Die Neuen
Erzählung
von Quoth
Nach einem kleinen Fußmarsch am Krankenhaus vorbei betrat Willewald Wülbers oder Wülle, wie ihn die Kollegen nannten, die Einrichtung. Seine Baskenmütze war ihm aufs linke Ohr gerutscht, so dass er aussah wie ein kecker Panzerfahrer, freilich ein in die Jahre gekommener. Vom Gehen her hätte man ihn freilich eher als Matrosen auf Landgang eingeschätzt. Dank eines frühkindlichen Fußschadens und eines um einige Zentimeter verkürzten rechten Beines simulierte er perfekt das austarierende Wanken eines Skippers. Er trug eine Cordjacke und über die Schulter gehängt die schwarze Ledertasche mit seinen Unterrichtsmaterialien. Was er noch nicht wusste: Die Wasserflasche in der Tasche war umgekippt und lief vermöge des in ihr herrschenden Überdrucks aus. Unter dem Fresko des martialischen Rossebändigers verharrte er für eine Sekunde. Ihm fiel ein, dass er eine neue Klasse bekommen würde. Das entlastete, denn am Anfang ging es nicht um Sprache, sondern um Organisation und um Kennenlernen.
Frohgemut betrat er das rauchgeschwängerte Lehrerzimmer, wo bereits einige Habitués versammelt waren. Kuhlmann sog an einer Fluppe, während die letzte noch im Aschenbecher verglomm. Sein knittriges Kiffergesicht verzog sich zu einer fröhlichen Kaspermaske, als er Wülbers begrüßte: „Gut gekackt?“ Wülbers nickte leutselig und nahm Platz auf dem siebten Stuhl rechts am langen Tisch. Beim Ausstrecken der Füße stieß er auf weichen Widerstand. Unten wälzte sich jemand herum und stöhnte: „Merde, vielen Dank!“ Das war Jahnke, der Tests immer ungelesen in den Papierkorb warf. Er hatte wieder zu lange im Netz gehangen. Gegenüber steckten Inge und Irma die Köpfe zusammen. Sie hielten das Geistige hoch und tauschten sich über ein Rätsel mit Fragen aus wie „Kreisförmig gerilltes Schwarz muss keine Schallplatte sein, sondern?“ Irma litt an Wutanfällen gegen alles und jedes; im Moment waren die Männer dran. Inge versuchte sie abzulenken, weil sie mit ihren Hassausbrüchen jedes Gespräch erstickte. Sie schaute Wülbers schutzlos an. Er zwinkerte ihr unbesonnen zu. „Macho-Arsch!“ zischte sie. Er war froh, als er sich in die Klasse verdünnisieren konnte. Dass es aus seiner Tasche tropfte, bemerkte er nicht, als er unter der monumentalen nackten Erntehelferin entlang zur Klasse schwojte.
Seit einigen Jahren war er nun Lehrer seiner Muttersprache. Die Klientel der Einrichtung bestand überwiegend aus Spätaussiedlern, zum Teil aber auch aus sog. Kontingentflüchtlingen, die in etwa so jüdisch waren wie die Spätaussiedler deutsch. Aber das spielte für Wülbers keine Rolle. Er hatte sich das multikulturelle Dogma zu eigen gemacht, nach dem jeder Zuwachs von außen das Leben in seinem Lande bereichere. Wieviel Farbe brachten sie herein! Allein die krachbunten Plastikwollwintermützen ihres Nachwuchses! Gab es in Kasachstan keinen Wind? Sie beteuerten immer wieder, dass es dort sehr viel kälter werde im Winter, aber ihre Kinder mummelten sie ein, als ob Dolderath in Grönland läge. Dabei lag es nicht weit von der Kölner Bucht entfernt, in der die Apfelbäume immer 14 Tage früher blühen als im Rest der Republik.
Achtzehn verschlossene Gesichter schauten ihn an, als er die Klasse betrat. Er schrieb seinen Namen an die Tafel. Dann gab er jedem die Hand und forderte sie auf, sich mit Namen und Herkunft vorzustellen. Obgleich er nicht darum gebeten hatte, standen sie auf. Das gehörte für sie zur Schuldisziplin. Obgleich Wülbers es für überflüssig hielt, schmeichelte es ihm doch. Es hatte in der guten alten Sowjetunion ja auch einen „Tag des Lehrers“ gegeben. Auch dieses Jahr würden sie ihm am 12. Juni wieder einen Blumenstrauß überreichen. Wer dachte hierzulande schon positiv über Lehrer? Von höchster Stelle wurden sie „faule Säcke“ geschimpft. Was ja in allzu vielen Fällen (siehe Jahnke) auch zutraf. Aber auch der bekam seinen Lehrerstrauß.
Wülbers hatte es aufgegeben, sich die Namen merken zu wollen. Er verteilte Kärtchen, die sie beschriften und vor sich aufstellen mussten. Es waren ein Karl Engels dabei und ein Friedrich Marx - Anlass für allerlei Gekicher. Eine Natascha gab es, blassblond, blau geädert wie Carrara-Marmor und mit Augen, die im Wodka ihrer Schönheit schwammen. Lauter Lehrerinnen, Verkäuferinnen und Traktoristen, keine Kontingentler. Das war schade. Die jüdischstämmigen Einwanderer, Jewrei, wie sie sich nannten, waren manchmal das Salz in der Suppe. Karl Engels und Friedrich Marx waren Vettern, ihre beiden Frauen Schwestern. Im ganzen waren zwölf von den achtzehn miteinander verwandt und kamen aus derselben ehemaligen Sowchose. Der Rest war ein schweigsamer adipöser Bergarbeiterclan aus Schachtinsk. Im Laufe des Vormittags kam noch ein Muslim aus Baku mit seiner Frau hinzu. Er erklärte durch einen Dolmetscher, dass er kein Deutsch lernen wolle. Auf die Frage, wie er dann Arbeit zu finden gedenke: Er habe 9 Kinder. Das Kindergeld sei ihm genug. Er hieß Mustapha und sollte binnen weniger Wochen zum wichtigsten Mann der Klasse werden. Die Grundlage seiner Macht waren sein Selbstbewusstsein – und die Kleinkredite, die er loyalen Mitschülern gab.
(wird fortgesetzt)