2/10

Text zum Thema Hoffnung/Hoffnungslosigkeit

von  Traumreisende

Ich wechsle die Autobahn. Meine Ratio registriert, dass ich 2/10 des Weges geschafft habe. Wann ich damit begonnen habe, alles in Abschnitte zu zerlegen, die einen Widererkennungseffekt haben, weiß ich nicht. Es hilft, wenn ich sagen kann, wieder ein Stück geschafft. Das Rechnen soll gegen die Gedankenbilder strömen, Kilometer, Geschwindigkeit, Weg… Immer die gleiche Strecke. Die Radiosender schwächeln, oder quälen mit Deutschen Schlagern, die ich nicht mehr aus dem Kopf bekomme. Mein CD-Player ist defekt, deshalb bevorzuge ich das Rechnen. Selbst meinen Nicotinverbrauch  teile ich in Zeiteinheiten ein.
Es haben zu viele Gedanken auf den Kilometern Platz. Ich habe bemerkt, dass sie sich auf festen Punkten einnisten. Kilometer 85 ist mit dem Geruch von Mundschutz belegt. Viel zu früh, aber immer an der gleichen Stelle, als hätte ich ihn hier irgendwann einmal abgelegt, auf der Rückfahrt. Er ist da und mit ihm Angst und Enge.
Ich versuche ihn wegzurauchen, obwohl die nächste Zigarette erst in fünfzehn Minuten dran wäre.
Lieber diesen Rauch, als das Wissen. Wissen sei Macht- ohne Wissen Ohnmacht…Ich rauche mich ohnmächtig. Verdammter Mist, lieber wieder Rechnen!

Das Unberechenbare lauert am Ziel. Es trägt weiß. Ich werde grün tragen, Schlupfhose und Hemd. Der Mundschutz bleibt weiß und macht mich sprachlos, verdeckt das gequälte Lächeln. Blicke warten auf Wörter, die nicht so steril sind wie das Zimmer. Geliebte Blicke. Ich kann keine Staubflusen zusammenrechnen, ich kann nichts. Versuche bunte Bilder zu erzählen, vom Leben draußen. LEBEN! Doch neben mir sitzen Angst und Hoffnung, ungezählt, uneingeteilt, unberechenbar.
Ich versuche anwesend zu sein, ganz, mit einer Liebe ohne Angst. Dabei spüre ich, wie meine Anwesenheit hier versagt. Dieses Krankenhaus ist mit Steckdosen bestückt, gleich am Eingang, oder überall. Sie schlängeln Fäden zu mir, saugen sich in mich und trinken meine Kraft.

Ich liebe diese Hand so sehr und werde anwesend. Die Nichtzeit wird zur Nähe.
Ich liebe dieses Gesicht so sehr und werde lächelnd. Das Nichtweinen wird zur Kraft.

Auf dem Rückweg bin ich entladen. Meine Gedanken stelle ich an die Kilometersteine. Sie werden nicht weichen, bis zum nächsten Mal.
Ich wechsle die Autobahn. Meine Ratio registriert, dass ich 8/10 des Weges geschafft habe.
Den Schmerz schaffe ich nicht.


.

Möchtest Du einen Kommentar abgeben?
Diesen Text kommentieren

Kommentare zu diesem Text

steinkreistänzerin (46)
(31.01.06)
Dieser Kommentar ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.

 Traumreisende meinte dazu am 31.01.06:
es hilft auch nicht, das rechnen... aber es hilft ein verstehen, hab deshalb lieben dank. silvi
Fabian_Probst (44)
(31.01.06)
Dieser Kommentar ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.

 Traumreisende antwortete darauf am 31.01.06:
es hilft nur nicht immer,selbst bei einer mathematikerin wie mir nicht, es ist flucht, irgend ein durchhalten... danke, ganz lieben dank silvi
Nunny (73)
(31.01.06)
Dieser Kommentar ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.

 Martina schrieb daraufhin am 31.01.06:
Hier- genau hier schließe ich mich mal an...weil es könnten meine Worte sein Lg Tina

 Traumreisende äußerte darauf am 31.01.06:
mitleiden... das wollte ich so nicht, ich hab etwas in mir verarbeitet, was viele so in dieser art erlebt haben..
auch tränen sind ein stück leben..
ganz lieben dank
silvi
locido (21)
(31.01.06)
Dieser Kommentar ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.

 Traumreisende ergänzte dazu am 31.01.06:
ja, ich habe auch beim schreiben an jemanden gedacht, sehr... hab dank sohn, lg silvi
Eira (36)
(31.01.06)
Dieser Kommentar ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.

 Traumreisende meinte dazu am 31.01.06:
ganz lieben dank, ja du hast es sehr genau beschrieben, wenigstens um solch eine fahrt durchzustehen... glg silvi
TanzderSinne (30)
(31.01.06)
Dieser Kommentar ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.

 Traumreisende meinte dazu am 31.01.06:
aber auch das mathematische hatte seine grenzen... und half nicht immer.... hab ganz doll dank. silvi

 DariusTech (01.02.06)
Einen kaputten CD-Spieler habe ich auch im Auto# mit Rauchen werde ich auch zwecks Ablenkung nicht beginnen# rechnen kann ich zwar# halte es jedoch nicht für sehr hilfreich.(Nimm bitte die Rauten als Kommata# die Tastatur in der Uni-Bib weigert sich dieses Satzzeichen zu erzeugen.)
Abschiede und Tränen gehören wohl zum Leben. Abschiede von Lebensabschnitten# von Menschen oder Orten. Immer mehr dieser Kilometersteine hinterlassen wir auf der Lebensautobahn. Wichtig ist wohl das manche dieser Kilometersteine eben aus Lachen# nicht aus Tränen# bestehen.
lg Darius

 Traumreisende meinte dazu am 02.02.06:
es war ein immerwährender kreislaf der hilflosigkeit, unberechenbar... danke dir... glg silvi
shorty (32)
(02.02.06)
Dieser Kommentar ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.

 Traumreisende meinte dazu am 02.02.06:
ich allerdings bin froh es einmal in worte bringen zu können... das wortlose ist manchmal das was jeden tag aufs neue in mir redet. lg silvi

 apocalyptica (06.02.07)
Du hast gewusst, liebe Silvi, was dieser Text in mir auslösen würde...trotzdem oder gerade deshalb ganz doll lieben Dank für die Empfehlung, mehr sage ich jetzt nicht, brauche ich sicher auch nicht zu sagen!
Ich umarme dich in gegenseitigem Verstehen,
deine -bea

 Dieter_Rotmund (19.02.19)
Hossa, das ist hier ja ein Fegefeuer der Lobhudeleien, hastenichgesehen!

Ich würde gerne wissen, was ein "Widererkennungseffekt" ist; eine Art Erkenntnisverweigerung?
Möchtest Du einen Kommentar abgeben?
Diesen Text kommentieren
Zur Zeit online:
keinVerlag.de auf Facebook keinVerlag.de auf Twitter keinVerlag.de auf Instagram