Zeit und Raum. 2500 Jahre in Friedrich Rückerts "Chidher"
Essay
von Dieter Wal
Anmerkung von Dieter Wal:
1. Al-Chidr bei Wikipedia
2. Chidher/Chidr in Literatur und Koran
3. Friedrich Rückert bei Wikipedia
Kommentare zu diesem Text
Vielen Dank für die aufklärende Interpretation. Gerne habe ich mich auf die Zeitreise eingelassen.
Herzliche Grüße
Viktor
Herzliche Grüße
Viktor
Lieber Viktor,
danke. Wollte länger darüber schreiben. Das Gedicht ist von Rückert-Gedichten relativ bekannnt, wurde um die Jahrhundertwende mehrmals, aber wird seitdem lange nicht mehr für Anthologien ausgewählt. Zeit, dass sich das ändert. Im Fin du Ciècle wurde es öfter gedruckt, weil zur damaligen Weltuntergangsstimmung das als Kontrast sehr gut passte. Heute könnte die Zeitreisendenthematik, die gern in Romanen und Filmen aufgegriffen wird, ein Grund sein, es wiederzuentdecken.
Herzlich
Dieter
(Antwort korrigiert am 06.02.2013)
danke. Wollte länger darüber schreiben. Das Gedicht ist von Rückert-Gedichten relativ bekannnt, wurde um die Jahrhundertwende mehrmals, aber wird seitdem lange nicht mehr für Anthologien ausgewählt. Zeit, dass sich das ändert. Im Fin du Ciècle wurde es öfter gedruckt, weil zur damaligen Weltuntergangsstimmung das als Kontrast sehr gut passte. Heute könnte die Zeitreisendenthematik, die gern in Romanen und Filmen aufgegriffen wird, ein Grund sein, es wiederzuentdecken.
Herzlich
Dieter
(Antwort korrigiert am 06.02.2013)
das gedicht kannte ich grob - nach einer früheren recherche. rückert war ein sprachgenie, ja. zu den sprachgenies, zuerst heinrich schliemann (1821 - 1890):
"Am 20. Dezember traf er in Amsterdam ein, erhielt zu Jahresende eine Stellung als Kontorbote im Handelshaus Hoyack & Co. und begann, Fremdsprachen zu erlernen, was ihm anscheinend außerordentlich leichtfiel. Innerhalb eines Jahres lernte er Niederländisch, Spanisch, Italienisch und Portugiesisch." (wiki)
als teenie las ich ein buch von ihm. er sprach über die leichtigkeit der fremdsprache. erst habe er holländisch gelernt, dann englisch. das seien in dieser abfolge (!) doch gar keine fremden sprachen ...
und das schach- und sprachgenie kasparov: er behauptete im interview (spiegel), er lerne seitenweise texte fremder sprachen fotografisch. einzige bedingung: es müsse eine brücke zu bereits erlerntem geben. so schafft er leicht isländisch, schwedisch usw. alles indogermanische und slawische sowieso.
das war ein ausflug, angeregt durch diesen essay.
rückert konnte ironisch sein: "Unsinn ist der Erbauung am wenigsten hinderlich; wo sie nicht ergründet den Sinn, legt sie den tiefsten hinein."
lo
(Kommentar korrigiert am 06.02.2013)
"Am 20. Dezember traf er in Amsterdam ein, erhielt zu Jahresende eine Stellung als Kontorbote im Handelshaus Hoyack & Co. und begann, Fremdsprachen zu erlernen, was ihm anscheinend außerordentlich leichtfiel. Innerhalb eines Jahres lernte er Niederländisch, Spanisch, Italienisch und Portugiesisch." (wiki)
als teenie las ich ein buch von ihm. er sprach über die leichtigkeit der fremdsprache. erst habe er holländisch gelernt, dann englisch. das seien in dieser abfolge (!) doch gar keine fremden sprachen ...
und das schach- und sprachgenie kasparov: er behauptete im interview (spiegel), er lerne seitenweise texte fremder sprachen fotografisch. einzige bedingung: es müsse eine brücke zu bereits erlerntem geben. so schafft er leicht isländisch, schwedisch usw. alles indogermanische und slawische sowieso.
das war ein ausflug, angeregt durch diesen essay.
rückert konnte ironisch sein: "Unsinn ist der Erbauung am wenigsten hinderlich; wo sie nicht ergründet den Sinn, legt sie den tiefsten hinein."

(Kommentar korrigiert am 06.02.2013)
Lieber lo,
vielen Dank für deine Gedankenspiele. Schliemann ist auch ne Nudel. Seine Grabungsberichte sind sehr schön geschrieben. Fand zufällig einen Band und genieße ihn. Bin überhaupt nicht sprachbegabt und brech mir immer einen ab, sobald ich Sprachen lerne. Aber ich machs wie Kasparov. Ohne "Aufhänger" würde Vokabellernen beinhart.
LG
Dieter
vielen Dank für deine Gedankenspiele. Schliemann ist auch ne Nudel. Seine Grabungsberichte sind sehr schön geschrieben. Fand zufällig einen Band und genieße ihn. Bin überhaupt nicht sprachbegabt und brech mir immer einen ab, sobald ich Sprachen lerne. Aber ich machs wie Kasparov. Ohne "Aufhänger" würde Vokabellernen beinhart.
LG
Dieter
Als allererstes kam mir Cidre in den Sinn, den ich noch nie trank, nach weiterem Hinschauen entdeckte ich ein wunderbares Gedicht, das mich in seiner Form irgendwie an eine Sestine erinnert, und dann erst sah ich, dass es von Friedrich Rückert stammt. Die Interpretation des Gedichtes ist sehr aufschlussreich, interessant sowieso und mit großer Achtung vor R. verfasst. Das Thema R.s erinnert mich wiederum an etwas, und zwar an die Turmreihe von S. King, in der Roland, der Wanderer zwischen den Welten, New York in verschiedenen Zeitebenen besucht.
Sehr wissenswert, sehr interessant für Leute wie z. B. mich, die sich, außer vielleicht ein wenig in der Schule, noch nie intensiv mit der Aufschlüsselung von Texten unserer Altvorderen befasst haben.
Liebe Grüße
Llu ♥
(Kommentar korrigiert am 06.02.2013)
(Kommentar korrigiert am 06.02.2013)
Sehr wissenswert, sehr interessant für Leute wie z. B. mich, die sich, außer vielleicht ein wenig in der Schule, noch nie intensiv mit der Aufschlüsselung von Texten unserer Altvorderen befasst haben.
Liebe Grüße
Llu ♥
(Kommentar korrigiert am 06.02.2013)
(Kommentar korrigiert am 06.02.2013)
Liebe Llu,
vielen Dank für deinen positiven Kommentar. Vielleicht find ich doch noch zu S. King. Bisher las ich sein Buch "Das Leben und Schreiben" mit Interesse. Sah einige TV-Interviews mit ihm und finde ihn als Mensch so sympathisch wie genial. Was die formale Struktur des Gedichtes angeht, warum nicht an Sestinen denken? Sie folgen zwar anderen Regeln, aber Regeln unbedingt. Muss mich mal tiefer mit Sestinen beschäftigen! Danke für deine Anregung dazu. Dass du meinen Respekt vor Rückerts Leistungen dem Essay entnehmen konntest, freut.
Herzlich
Dieter
vielen Dank für deinen positiven Kommentar. Vielleicht find ich doch noch zu S. King. Bisher las ich sein Buch "Das Leben und Schreiben" mit Interesse. Sah einige TV-Interviews mit ihm und finde ihn als Mensch so sympathisch wie genial. Was die formale Struktur des Gedichtes angeht, warum nicht an Sestinen denken? Sie folgen zwar anderen Regeln, aber Regeln unbedingt. Muss mich mal tiefer mit Sestinen beschäftigen! Danke für deine Anregung dazu. Dass du meinen Respekt vor Rückerts Leistungen dem Essay entnehmen konntest, freut.
Herzlich
Dieter
Dieter, dein Essay ist eine gelungene Interpretation des Rückert-Gedichts. Dieses jedoch halte ich für eine relativ einfallslose Zeitreise, insofern es die Wiederkehr des Immergleichen darstellt.
Zeitreisen in der Tradition von H.G. Wells jedoch antizipierten neuere Entwicklungen.
LG
Ekki
Zeitreisen in der Tradition von H.G. Wells jedoch antizipierten neuere Entwicklungen.
LG
Ekki
Lieber Ekki,
vielen dank für deinen Anstoß! Wenn Nietzsches Trunknes Lied im Zarathustra das Streben menschlicher Lust nach Dauer thematisiert, handelt Chidher weniger von der Wiederkehr des Immergleichen. Du beschreibst die Textstruktur, die in formaler Hinsicht streng logischen Regeln folgt. Wie hier Logik im Gedicht gestalterisch wirkte, find ich persönlich anziehend. Gedichte, deren Poesie unter rel. hohen formaler Strukturen entsteht, gibt es auch z. B. in germanischer oder keltischer Lyrik. Der Chidher-Aufbau ist formallogisch wie ein Konzertflügel funktional durchdacht und durchgetaktet. Insofern ist dieses Gedicht wie sehr viele weitere Rückerts der Klassik nah, was sie für Komponisten interessant machte. Ein gutes Rückert-Gedicht kennt keine "Aussetzer". Ungewöhnliche Gedankensprünge, künsterische Freiheit durch Originalität im Sinne von Nietzsche-Lyrik, in der Hafis als "Phönix, Berg und Maus" angesprochen werden kann ("An Hafis"), sind Rückert-Lyrik fremd, es sei denn, er dichtete Lyrik anderer Kulturen nach. Der Gott des Wahnsinns und der Ekstase Dionysos passt wahrhaft zu Nietzsche. Da ist Nietzsche wohl mehr Romantiker. Rückert war nicht von Dionysos angezogen. Der Zeitreisende Chidher, jemand, der ungehindert einen Ort in einem Zeitraum von 2500 Jahren in 500-jährigen Intervallen aufsucht, war eher Rückerts Ding. Zeitsprünge ja, Gedankensprünge nein! Rückert schrieb aus innerem Erleben selten als Ekstatiker. Am ehesten vielleicht noch als Liebender im Streben, sich auf das geliebte Du auszudehnen und es damit zu befruchten. Chidher, der fast gänzlich ohne eine persönliche Note gezeichnet wird, dafür als Wanderer durch die Zeit sich frei bewegt, ist eine typische Figur des Rückert-Universums. Rückert als Wanderer durch Raum und Zeit in Form des absoluten polyglotten Sprachgenies, der nur einmal kurz Italien besuchte, ansonsten kaum die deutsche Grenze überschritt, war selbst Chidher. Er kannte sie alle und war dort. Im Geist. Chidher macht nach meinem Verständnis die Befremdung des Lesers erfahrbar, folgt er Chidher durch die Zeit, in der alles bis zur Unkenntlichkeit an einen Ort gewandelt wird. Nicht die Widerkehr des Immergleichen lese ich, sondern zyklische Weltenwandlung. Erbte und studierte die geologischen Bücher meines mütterlichen Großvaters. Mir brachte in unserem Zusammenhang die "Geologische Karte von Bayern 1:500000" das Aha-Erlebnis! In ihr wird das heutige Bayern durch sämtliche Erdzeitalter anschaulich dargestellt. In Kartenform durch farbige Markierungen und genaueste geologische Beschreibungen. Rückerts Chidher wirkt davon auf mich wie ein winziges Stenogramm. Immerhin ist es ein solches. In meisterlicher lyrischer Form obendrein. Auf die Karte wies mich der Altgoldhändler Oskar Manfred Levermann aus Fürth hin, ein Mann, der fast nur antike Historiker während seiner Geschäftszeit liest. Die Kurzgeschichte "Beim Barte des Propheten" ist ihm gewidmet. Rückerts Gedicht ist wie Verlaines "la bonne chanson". Der Geist der Klassik hat in ihm weitere Gedichte in Goethes Tradition gesungen, weshalb Goethe Rückert zugetan war und sein Werk anerkennend kommentierte, soweit sich ihre Wege zeitlich kreuzten. Nimmt man vergleichend Rückerts "Kehr ein bei mir" ("Du bist die Ruh,/der Friede mild,/Die Sehnsucht du/Und was sie stillt ... ") zur Hand, werden wieder fünf Strophen gesungen. Kein Wort weist poetisch über sie hinaus. Reine Sprachmusik eines Verliebten. Chidher ist dagegen mehr ein Gedankengedicht. Folgt aber vergleichbaren klassizistischen Strukturen. Es beschreibt keine Verwunderung oder Befremden, es löst sie im Leser aus.
Gruß
Dieter
(Antwort korrigiert am 06.02.2013)
vielen dank für deinen Anstoß! Wenn Nietzsches Trunknes Lied im Zarathustra das Streben menschlicher Lust nach Dauer thematisiert, handelt Chidher weniger von der Wiederkehr des Immergleichen. Du beschreibst die Textstruktur, die in formaler Hinsicht streng logischen Regeln folgt. Wie hier Logik im Gedicht gestalterisch wirkte, find ich persönlich anziehend. Gedichte, deren Poesie unter rel. hohen formaler Strukturen entsteht, gibt es auch z. B. in germanischer oder keltischer Lyrik. Der Chidher-Aufbau ist formallogisch wie ein Konzertflügel funktional durchdacht und durchgetaktet. Insofern ist dieses Gedicht wie sehr viele weitere Rückerts der Klassik nah, was sie für Komponisten interessant machte. Ein gutes Rückert-Gedicht kennt keine "Aussetzer". Ungewöhnliche Gedankensprünge, künsterische Freiheit durch Originalität im Sinne von Nietzsche-Lyrik, in der Hafis als "Phönix, Berg und Maus" angesprochen werden kann ("An Hafis"), sind Rückert-Lyrik fremd, es sei denn, er dichtete Lyrik anderer Kulturen nach. Der Gott des Wahnsinns und der Ekstase Dionysos passt wahrhaft zu Nietzsche. Da ist Nietzsche wohl mehr Romantiker. Rückert war nicht von Dionysos angezogen. Der Zeitreisende Chidher, jemand, der ungehindert einen Ort in einem Zeitraum von 2500 Jahren in 500-jährigen Intervallen aufsucht, war eher Rückerts Ding. Zeitsprünge ja, Gedankensprünge nein! Rückert schrieb aus innerem Erleben selten als Ekstatiker. Am ehesten vielleicht noch als Liebender im Streben, sich auf das geliebte Du auszudehnen und es damit zu befruchten. Chidher, der fast gänzlich ohne eine persönliche Note gezeichnet wird, dafür als Wanderer durch die Zeit sich frei bewegt, ist eine typische Figur des Rückert-Universums. Rückert als Wanderer durch Raum und Zeit in Form des absoluten polyglotten Sprachgenies, der nur einmal kurz Italien besuchte, ansonsten kaum die deutsche Grenze überschritt, war selbst Chidher. Er kannte sie alle und war dort. Im Geist. Chidher macht nach meinem Verständnis die Befremdung des Lesers erfahrbar, folgt er Chidher durch die Zeit, in der alles bis zur Unkenntlichkeit an einen Ort gewandelt wird. Nicht die Widerkehr des Immergleichen lese ich, sondern zyklische Weltenwandlung. Erbte und studierte die geologischen Bücher meines mütterlichen Großvaters. Mir brachte in unserem Zusammenhang die "Geologische Karte von Bayern 1:500000" das Aha-Erlebnis! In ihr wird das heutige Bayern durch sämtliche Erdzeitalter anschaulich dargestellt. In Kartenform durch farbige Markierungen und genaueste geologische Beschreibungen. Rückerts Chidher wirkt davon auf mich wie ein winziges Stenogramm. Immerhin ist es ein solches. In meisterlicher lyrischer Form obendrein. Auf die Karte wies mich der Altgoldhändler Oskar Manfred Levermann aus Fürth hin, ein Mann, der fast nur antike Historiker während seiner Geschäftszeit liest. Die Kurzgeschichte "Beim Barte des Propheten" ist ihm gewidmet. Rückerts Gedicht ist wie Verlaines "la bonne chanson". Der Geist der Klassik hat in ihm weitere Gedichte in Goethes Tradition gesungen, weshalb Goethe Rückert zugetan war und sein Werk anerkennend kommentierte, soweit sich ihre Wege zeitlich kreuzten. Nimmt man vergleichend Rückerts "Kehr ein bei mir" ("Du bist die Ruh,/der Friede mild,/Die Sehnsucht du/Und was sie stillt ... ") zur Hand, werden wieder fünf Strophen gesungen. Kein Wort weist poetisch über sie hinaus. Reine Sprachmusik eines Verliebten. Chidher ist dagegen mehr ein Gedankengedicht. Folgt aber vergleichbaren klassizistischen Strukturen. Es beschreibt keine Verwunderung oder Befremden, es löst sie im Leser aus.
Gruß
Dieter
(Antwort korrigiert am 06.02.2013)
MelodieDesWindes (36)
(06.02.13)
(06.02.13)
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Das freut. Deine Literatur erinnert mich in vieler Hinsicht an Rückerts. Glaub auch, dass er als Mensch komplex war. War mit einem seiner Nachfahren, dem Tierpräparator Uwe Rückert, als Kind in Coburg befreundet. Gewisse Ähnlichkeit immer noch unverkennbar. Finde das Gedicht außergewöhnlich.