Bruder Bollwin – Teil II

Groteske zum Thema Weihnachtsgeschichte

von  Saira

Es war der 3. Advent oder der 18. Juni. Brommhardt wusste es nicht mehr so genau, denn sein Kalender zeigte seit Monaten nur noch: „Morgen ist Weihnachten.“


Jedenfalls klopfte es am Nordpoltor. Also, eigentlich war es kein Klopfen, sondern ein dumpfes Scheppern, begleitet von einem Geräusch, das verdächtig nach einem umkippenden Elch klang. Ein paar Elfen duckten sich reflexartig. Einer murmelte: „Das klingt nach Bollwin.“

Und tatsächlich: Vor der Tür stand er. Bollwin, Brommhardts jüngerer Bruder. Seine Statur erinnerte an einen umarmungsfreudigen Bären, sein Gesicht an eine Fluchtbewegung roter Flecken, und seine Nase kündigte bereits im Voraus an, wie der Raum in zehn Sekunden riechen würde. Die Winterjacke hatte Brandflecken, war zerknittert und klebrig.

„Bruderherz!“, rief Bollwin. „Ich hab gehört, du brauchst mich! Die Elfen sagten, ohne meine Führungsqualitäten geht hier gar nichts mehr!“

Die Elfen hatten nie etwas dergleichen gesagt. Sie hatten leise geflüstert: „Bitte nicht Bollwin … bitte NICHT Bol…“

Doch Brommhardt hob freudig den Kopf. „Wer bist du denn? Bist du der neue Postbote? Oder der Osterhase? Komm rein, nett, dass du an Weihnachten denkst!“

„Ich bin dein Bruder!“, rief Bollwin stolz.

„Na sowas!“, rief Brommhardt und klatschte in die Hände. „Ich wusste doch, ich hatte mal einen!“

Bollwin zupfte seine zerbeulte Mütze zurecht, die streng nach Glühwein roch und zusätzlich nach etwas, das an vergessenes Gulasch erinnerte. Dann wedelte er mit einer Thermoskanne, aus der Dämpfe stiegen, die einen Elfen rückwärts die Treppe hinunterlaufen ließen und Rudolph dazu brachten, sich sicherheitshalber totzustellen.

„Hier bin ich, Bruder! Ich übernehme jetzt das Weihnachtsgeschäft. Ein Schlückchen zur Vertragsbesiegelung?“

Die Elfen hielten umgehend eine Krisensitzung ab. Bollwin war chaotisch, ja, aber warmherzig wie ein betrunkener Teddybär, der versucht, jemandem das Alphabet rückwärts zu erklären. Vielleicht ließ er sich ja irgendwo einbauen. Irgendwie. Hauptsache weit weg von allem, was brennt, fliegt oder explodieren kann.

Sie gaben ihm daher ein harmloses Spezialgebiet: Die logistische Kontrollinstanz für Stimmungsprognosen. Das bedeutete: Bollwin sollte Plätzchen testen, bis er einschlief.

Leider verstand Bollwin etwas völlig anderes. Er glaubte, er sei nun Oberrentierführer und gleichzeitig stellvertretender Nordpol-Prophet. Am nächsten Morgen fanden die Elfen ihn im Stall, wo er versuchte, Donner zu überzeugen, dass der traditionelle Schlitten abgeschafft werde und stattdessen eine „Bierkistenrakete“ zum Einsatz komme. Er warf dramatische Schatten an die Stallwand, weil er die Laterne falsch herum hielt.

Die Rentiere starrten ihn an.
Bollwin starrte zurück.
Die Bierkisten starrten aus Prinzip niemanden an.

Rudolph flüsterte nur: „Ich fliege nicht rückwärts. Nicht nochmal. Wenn er mich anfasst, leuchte ich absichtlich in die falsche Richtung.“

Bollwin ließ sich nicht beirren. Er hielt lallige Ansprachen an Tannenzapfen („Meine Freunde, lasst uns mutig vorangehen!“), führte hitzige Debatten mit Schneehaufen („Du hast mich angesehen, gib es zu!“) und bezeichnete alle elf Minuten irgendeinen Gegenstand als „Chef“.

Nachdem Bollwin einen großen Rumtopf geleert hatte, sah er alles doppelt – und Brommhardt rätselte immer noch, wer der lustig wankende Typ neben ihm sei.

„Wer bist du denn?“, fragte er ihn zum dritten Mal.


„Ich bin dein Bruder!“


„Ach ja!“, sagte Brommhardt gerührt und umarmte ihn so kräftig, dass drei Elfen dachten, sie müssten die beiden mit einem Schneebesen trennen. Doch trotz Chaos, Bierkisten, aromatischen Dämpfen und Bollwins Versuch, dem Polarwirbel politische Ratschläge zu erteilen, geschah etwas Ungewöhnliches:


Brommhardt war glücklich. Er fühlte sich nicht mehr wie der zerstreuteste Mensch am Nordpol.
Er fühlte sich … normal. Na ja, fast.


„Weißt du, Bollwin“, sagte er lächelnd, „ich kenne dich zwar nicht, aber du bist lustig.“


„Das stimmt“, erwiderte Bollwin stolz. „Darauf trinke ich einen Schluck.“


Die Elfen beschlossen schließlich, Bollwin bleiben zu lassen, jedoch unter einer strengen Bedingung:
Er durfte nichts berühren, das fliegt, rollt, blinkt, brummt, summt oder Knöpfe hat.

Bollwin akzeptierte das ohne Zögern. Er hatte längst Größeres vor: Er wollte die Weihnachtsrede übernehmen.

Die Elfen waren vorbereitet. Sie hatten einen Notfallplan. Sie nannten ihn: das Bollwin-Protokoll.

Erster Punkt:
„Wenn er anfängt zu singen, sofort die Lichter dimmen.“
Zweiter Punkt:
„Wenn er anfängt zu tanzen, die Halle evakuieren.“
Dritter Punkt:
„Falls er behauptet, er habe eine Vision, prüfen, ob es nur der Rumtopf ist.“

Die Pointe des Protokolls aber war die vierte Regel, die der dienstälteste Elf mit zittriger Hand hinzugefügt hatte:

„Und falls er am Ende doch eine gute Idee hat – bitte aufschreiben. Es könnte das erste Wunder des Nordpols seit 700 Jahren sein.“

 

 

©Sigrun Al-Badri/ 2025



Hinweis: Der Verfasser wünscht generell keine Kommentare von niemand.

Hinweis: Du kannst diesen Text leider nicht kommentieren, da der Verfasser keine Kommentare von nicht angemeldeten Nutzern erlaubt.

Kommentare zu diesem Text


 Didi.Costaire (02.12.25, 18:00)
Moin Sigi,

auch Bollwin hat das Attribut "Weihnachtsmann" verdient. Ob das dem Ablauf des Festes zugute kommt, ist eine andere Frage. Toi toi toi...

Liebe Grüße,
Dirk

Kommentar geändert am 02.12.2025 um 18:00 Uhr
Zur Zeit online: