Beim Fotokopieren erster Materialien (sein und haben) traf Wülbers auf Nora Brettschneider. Sie vertrat den Zivi, der sonst das Kopiergerät bewachte. Nora hatte einen Cousin, der im Bayreuther Festspielchor mitsang. Sie schwärmte für Patrice Chéreau und sprach von seiner „Jahrhundertinszenierung“ des Rings. Dabei schüttelte sie die Locken, verdrehte die Schokoladenaugen gen Wotan und bekam eine durchdringende Stimme.
„Besorgst du mir Karten für die Meistersinger?“ fragte er sie vertraulich.
„Die Meistersinger? O mein Gott! Willst du dir das antun?“
Sie riss entsetzt die Augen auf. Sie brüstete sich gern mit ihren Bayreuther Beziehungen, aber noch nie war es ihr gelungen, eine einzige der Karte zu besorgen, die bei ihr bestellt wurden. In ihrer Aufgeblasenheit steckte eine starke weibliche Potenz. Sie war vaterlos und in Lederhosen aufgewachsen. In ihrem tiefliegenden Sportwagen fuhr sie Wülbers manchmal nach Hause. Er war ja eins dieser „armen Schweine“, die auf den öffentlichen Nahverkehr angewiesen waren. Der war hier draußen in „Haferspanien“ ziemlich ausgedünnt.
Und noch immer hatte er den Unfall in seiner Tasche nicht bemerkt. Er war Nichtraucher, Nichttrinker, das Einzige, was ihn am Inhalt seiner Tasche interessierte, waren Zeitungen, vorwiegend alte, die er bevorzugte, weil er den Aktualitätswahn verachtete.
„Herr Lährer!“ Die blaugeäderte Natascha hatte sich mit auf dem Tisch gestützten Ellenbogen gemeldet und wies mit einem Ausdruck mütterlicher Besorgtheit (für die Wülbers sie hätte küssen können) auf seine Tasche, unter der sich ein Teich gebildet hatte.
Wülle, um ihn bei dem Namen zu nennen, mit dem auch ich ihn anredete, als ich seinem erlauchten Kollegium für einige Monate angehörte, verfluchte seine Gedankenlosigkeit, Mineralwasser in die Frühstücksflasche gefüllt zu haben. Die Lehrbücher, insbesondere das vom Roten Kreuz, waren klatschnass. Und auch seine Pausenlektüre, ein SPIEGEL aus dem Jahr 1991, war durchweicht, das Etui mit den Stiften aufgequollen, die Aspirin zu Matsch geworden. Er litt oft an linksseitigen Kopfschmerzen. Trigeminus-Neuralgie. Oder war es nackenbedingt und Bechterew? Wülle liebte den Bechterew. Er verschaffte ihm Popularität bei seinen Schülern. Sein werdender Buckel trug einen russischen Namen!
Er bat um Entschuldigung und hinterließ die Klasse mit der Aufgabe, eine Wortschlange an die Tafel zu schreiben. Im Lehrerzimmer saß Nora, versunken in „Endstation Sehnsucht“. Sie sollte in einer Liebhaberaufführung die Blanche spielen und kratzte sich nachdenklich den Bauch. Den Ausdruck geschmerzt musste sie üben! Fluchend entleerte Wülbers den Wasserrest aus der Tasche ins schmutzblinde Spülbecken, auf dessen Rand gebrauchte Kaffeefilter verwitterten. Unterm Tisch schnarchte Jahnke. Er hatte ein Tonband mit Diktaten vor seiner Klasse auf- und angestellt. Als Wülbers zu Marx und Engels zurückkehrte, hatten die Neuen an die Tafel geschrieben: BUTTERBROTT – TEITSCHMARK – KAPUT – VERBOTEN – NOSTALGIA – ASCH – SCHEISE – SCHASCHLIG