Dienstags bei Inge

Ansichten übers Leben und Sterben und den Rest dazwischen


Eine archivierte Kolumne von  IngeWrobel

Montag, 08. Februar 2010, 00:38
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Leben und Sterben im digitalen Zeitalter

In unglaublich kurzer Zeit hat das Internet den Menschen seiner Individualität beraubt. Internetuser „produzieren“ sich und ihr Leben, ihre Privatsphäre, und widersprechen mit ihrem „Auting“ den Forderungen des Datenschutzes, den sie gegenüber Behörden, Banken, Arbeitgebern und „dem Staat“ so vehement fordern. Grotesk ist, dass sie das nicht etwa unter Folter, sondern freiwillig und sogar gerne tun. Sie „produzieren“ sich selbst wie eine Ware, für die auf dem Markt noch keine Nachfrage besteht. Die Präsentation findet über Portale wie Twitter, YouTube, Facebook, studi-VZ und ähnliche Einrichtungen statt.
Der Schritt vom teilweise verschließbaren Tagebuch meiner Kinder- und Jugendzeit zum weltweiten Blogging ist längst getan und überschreitet Grenzen, die man noch vor wenigen Jahren nicht für möglich gehalten hätte.
Unter der Bezeichnung „Social Media“ erfährt mittels Google und ähnlichen Suchmaschinen der Nachbar, den man sonst nur flüchtig kennt, welche Wehwehchen uns momentan plagen, und dass die Frau gerade in der Kur ist, wo sie psychosozial therapiert wird.
Mir wäre das alles ziemlich egal, da ich ja selbst entscheide, welche Einblicke ich in meine Intimsphäre gewähre. Aber der Wortzusatz „sozial“ stört mich bei diesen Netzwerken. Hier wird dem Nähkästchenplauderer ja nicht geholfen, wenn er eine soziale Not hat. Er kann sich öffentlich Ausheulen – aber das wars dann auch schon.

Wer in seinem Leben schon ähnlich oft umgezogen ist, wie ich, kennt die Suche nach guten Ärzten. Jedesmal muss ich dem jeweiligen zukünftigen Fachmediziner meine entsprechende Vorgeschichte möglichst lückenlos mitteilen, damit er über eine genaue Anamnese verfügt, falls ich mal ohne Gedächtnis oder Sprachvermögen in seine Praxis komme, und aus Zeitgründen nicht nach genetischen Ursachen für die Amnesie gefragt werden kann.
Im Ernst: Woher soll ich noch das Datum für die Blinddarmreizung und die Entfernung der Rachenmandeln wissen? Herrje! da gab es wirklich wichtigere Termine in meinem Leben, an die ich mich auch nicht erinnern kann. Es wäre doch so einfach, alle irgendwannmal relevanten Daten auf einem kleinen Microchip zu speichern. Auf unseren Krankenkassen-Versichertenkarten ist jede Menge Platz für ein ganzes langes mehr oder weniger gesundes Leben.
Die Idee dazu, aus uns „gläserne Patienten“ zu machen, ist nicht neu. Kurioserweise scheiterte die Durchsetzung dieses möglicherweise lebensrettenden Vorhabens an der Einsicht der Patienten, die da plötzlich den Datenschutz dagegenhalten.
Für mich ist das absolut unverständlich, denn jeder kann in eine Notfallsituation geraten, in der Angaben zur Blutgruppe, Implantaten, Unverträglichkeiten und früheren Operationen eine sofortige und richtige Hilfe gewährleisten.

Wenn die Entwicklung und Verbreitung der Befindlichkeits-Tweets freilich so rasant fortschreitet, wie bisher, haben die Notfallärzte der Zukunft wohl eher eine Schnell-Anamnese über ihr iPhone zur Hand.

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Kommentare zu diesem Kolumnenbeitrag


 IngeWrobel (12.02.10)
Hallo mathis,
danke für den Link. Sehr interessant. Da sieht man wieder, dass mit besonders heiklen Aufgaben besondere (Daten-) Spezialisten betraut werden müssen. Stattdessen: Dilettanten allenthalben ...
Und diese neue Mit-Daten-Erpressung-s-Masche ist/wäre Stoff für eine Extra-Kolumne ...
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