im reifen Alter des Rentiers, der (nicht etwa: das! ) ich bin, erschüttert mich ob der Naivität, die mich aus ihm anspringt, und zwar in doppelter, ja, dreifacher Hinsicht: der Naivität Wilmas, die sich vor diesem Hintergrund hat ablichten lassen, der Naivität dessen, der den Film knipsend belichtete, und der Naivität wiederum meiner Hervorbringerin (inter faeces et urinam nascimur), die dieses Bild in ein handtellergroßes, blauknotig gebundenes Albümchen klebte, in dem sie die liebsten Erinnerungsfotos ihrer Mädchenzeit versammelte. „Es war doch nichts dabei! Was bedeutete uns dieser Name damals schon? Ein paar Brüllaffen und Schlagetote machten die Straßen unsicher in seinem Namen – nun ja, und andere in anderer Namen ...“ So etwa möchte die nun schon seit Jahren Verewigte geantwortet haben, wenn ich ihr, als sie noch im Probsteialtenheim meiner Geburtsstadt langsam vertrocknete, das Foto samt Erklärung heischender Fragen vorgelegt hätte.

 

Sie also würde eines Tages mich als greinendes Bündel in den Armen halten, draußen würde es regnen, eine Amsel würde ihr Lied erschallen lassen und sie würde denken: „Ja, sing du nur, Schwarzrock! Das Kind hässlich und unansehnlich, der Vater im Feld, und mir fallen die Zähne aus, weil du, Edu, für deine Knochen allen Kalk benötigtest, den du bekommen konntest!“ Wer aber war der Vater, der im Felde stand (und das heißt – für die, die’s nicht mehr wissen – nicht in irgendeinem, sondern im Schlachtfelde)? Kannte er Wilma schon, als sie sich am Strande von Grömitz ihres 25-jährigen Lebens freute? Mag sein oder auch nicht. Fakt ist, dass ich meine Existenz der Sorge Wilmas verdanke, man könnte sie in die Rüstungsindustrie zum Granatendrehen zwangsverpflichten, wenn sie nicht ein zweites Kind, mich, bekäme. „Aber das eine reicht mir!“, mag Ernst im Blick auf den einjährigen Edmund gesagt haben, als er im Herbst zuvor auf Fronturlaub kam, „lass uns Mittel und Wege finden, um der erneuten Zeugung eines Sprösslings aus dem Wege zu gehen!“ Und damit entnahm er seiner Uniformjackentasche eine violettes Pappschächtelchen, das er aus Frankreich mitgebracht. Es enthielt vulkanisierte Zeugungsverhinderer, die über das Glied zu streifen waren, von den Soldaten Pariser genannt, weil Derartiges ihnen, so behaupteten sie, in der Welthauptstadt der Liebe erstmals bekannt geworden, dabei war es der Deutsche Fromm, der zehn Jahre zuvor ein opulentes Glasbetonbauwerk eingeweiht hatte, in dem ebendieses Werkzeug erfolgreicher Familienplanung in Millionenzahlen produziert wurde. Widerwillig ließ Wilma eine Liebe über sich ergehen, die sie, als der Zeugung abgeneigt, nicht für vollwertig anzuerkennen vermochte. Und als sie Abschied nahm vom scheidenden Emil, mischte sich in den Schmerz und die Sorge der Soldatenfrau auch Zorn, dass er so egoistisch gewesen war und sie ungesegneten Leibes zurückließ.

 

Wenig später, so geht das Gerücht, habe ihr Schwager, ebenfalls von der Front kommend, in Krogstedt Station gemacht, der witzige und gescheite, freilich nur kaufmännisch gebildete Eduard, mein Onkel, Emils jüngerer Bruder, der Verzug seiner damals in der noch unbombardierten Hansestadt lebenden Mutter Mimsgung. „Verzeih mir, Schwägerin, dass ich hereinschaue,“ näselte er im anmaßenden Kasinoton, den er sich, die Offizierskaste, der er ebenso wenig wie sein Bruder angehörte, verspottend, angewöhnt hatte. „Aber bei Mimsgung ist das Bett noch nicht frei, da Emil noch ein paar Tage im Hotel Mama verbringt, um sich von deinen Kochkünsten bei den ihren zu erholen.“ „Warum sagt er mir immer, es schmecke ihm, was ich für ihn koche, und dann hört man das!“ „Es ist schwer, einem Menschen gegenüber aufrichtig zu sein, den man liebt.“ „Du meinst, er liebt mich? Woraus schließt du das?“ „Nun, habt ihr nicht Edmund zusammen, seid seit sechs Jahren verheiratet, und von Trennung ist keine Rede?“ „Von einem Mann, der im Felde steht, trennt eine deutsche Frau sich nicht – auch wenn es ihr noch sehr danach zumute ist.“ Fragend schaute Emil sie an mit seinen wasserblauen schwulen Glubschaugen; nur unter Einsatz ihres ganzen Charmes hatte Mimsgung ihn, einen ihr bekannten Obersten mit Netzhut und Zobelstola betörend, davor bewahrt, im KZ den rosa Winkel tragen zu müssen, und ihm die Zuflucht in die Wehrmacht eröffnet. Es blieb nicht aus, dass Wilma ihrem Zorn auf Emils Liebespraxis Luft machte und besonders ihren Widerwillen äußerte, die glitschige Fortpflanzungsbremse anschließend zu entleeren und auszuwaschen. Eduard grinste. „Solchen Nöten sind wir Hundertfünfundsiebziger glücklicherweise enthoben, denn der Zeugung haben wir, indem wir uns dem gleichen Geschlecht zuwandten, endgültig abgesagt. Und ich sage dir: Ich bin glücklich darüber, denn denselben ästhetischen Unwillen würde auch ich bei dieser Prozedur empfinden!“ Wilma fühlte sich verstanden und getröstet und nutzte die Gelegenheit, um dem Schwager ein paar Fragen zu stellen, die schon lange in ihr glommen, und Eduard sah keinen Grund, der seit bald zehn Jahren vertrauten Freundin, dann Braut und Gattin seines Bruders irgendetwas zu verheimlichen. Dabei genehmigten sie sich eine Flasche aus der Kiste Kröver Nacktarsch, die Eduard seinem Bruder zum letzten Geburtstag geschenkt hatte. „Und schlagt ihr einander auch so wie hier der Mönch den Jungen auf dem Etikett?“ Eduard lachte und schüttelte den Kopf. „Nein, nie,“ sagte er. „Das sind Späße, die wir nicht nötig haben. Die haben sich die Normalen ausgedacht, um ihre matte Lust auf das andere Geschlecht anzustacheln.“ Wilma ging an den Kleiderschrank und holte eine Kleiderpeitsche mit neun Schwänzen hervor. Lachend fand Eduard sich bereit, sie an ihr einmal auszuprobieren, sie leerten noch eine zweite Flasche des besagten Mosel, und am nächsten Vormittag, Eduard war schon wieder abgefahren, erkundigte sich Frau Swientek, die Vermieterin, mit sauertöpfischer Miene, warum Wilma nachts mehrfach laut aufgeschrien habe, eine Frage, auf die Wilma nur zu antworten wusste, dass sie davon nichts wisse.

 

Diese Frau also, die Mutter zu nennen mich weniger kostet, als Emil Vater zu titulieren, gebar mich gleichsam schwuppdiwupp! Auf dem Weg, den Edmund, in die Nabelschnur sich verheddernd und für ein Weilchen im Geburtskanal feststeckend, ein Jahr und neun Monate zuvor geebnet und geweitet hatte, flutschte ich in munterem Rutsch hinaus, die Hebamme tat, was ihres Amtes ist, und hob mich empor, ich tat einen zaghaften ersten Krächzer, und da war ich nun, noch unbenamst, nichts gleichsam als ein Stück wilden Naturfleischs, dem schleunigst ein Bändsel ums Handgelenk gewunden ward, damit es ein Etikett bekam und in die bestehende ungute Ordnung eingefügt werden konnte. Ich sei die Hässlichkeit in Person gewesen, versicherte mir Wilma immer wieder, zitronengelb und ein Auge zugeschwollen vom Zusammenstoß mit dem mütterlichen Schambein, aber durstig! Fast, so versichert sie, hätte ich ihr die Brustwarzen abgebissen vor Gier nach dem nahrhaften Labsal. Emil unterdessen lümmelte sich mit den Kameraden Frieder, Fritz und Franz auf den Ledersesseln des Chateau Monperrier und lallte, ein Glas rotfunkelnden Pécharmants in die Höhe hebend: „Ja, so sind wir Männer! Alle sind wir Schweine!“



Hinweis: Du kannst diesen Text leider nicht kommentieren, da der Verfasser keine Kommentare von nicht angemeldeten Nutzern erlaubt.

Kommentare zu diesem Text


 S4SCH4 (02.11.25, 13:44)
Ein beeindruckendes Stück Zeitgeschichte, gebettet in ein unaufdringliches (auto?)biografisches Korsett und mit literarisch hochkarätig geschulten Händen gebunden.

Präsentiert wird das Ganze mit einem Duktus, der weiß, wie man etwas in Szene gesetzt bekommt. Geschichte derart zusammenzubekommen ist offenkundig die Leistung eines Autors, der all das vergegenwärtig bekommen hat, daran reifte und ohne erhobenen Zeigefinger, mit Charme und mit Witz, weiterzugeben im Stande ist. Und all dass, zu allem Überfluss noch, mit einem immer ehrlichen und lebensbejahenden Tenor ala: Das Beste kommt erst noch. Ja, eben, dieses Beste, diese Geburt  lässt lange auf sich warten, wird ersehnt und vorbereitet, dies mit und neben einer interessanten (aber nicht in Gedächtnis bleibenden) Verwandtschaftskiste, vulkanisierten (!) Verhütungsmethoden und einem Prosit mit „Kröver Nacktarsch“(?).
Schließlich kommt das Kind zu Welt, von dem seit Anfang der Erzählung die Rede ist und man denkt: Boah, das ist ja was! Protzen? Vielleicht. Zu Recht? Ja! 

Die Dramaturgie der Erzählung ist klasse (anders wie die dieses Kommentars, denn ich komme jetzt noch einmal zurück zum ersten Absatz, meinem Lieblingsabsatz). Man möchte fast schon innehalten und einen solchen Moment miterleben, ohne weiterlesen zu müssen: Schöne Mutter inmitten widriger Zeiten wiege auch mich im Arm, denn auch ich darbe an der Welt! Soviel Gefühl lässt sich erleben! Nun gut, aber es wird weitergelesen und von dem Erhalt einer Möglichkeit geträumt, solch einer Mutter auch im Alter noch Fragen zu stellen, über die man heute sagen könnte, zum Glück braucht das kaum noch jemand…
Noch? Ja, ist es vorbei … oder fängt es erste wieder an, diese Frage liegt mit dem/der Leser:in in den Armen der eigenen Mutter, mag sie schön sein oder nicht, und schläft oder wacht im Sinn einer eigenen Generation, von der man bisweilen meinen könnte, sie würde lieber auf dem Planeten Vulkan leben, als sich mit Fragen zu unserer Welt beschäftigen, die der vorliegende Text mit einem Wimpernschlag so charmant beantworten kann. Unaufdringlich und lehrreich motivierend.

Also keine Angst (sage ich mir), dieses Stück gute Literatur fordert, hilft auf die Sprünge und will weniger mit einem (Auto)biografischen ich verstanden werden, als vielmehr persönlich ein Verständnis schenken.

 Quoth meinte dazu am 02.11.25 um 22:28:
Vielen Dank für den einfühlsam lobenden Kommentar!

 Tula (02.11.25, 18:58)
Hallo Quoth
Eine ausgesprochen gute Erzählung, die ich für wettbewerbsfähig halte. Momentan läuft eine zum Thema 'Sag nichts', die hier irgendwie wunderbar passen würde. 

LG Tula

 Quoth antwortete darauf am 02.11.25 um 22:25:
Gute Idee, würde vom Format her passen und kann auch noch eingereicht werden. Schon mal danke für den Tipp!
Zur Zeit online: