Abschied mit Engel

Kurzgeschichte

von  Elia

Lehrer benötigen, wenn sie die Schwelle eines Lehrerzimmers überschreiten, eigentlich inneren Rückzug an einen Ort hinter der Stirn, wo Ruhe ist, wo niemand hinreicht: keine Schüler, keine Kollegen, keine Informationen im Vorübergehen, keine Durchsagen über PKW, die in der Feuerwehrzufahrt stehen. Lehrer brauchen einen Ort, an dem es nach  Apfelsinen und Kaffee riecht und niemand spricht.

 

Der große Mann, der in hoher Geschwindigkeit das Lehrerzimmer durchkreuzt, fällt auf, zumal er ein blaues Auge hat und sehr blass ist. Waren das die Schüler? Oder die Eltern? Nein, so schlimm sind sie dann doch nicht. Hat er sich etwa geprügelt? Und wenn ja, was hat so ein Rohling in diesem Lehrerzimmer verloren? Ist das überhaupt ein Lehrer?

 

Doch, unverkennbar, er hat eine abgegriffene Aktentasche dabei. Mit weit ausholender Geste schleudert er sie um sich und knallt sie dann unter den gegenüberliegenden Arm: „Auf Wiedersehen, Schule. Das war´s.“ Einmal dreht er sich noch um die eigene Achse, etwa in der Flugbahn der Aktentasche, und bleibt dann vor der Wand mit den Lehrerfotos stehen. „Nie wieder Schule! Hat mal jemand einen Stift? Wir können mich streichen.“, grölt er.

 

„Nein, nein, lass es ruhig hängen. Damit wir noch ein bisschen was von dir haben.“, ertönt eine weibliche Stimme. „Wie kommt denn das so plötzlich?“

 

Er lässt sich auf einen Stuhl plumpsen: „Die können mich hier nicht mehr brauchen.“

„Wie, die können dich nicht mehr brauchen?“

„Tja, entweder ganz oder gar nicht.“

Die Kollegin rückt näher.

„Ich bin auf,“, sagt er, „das pack ich nicht, das volle Programm.", schüttelt den Kopf und schaut uns beide an, steht auf, hinter den Stuhl, klammert sich fest. „Ich schlafe ja nur noch jede dritte Nacht.“

„Nein“, sagt sie. „Das ist doch klar. Das muss jeder verstehen.“

„Nee,“, murmelt er, „ich versteh das nicht. Wär’ ich nur nicht zum Arzt gegangen.“ Er deutet auf die Brust. „Erst das Herz und dann das.“ Er richtet den Finger auf das Auge und setzt sich wieder. „Ich wär’ ja wiedergekommen. Aber sie haben es mir vorgerechnet. In Teilzeit krieg ich weniger raus als wenn ich aufhöre.“

Sie schüttelt den Kopf.

„Glaubst du nicht, Gerda? Ist aber so. Kann ich mir nicht leisten, weißte?“

„Doch, doch, ich glaube es. So ist das heutzutage.“

„Ja. So ist das.“ Er richtet sich auf. „Aber es hat auch was Gutes. Kann ich wenigstens ausschlafen.“

„Stimmt“, sagt sie. „Das wirst du auch brauchen. Ich wünsch Dir Gutes. Dass du uns noch lange erhalten bleibst. Auf der nächsten Weihnachtsfeier… .“

„Weihnachtsfeier?“ Er spuckt das Wort aus. „Da komm ich nicht.“

Sie schaut mich an: „Das war noch nie sein Ding. Dafür ist er berühmt und …berüchtigt.“

„Ach was!“, sagt er und schaut mich ebenfalls an. „Sind Sie neu hier?“

„Ja“, sage ich. „Kunst und Religion.“

„Auch das noch.“, stöhnt er. „Re-li-gi-on! Eine Adventskranzterroristin!“

„Sorry!“, verteidige ich mich, „Ich kann keine Kränze binden.“

„Na ja. Und sonst? Guter Anfang?“

„Ja, schon.“ Ich blicke aus dem Fenster.

„Gibt es ein Problem?“, fragt er.

„Ja.“, sage ich. “Gott ist möglicherweise tot.“

„O!“ Er wird aufmerksam. „Sind Sie sicher?“

„Ich weiß es nicht.“

„Na dann…, für alle Fälle: Beileid.“

„Danke.“, sage ich.

Wir schweigen. Die Sonne bricht durch die Wolken. Gerda packt die Friedrich-Wilhelm-Hefte in die Tasche und geht. Wir bleiben allein zurück. Er hat einen anthrazitgrauen Haarkranz mit einzelnen Silberfäden. Die Silberfäden schimmern.

„Weihnachten!“ Er spuckt das Wort aus. „Ich hasse Tannennadeln auf der Stulle. Jedes Jahr dieses Grünzeug. Und immer über meinem Stuhl.“, sagt er. „Wissen Sie, das steht sogar in meiner Personalakte.“

„Was?“, frage ich.

„Wir hatten hier eine Kollegin, die es immer übertrieb.“, erzählt er. „Jedes Jahr dasselbe Theater. Sitz ich also hier und korrigiere, kommt sie und klettert vor mir auf den Tisch. So´n Apparat!“ Er streckt beide Arme lang nach den Seiten aus. „Klettert auf den Tisch, wirft meinen Kaffee um, quer über die Hefte und, jetzt kommt´s: Hat ´nen rosa Schlüpfer an.“ Sein kreideweißes Gesicht rötet sich leicht. „Eine Zumutung. Und hängt da über mir dieses Nadelding auf.“

„Ach!“, sage ich.

„Und dann war Fußball. Am nächsten Tag, ne? Lehrersport.“ Die Sonne steht auf seinem Gesicht. Es leuchtet. „Also hab ich unter der Dusche, wie Männer das so machen…“ Er zögert. Ich nicke. „ …gesagt, sie hätte sich das Steißbein polieren sollen.“

„Ouh!“

„Genau. … Ein bisschen anders hab ich´s formuliert, gebe ich zu, war wohl zu viel. Ich weiß nicht, wer, aber irgendwer hat´s dem Alten erzählt. Ein Spitzel. Weiß bis heute nicht, wer.“

„Das ist übel.“, sage ich. Sein Auge sticht aus dem Weiß. Es ist gelb an den Rändern.

„Tja, können `se nachlesen. In der Personalakte. Wissen aber auch alle. War dann später immer peinlich.“

„Peinlich?“

Er nickt. „Das mit dem Adventskranz. Dass ich es nicht mit sowas habe. Aber einmal habe ich den Mädels aus dem Englisch-LK beim Baumschmücken geholfen. Die hatten den in der Klasse aufgestellt und kriegten den Engel nicht in der Spitze fest. Kam der Müller vorbei. Sie wissen: Deutsch und Geschichte?“

„Ja.“, sag ich.

„Die Tür stand auf. Hat er mich gesehen, wie ich da auf dem Stuhl schwankte an dem Baum. Mit ´nem Rauschgoldengel in der Hand. Hat das ganze Cholerikum drüber gelacht.“

 

„Schade,“, sage ich. „dass Sie Weihnachten nicht da sind.“

„Bin froh wenn ich weg bin. Ich komm nicht wieder. Ganz sicher nicht.“ Er legt die Hand an die Schläfe und verzerrt das Gesicht.

Wir sitzen eine Weile still nebeneinander in der Sonne, die durch das große Fenster einfällt. Sein Gesicht ist weiß wie Milchglas. Ob ich seine Röntgenbilder sehen wolle, fragt er.

„Nein, tut mir leid.“ Mein Blick geht zur Uhr. „Ich muss runter, hab Pausenaufsicht gleich.“

„Gerne?“ fragt er und grinst.

„Ach, ist noch ein komisches Gefühl.“, sage ich.

Und da sehe ich sie: Flügel! Über seinen Schultern bauschen zwei dicke glänzende Flügel.

„Tun Sie mir einen Gefallen?“, fragt er. Und ich nicke stumm.

„Ich geh jetzt runter und mache Ihre Pausenaufsicht. Das macht mir nix. Das tu ich gern. Und wenn die Pause um ist, dann nehmen Sie mein Bild ab?“

„Ja“, sag ich.

Er erhebt sich. „Alles Gute dann.“

„Ja“, sage ich. „Ihnen auch.“

An der Tür bleibt er hängen. Mit dem linken Flügel. Zieht und zerrt, bis er vom Schulterblatt abreißt und traurig an der Türaufhängung baumelt. „Mist“, knurrt er. „Und räumen Sie das Geflügel ab, bevor die anderen kommen. Hab mich schon genug blamiert in dem Laden. Nehmen Se ruhig ´ne Schere.“

„Ja.“, sag ich. „Bestimmt.“

Und dann segelte er den Flur hinunter mit seinem einen Flaum und verschwindet um die Ecke.

 

Als ich das Bild entfernen will, ist es schon weg. Ebenso der Flügel.



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Kommentare zu diesem Text


 Hannes (06.12.25, 20:43)
  ! Wow !

 Elia meinte dazu am 06.12.25 um 21:12:
Danke.

 Isensee (06.12.25, 21:51)
Hatte mich auf den Text gefreut und wurde enttäuscht.
Er liest sich zu 80% wie ein Gesprächsprotokoll: Lehrer kommt rein, erklärt Burnout, erzählt Anekdoten, bekommt Flügel, fliegt weg. Das ist ein Dahinplätschern ohne dramaturgische Zuspitzung. Die Dialoge sind realistisch, wirken aber wie mitgeschriebenes Lehrerzimmer-Gerede. Funktioniert nur, wenn der Text bewusst mit seiner Form spielt, tut er aber nicht.
Die Figuren sind sympathisch, aber blass; die Erzählerin hat kein Innenleben, der Mann bleibt trotz seiner Geschichte flach, weil wir alles nur erzählt bekommen, aber nichts erleben. Die Engelsmetapher kommt isoliert und soll die Geschichte retten, wirkt aber wie ein Fremdkörper.
Die Sprache ist sauber, aber farblos. Nur die Adventskranzstelle hat Witz, und ja, es gibt ein Grundgefühl von Melancholie, aber das trägt den Text nicht.
Die Idee selbst ist großartig, aber der Text scheitert an einem zu korrekten Stil, mangelnder Verdichtung und fehlender dramaturgischer Führung. Er ist zu brav für seine eigene Pointe. Es fehlt Mut, Schärfe, Wildheit und der Wille zum Kürzen. Schade, da wäre viel mehr drin gewesen.
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