kopfleere

Gedicht zum Thema Krankenhaus

von  Perry

nach dem ersten schreck - ratlosigkeit
da sind lücken
in der zeit, ihrer zeit - ausradiert, weggesperrt
es fehlt die koordination
im neomammalia

bin doch aufgestanden
wie immer
fühlte mich nur etwas unwohl
kann mich nicht erinnern
wie ich hierher kam

draußen
vor dem klinikfenster
drückt der februarschnee die tannenzweige nieder
ihre arme sind so schwer
vor allem der rechte

der gehwagen stößt an den schrank
grimassen schneiden im spiegel
aus dem mundwinkel tropft speichel
unbemerkt
wie aus einem leck

bin nur aufgestanden
mein mund war so trocken
wollte etwas trinken, telefonieren
doch die tasten wussten ihre reihenfolge nicht
kann mich nicht mehr erinnern

die märzsonne taut den schnee weg
ein ast ist geknickt
hebt sich nicht mehr
bewegungsbad um zehn 
anschließend sprechübung mit dem logopäden

hallo mama
wie geht’s dir heute
ich bin’s
ja, ja mein junge du liegt mir auf der zunge
aphasie, amnestische aphasie

gemeinsames kochen
gemüse putzen
die nudel hüpft von der gabel
und der speichel tropft
unaufhörlich auf die strickweste

der frühling hat sich durchgesetzt
neue zweige sprießen
synapsengrün
komm mama, wir fahren nach hause
willst du ein taschentuch?


was du mir sagst, vergesse ich
was du mir zeigst, daran erinnere ich mich
was du mich tun lässt, das verstehe ich
(konfuzius, 500 Jahre nach Christus)

Hinweis: Du kannst diesen Text leider nicht kommentieren, da der Verfasser keine Kommentare von nicht angemeldeten Nutzern erlaubt.

Kommentare zu diesem Text

Justine (42)
(22.09.05)
Dieser Kommentar ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.

 Perry meinte dazu am 22.09.05:
Hallo Justine,
danke für die Auseinandersetzung mit diesem sicher nicht einfachen Text. Du hast die anfängliche Hilflosigkeit und die daraus erwachsene Stärkung des Zusammengehörigkeitsgefühls sehr gut interpretiert.
LG
Manfred
Nunny (73)
(18.01.06)
Dieser Kommentar ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.

 Perry antwortete darauf am 18.01.06:
Hallo Gisela,
dieser Text beschreibt einen Schlaganfall mit teilweiser Körperlähmung und Gedächtnisverlust. Die Behandlung war zum Glück erfolgreich bis auf kleinere Beeinträchtigungen. Wie du schreibst, ist es vor allem diese unerwartete Konfrontation mit dem Schicksal, dieses Spüren der Ohnmacht, die sich in ein kreatürliches Hoffen flüchtet.
Danke für dein Mitfühlen und LG
Manfred
Zur Zeit online:
keinVerlag.de auf Facebook keinVerlag.de auf Twitter keinVerlag.de auf Instagram