Aron lernt liegen
Roman
von Isensee
Er lag.
Er lag und hat aufgehört, überhaupt zu entscheiden, ob er lag oder lebte
Oder ob er Wandfarbe war, wenn zu feuchte Luft daran zog.
Sein Körper, weich wie ein gestrandeter Mond
Er schob ein Stück Brot in den Mund. Ein weiteres. Noch eines. Nicht aus Lust, nicht aus Gier, sondern weil es eine Form der Zeitmessung war.
Kauen als gedämpftes Metronom des Daseins.
Werbespots, Diäten, Fettphobien, Flugzeugsitze
ein Chor aus Forderungen und Vorwürfen, die sich unablässig erneuerten, wie Algen an einem warmen See.
Er schob ein Stück Brot in den Mund.
Sein Körper war nicht Protest.
Nicht politisch gemeint.
Nicht Symbol.
Er war ein ganz privates Terrain aus Haut und Hunger
Er dachte an die Jahre, in denen er versucht hatte, kleiner zu werden,
für andere. Schrumpfen, verschwinden, sich falten wie ein Blatt.
Es hatte nicht funktioniert.
Körper sind nicht verhandelbar
Er stellte sich vor, wie es wäre, wenn Akzeptanz nicht verdient werden müsste.
Nicht erkämpft, nicht gerechtfertigt.
Sondern gegeben.
Wie ein Glas Wasser.
oder ein Schatten an einem heißen Tag.
Noch ein Bissen.
Noch ein Atemzug.
In seiner Brust, tief drinnen, entstand etwas Seltsames: ein winziger, ruhiger Punkt aus Licht, ein stiller Trotz gegen all diese Stimmen.
Nicht Selbstliebe.
Selbsterlaubnis.
Er setzte das Brotmesser ab, schloss die Augen und wartete.
Nur darauf, dass die Welt sich nicht gegen ihn lehnte, sich nicht an ihm rieb.
Am Ende dieses Tages, an dem er nichts getan hatte außer liegen, essen, atmen und bestehen, spürte er
Keine Euphorie.
Keine Vergebung.
Nur ein Satz, leise, kaum hörbar, aber unerwartet warm:
„Du darfst da sein.“
Ein kleiner, runder, schweigender Stern in einem Universum, das sich viel zu schnell dreht.
Er lag.
Ein Geräusch, das nicht in diese Welt gehörte.
Ein Knacken, von Knochen, von Möbeln, ein riesiger Reißverschluss
irgendwo hinter der Tapete geöffnet.
Die Wand vor ihm schob sich beiseite.
Die Haut einer Orange, die jemand mit zwei Fingern aufdrückte.
Helles Licht strömte. Unnatürlich sauber.
Darin standen Menschen.
Oder etwas, das Menschen imitieren wollte.
glatt.
symmetrisch.
„Testlauf abgeschlossen“, sagte die Erste.
Er blinzelte. Brotkrümel fielen von seiner Brust.
„Was…?“
Die Gestalten betrachteten ihn, als wäre er ein Experiment
nicht feindselig, nicht mitleidig, nur nüchtern.
„Subjekt hat versucht, Bedeutung zu generieren“,
sagte die Zweite und tippte auf ein schwebendes Interface
„Ungeplante Selbstakzeptanz. Abweichung.“
Ein kurzes Summen.
„Zurücksetzen.“
Die Wände, die Wohnung, das Licht alles vibrierte,
„Moment!“ rief er, aber seine Stimme klang wie etwas, das nicht aus seiner Lunge kam.
Er sah hinunter.
Nicht auf einen Körper.
Kein Bett.
Keine Wohnung.
Sondern eine Art gläserne Box voller Parameter
Gewicht, Konsum, Aktivität, Emotionen, alle mit Reglern, Schiebereglern, Kontrollkästchen.
Er war nicht Protagonist.
Die erste Gestalt beugte sich zu ihm.
Ein Lächeln, exakt im 45 Grad Winkel,
„Du darfst nicht da sein“, sagte sie freundlich.
„Du wurdest für eine Simulation geschrieben, die jetzt endet.“
Und dann, ein letzter Reißverschluss, ein Riss durch Licht
und seine Welt klappte zusammen