Übernatürlich

Märchen zum Thema Glück

von  Wastl


Schon als Kind konnte ich die Kopfschmerzen meiner Mutter durch meinen Willen vertreiben. Ich spielte mit dem Gedanken, daraus einen Beruf zu machen. Später wusste ich jedoch instinktiv, dass es nicht meine Bestimmung ist, anderen Menschen mit Kopfschmerzen zu helfen. Auch meine Frau hat eine besondere Begabung. Sie trägt uraltes Wissen in sich, ohne zu wissen, woher es stammt. Eines Tages backte sie Plätzchen und mischte eine geheimnisvolle Tinktur hinein. Die Folge war erstaunlich: Fünf Tage lang waren wir von Glück erfüllt, als sei uns eine wunderbare Zauberkraft zuteil geworden. Am sechsten Tag war dieses Hoch jedoch wieder wie weggeblasen. Da backte sie dieselben Plätzchen noch einmal, mit demselben Ergebnis. Dann kam ihr die Idee, dieses Glück allen Menschen zugänglich zu machen. Eine gute Idee, fand ich. Also gingen wir zu einem bekannten Plätzchenhersteller.

Er jedoch hatte etwas ganz anderes im Sinn. Nachdem er die Wirkung zu seinem Erstaunen an sich selbst erlebt hatte, bekam er große Augen, in denen ich zu meinem Entsetzen riesige Dollarzeichen sah. Sein Plan: Zehntausend Dollar pro Plätzchen für eine handverlesene Plätzchenverzehrungselite. „Wo kämen wir dahin, wenn jeder so viel Glück empfinden darf!”, predigte er wie von der Kanzel herunter. Der Pöbel sollte unter sich bleiben und nur Auserwählten sollte dieses Paradies auf Erden gegönnt sein – freilich zum angemessenen Kostenfaktor.

Meine Frau und ich verstanden zunächst nur Bahnhof, doch dann wurde uns allmählich klar, wie unredlich dieser Mann war. Wir beschlossen, sein Angebot auszuschlagen und gingen zurück zur Bushaltestelle.  Nach kurzer Zeit erschienen plötzlich vier große Männer in dunklen Anzügen. Einer von ihnen zog ein seltsames Rohr aus seiner Tasche und berührte mich damit. Ich bekam einen elektrischen Schlag und fiel in Ohnmacht.

Als ich erwachte, befand ich mich immer noch in der Bushaltestelle, doch meine Frau war nicht mehr da. Auf dem Sitzplatz neben mir fand ich einen Zettel mit der Aufschrift: „Übergeben Sie uns die Rezeptur ihrer Plätzchen, und Sie bekommen im Gegenzug Ihre Frau zurück.” Ich war außer mir vor Wut und wünschte dem Plätzchenhersteller und allen Menschen, die in seiner Fabrik arbeiteten, Kopfschmerzen, denn ich wusste von meiner Mutter, wie unangenehm sie sein können.

Plötzlich hörte ich hinter mir Glas klirren und Menschen schreien. Als ich mich umdrehte, sah ich, wie die Angestellten des Plätzchenherstellers sich vor Schmerz die Köpfe haltend aus den Fenstern stürzten und mehrere Stockwerke tief auf dem harten Asphalt landeten. Auch der Plätzchenhersteller war darunter. Er lag schwer verletzt und zuckend am Boden, aus seinen Ohren tropfte Blut.

Sofort hatte ich ein schlechtes Gewissen, denn zuvor war ich doch so stolz darauf gewesen, mit meiner Gabe den Menschen zu helfen. Doch an diesem Tag tat ich genau das Gegenteil, ohne zuvor gewusst zu haben, welche Macht ich hatte. Doch dieser Moment des schlechten Gewissens währte nur kurz, denn bald schon übernahm die Wut über die Geiselnahme meiner Frau wieder die Regie – denn ich hänge viel mehr an meiner Frau als an meinem eigenen Leben.

Instinktiv wusste ich, dass es am besten war, mich in unser kleines Haus im Wald zu begeben und abzuwarten, was geschehen wird. Am dritten Tag, nach schlaflosen Nächten, stand plötzlich meine Frau vor mir. Sie erzählte mir, dass die beauftragten Entführer keinen Grund mehr hatten, sie weiterhin gefangen zu halten, da ihr Auftraggeber im Koma auf der Intensivstation einer Privatklinik liegt.

Wieder zur Vernunft gekommen dank des Glücks, meine Frau wieder in die Arme schließen zu dürfen, gestand ich ihr, was kurz nach ihrer Entführung den Angestellten des Plätzchenherstellers durch meine durch Wut ausgelösten Verwünschungen widerfahren war. Mir tat schrecklich leid, was ich den Angestellten angetan hatte. Zum Glück hatte meine Frau Verständnis für meine Situation und meinte, dass ich das ja nicht hätte wissen können, welches Leid ich mit meinen Wünschen auslösen könnte.

Bevor wir wieder damit begannen, Pläne zu schmieden, wie wir allen Menschen auf der Welt das gleiche Glück ermöglichen könnten, das wir durch den regelmäßigen Verzehr der Plätzchen genießen, beschlossen wir, uns zunächst zurückzuhalten. Wir wollten erst einmal durch eine Weltreise ausreichend viele Glückserfahrungen gemeinsam erleben. Denn seit der Entführung war uns bewusst geworden, wie kurz und kostbar das Leben sein kann – insbesondere, wenn man eine glückliche Beziehung mit jemand anderem haben darf.


Seitdem wartet die Menschheit auf die Rückkehr
des glücklichen Paares 
von seiner Weltreise,
die bis heute noch andauert.


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Kommentare zu diesem Text


 franky (09.12.25, 08:19)
Hi lieber Wastel, 

Wir sind alle auf einer Weltreise, die bis Haute andauert. 
Hie und da wird uns ein Zauberplätzchen zugesteckt;-) 

Grüße von Franky

Kommentar geändert am 09.12.2025 um 08:20 Uhr
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