Mein Bruder.

Text zum Thema Absurdes

von  nihil

Einen Bruder habe ich nicht.
Weder einen verblichenen noch absorbierten.
Trotzdem besucht er mich beizeiten, mein Bruder, vor allem nachts.
Vermutlich ist er verstörenderweise sogar omnipräsent, nur werde ich mir seiner Anwesenheit nicht immer gewahr.
Hin und wieder, wenn ich dem Konsum bestimmter Drogen fröne (ich bevorzuge den Euphemismus Medizin), kann ich ihn sogar fast sehen.
Natürlich gestattet er es mir nicht, ihn genauer zu betrachten. Ich nehme an, er schämt sich seines Erscheinungsbildes. Dies respektiere ich selbstverständlich, denn schließlich ist er mein großer Bruder.

Ein Gespräch kam freilich noch nie zustande.
Wenn ich mir seiner bewußt werde, sehe ich ihn aus meinen Augenwinkeln.
Meistens sitzt er auf meinem Lesesessel, wenn ich beispielsweise auf meinem Bett liege oder etwaigen Tätigeiten an meiner elektronischen Datenverarbeitungsanlage nachgehe.
Merkwürdigerweise fürchte ich mich nicht vor ihm.
Wieso sollte ich auch?
Denn schließlich ist er ja, wie bereits erwähnt, mein Bruder.
Sein plötzliches Erscheinen empfinde ich weder als befremdlich noch als störend.
Er sitzt nur da, schaut mir zu (oder auch nicht; möglicherweise starrt er auch vor sich hin) und es ist mir einerlei.
Für einen Außenstehenden mutet das Ganze mit Sicherheit schauerlich an.

Dennoch muß ich einräumen (ohne jemanden willentlich zu kränken), daß diese
gelegentlichen, spontanen Besuche tatsächlich ein wenig bizarr sind, denn:
er existiert nicht. Weder in der Vergangenheit noch in der Gegenwart.
Trotzdem ist er da.
Obwohl ich seiner noch nie konkret ansichtig wurde, weiß ich genau, wie er aussieht.
Er ist ziemlich groß und korpulent.
Trägt eine Brille und ein Vollbart ziert sein aufgedunsenes Gesicht.
Mit einem Basecap verdeckt er seine fettigen Haare - er ist ziemlich ungepflegt.
Es ist mir sehr unangenehm, so über meinen Bruder zu reden, aber sein Körpergeruch ist sehr widerlich, stechend und penetrant.
Er stinkt wie ein Penner; nach Schweiß, Unrat, altem Urin und anderen steinalten, nie beseitigten körperlichen Ausdünstungen.
Dementsprechend ist auch seine Kleidung.
Auch wenn es mir nicht gestattet ist, ihn genauer zu betrachten - ich weiß, daß er stets eine ausgeleierte, schwarze, mit undefinierbaren alten Flecken übersäte Jogginghose trägt.
Ich weiß nicht, warum er sich so gehen läßt.
Vielleicht ist er verzweifelt und leidet unter Depressionen; aus diesem Grunde legt er keinen gesteigerten Wert auf Äußerlichkeiten und Körperhygiene.
Oder es ist ihm gleichgültig, wie er auf mich -oder auch auf andere?- wirkt.
Schließlich ist er nicht real. Substanzlos. Ein Schattenwesen, womöglich nur meiner wirren Phantasie entsprungen. Ein Reisender, aus einer parallelen Realitätsebene, auf der Suche nach mir, seiner nicht existenten kleinen Schwester.
Seine Schwermut kann ich ihm nicht verübeln: er hat -zumindest hier- keine Existenzberechtigung.
Nicht etwa, weil sein Auftreten so widerwärtig und abstoßend ist.
Sondern schlicht und ergreifend, weil er nicht real ist.
Eine imaginäre, fiktive oder Möchtegern-Erscheinung, welche um ihr Sein buhlt.

Trotz allem stört er mich nicht im Geringsten. Seine gelegentliche Präsenz ist mir  im Grunde genommen gleichgültig.
Schließlich ist er mein Bruder.

Neulich allerdings erschreckte er mich fast zu Tode; mir standen buchstäblich die Haare zu Berge.
Ich erwachte schweißgebadet (wahrscheinlich aus einem unerquicklichen Traum) und blickte wirr um mich, bemüht, meine Systeme hochzufahren.
Bekanntermaßen benötigt man eine gewisse Zeit (eigentlich nur Bruchteile einer Sekunde, die einem in einer solchen Situation jedoch wie endlos qualvolle Stunden erscheinen), wenn man brachial aus tiefem Schlaf gerissen wird, um sich seiner selbst wieder bewußt  zu werden.

Ich fuhr also hoch und setzte mich aufrecht hin, um mich zu orientieren.
Die Irritation und Bestürzung war groß, als er, mein imaginärer Bruder, groß und wuchtig neben meinem Bett stand und auf mich herniederblickte.
Ich bin mir nicht sicher, ob es nur ein Trugbild war, denn als meine Ratio ihre gewohnte Tätigkeit aufnahm und ich für meine Verhältnisse offenbar wieder weitestgehend normal funktionierte, verblaßte auch die Erscheinung meines Bruders.

Seit diesem Vorfall behelligt er mich nicht mehr. Ich hoffe inbrünstig, daß er mir -trotz seiner Nicht-Existenz und folglich seines nicht vorhandenen Bewußtseins; aber wer vermag das schon zu beurteilen- zukünftig seine spontanen Besuche erspart. Denn seine letzte Erscheinung läßt mich ihn nun mit anderen Augen sehen und eine vage Furcht hat sich meiner bemächtigt.

Nein, ich habe keinen Bruder.
Ich hatte nie einen Bruder.
Und es ist (zwar nicht unmöglich, aber) unwahrscheinlich, daß meine Mutter mir jemals ein Brüderlein schenken wird, da die Batterie ihrer biologischen Uhr schon seit einigen Jahren ausgezehrt ist.
Wohl kaum würde sie, meine Mutter und ihre vertrocknete Gebärmutter, die Last einer künstlichen Befruchtung auf sich nehmen, um mir meinen "Traum" zu erfüllen.

Möge mein Bruder bitte da bleiben, wo er ist, schon immer war und hoffentlich auch bleiben wird: im Sammelbecken der potentiellen, nie ins Dasein tretenden Individuen.


Anmerkung von nihil:

Valium.

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Kommentare zu diesem Text

Graeculus (69)
(04.05.14)
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 nihil meinte dazu am 04.05.14:
Hallo Graeculus. Nicht alles ist "erdacht" und schnöde Fiktion... leider :( Rechtschreibpatzer werden umgehend eliminiert. Danke für den Hinweis. Einen schönen Sonntag wünscht Dir R.
Festil (59)
(24.10.16)
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