Suizid entspannt betrachtet

Feststellung zum Thema Abschied

von  Terminator

Man stelle sich Folgendes und noch Folgenderes vor: es ist menschlich eng und zwischenmenschlich schwül, die Stimmung ist gereizt, wie an Weihnachten, und die Familie ist kurz davor, am Hass, der sie all die Jahre zusammengehalten hat, zu zerbrechen. Da kommt auf einmal einer, egal wer, aus dem Badezimmer angerannt, und berichtet, dass einer, egal wer, tot in der Badewanne liegt, und neben ihm eine Rasierklinge. Endlich dürfen all die aufgestauten Gefühle raus, die, wenn sie ohne Anlass mitgeteilt worden wären, für großen Ärger gesorgt hätten; nun aber darf all die Wut aufeinander, all die Enttäuschung, Frust, Trauer, alles ans Licht, und keiner sagt jetzt, du sollst dich nicht so anstellen, im Gegenteil, man wird verstanden und getröstet, denn man hat soeben einen Angehörigen an den Suizid verloren.

Ach ja, der Suizid. Meist werden die Leute bei dem Thema sehr emotional: da meldet sich das limbische System, der tierische Teil des Hirns. Der menschliche Teil des Hirns wird ausgeschaltet, wo gerade bei diesem Thema Menschlichkeit doch angebracht wäre.

Mag sein, dass der Suizid ein Weglaufen vor Problemen ist, aber das wahre Problem so vieler Menschen ist, dass sie vor dem Suizid weglaufen. Sie tun einfach irgendwas, einfach um sich nicht umzubringen: einfache Menschen, die es sich zu einfach machen.

Nirgendwo sind Mut und Feigheit so nah beieinander wie im Suizid: zu feige, sich als z. B. homosexuell oder z. zweiten B. als Missbrauchsopfer zu outen, fasst man den Mut zum Freitod. Ja, Freitod, nicht Selbstmord: der Suizid ist ein Fest der Freiheit. Der Verzweifelte, dessen Selbstwertgefühl bodenlos versunken ist, hat im Moment des Entschlusses zum Suizid die Macht über Leben und Tod; der von Situationen, Beziehungen und Problemen Versklavte ist ein stolzer freier Mensch, der selbst entscheidet, all dem, was ihm das Leben zur Hölle macht, vorauseilenden Gehorsam zu leisten, und sich umzubringen.

Die wenigsten Menschen werden so edel sein, sich ohne äußeren Grund das Leben zu nehmen, - etwa aus der Einsicht, genug gelebt zu haben, und aus der Willenskraft, das eigene Leben wirklich frei und selbstbestimmt abzuschließen. Wer sich umbringen will, befindet sich in der Regel in einer subjektiv (und allzuoft auch objektiv) ausweglosen Situation, und es ist aufgrund der natürlichen Neigung aller Lebewesen, sich am Leben zu erhalten, sowie der angeborenen Frucht vor dem Tod und der Angst vor dem Sterbeprozess davon auszugehen, dass der angehende Selbstmörder alle alternativen zum Suizid erschöpft, bevor es sich entschließt, seinem Leben ein Ende zu setzen.

Die Befindlichkeiten Hinterbliebener nach einem Suizid lassen sich in den Vorwurf "Warum hast du uns das angetan?" zusammenfassen. Der egoistischen Ansicht von Eltern, Lebenspartnern, Kindern oder Freunden nach hat der sogenannte Selbstmörder nicht sein eigenes Recht auf Leben (welches ein Recht auf einen selbstbestimmten Tod beinhaltet) wahrgenommen, sondern eine ihnen nahestehende Person ermordet: ihr Kind, ihren Lebenspartner, ihren Verwandten oder Freund. Dass solche Besitzansprüche auf einen Menschen dem Zeitalter des Sklaverei angehören und gegen das Recht auf Leben verstoßen, ist leicht einzusehen, aber von der nihilistischen Annahme der objektiven Nichtigkeit aller Rechte und der Relativität aller ethischen Urteile ausgehend, darf nur eine Kritik der Befindlichkeit der Hinterbliebenen geführt werden.

Der Sohn, der Lebenspartner, die Mutter eines an Suizid Gestorbenen ist untröstlich traurig, was ihm als Folge seiner Tat vorgeworfen wird. Wie traurig muss aber ein Mensch sein, der sich selbst das Leben nimmt? Jedenfalls viel trauriger als die Hinterbliebenen, deren Trauer sich im Weinen und Gedenken leicht erschöpft, - und täte es sie nicht, wäre ihr Leben so unerträglich geworden, dass sie ihm ins Grab gefolgt wären. Wer als Angehöriger eines sogenannten Selbstmörders diesem seine Gefühle zum Vorwurf macht, beleidigt die Gefühle des Unglücklichen, indem er ihm einen emotional nicht hinreichenden Grund für den Freitod vorwirft: wer es sich psychisch leisten kann, an seine Angehörigen zu denken, ist in der Tiefe seiner Trauer noch nicht so weit, sich umbringen zu können. Wenn sich jemand aber selbst getötet hat, so ist davon auszugehen, dass seine Verzweiflung tiefer war als die Trauer seiner Hinterbliebenen nach seinem Tod jemals sein könnte.


Anmerkung von Terminator:

"Dem Kritiker des Freitods fehlt Empathie, um die Tiefe der Verzweiflung zu erahnen, doch angesichts des ultimativen Aktes der Freiheit ist der Feigling bitter vor Neid". Ihhi Nin:inii

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Kommentare zu diesem Text


 Verlo (29.05.22, 06:54)
Terminator:

... tot in der Badewanne liegt, und neben ihm eine Rasierklinge.
Rasierklinge -> Hammer

Wer jahrelang über Selbstmord nachdenkt, sollte vor der Umsetzung über Mord nachdenken.

 Terminator meinte dazu am 29.05.22 um 21:27:
Wer jahrelang über Selbstmord nachdenkt, sollte vor der Umsetzung über Mord nachdenken.
Das hat Aphorismusqualität.

 Verlo antwortete darauf am 29.05.22 um 21:44:
Terminator: 

Das hat Aphorismusqualität.
Danke, Terminator.

Ich hatte den Strick bereitgelegt. Hätte nur wenige Meter auf den Boden zu gehen brauchen.

Ich habe mich schon hängen gesehen.

Als ich mich so hängen sah, dachte ich: das kannst du aber nur einmal machen. Und es wird schnell vergessen sein.

Dann hab ich mich gefragt, warum ich mich umbringen will, obwohl immer wieder andere negativ in mein Leben eingreifen. Wäre es nicht besser, die Störenfriede umzubringen?

Leider ist das auch keine Lösung: es gibt zu viele, und was Böses geschehen ist, wird nicht ungeschehen.

 Teichhüpfer schrieb daraufhin am 08.11.22 um 02:30:
Wenn Du mit einer Auswegslosigkeit konfrontiert wirst, sieht das genau so aus, ist aber Mord.

 Graeculus (29.05.22, 21:48)
Ambrose Bierce: TAKING ONESELF OFF
 
A correspondent who is kind enough to profess an interest in my remarks on suicide in the last „Sunday Examiner“ asks me to name some instances in which I think it courageous to commit suicide. It is always courageous. We call it courage in a soldier merely to face death – say to lead a forlorn hope – although he has a chance of life and a certainty of „glory“. But the suicide does more than face death; he incurs it, and with a certainty, not of glory, but of reproach. If that is not courage we must reform our vocabulary.
True, there may be a higher courage in living than in dying – a moral courage greater than physical. The courage of the suicide, like that of the pirate, is not incompatible with a selfish disregard of the rights and interests of others – a cruel recreancy to duty and decency. My correspondent asks: „Do you not think it cowardly when a man leaves his family unprovided for, to end his life, because he is dissatisfied with life in general?“ No, I do not; I think it selfish and cruel. Is not that enough to say of it? Must we distort words from their true meaning in order more effectually to damn the act and cover its author with a greater infamy? A word means something; despite the maunderings of lexicographers it does not mean whatever you want it to mean. „Cowardice“ means the fear of danger, not the shirking of duty. The writer who allows himself as much liberty in the use of words as he is allowed by the dictionary-maker and by popular consent is a bad writer. He can make no impression on his reader, and would do better service at the ribbon counter.
But I have not complied with my correspondent’s request. The ethics of suicide is not a simple matter; one cannot lay down laws of universal application, but each case is to be judged, if judged at all, with a full knowledge of all the circumstances, including the mental and moral make-up of the person taking his own life – an impossible qualification for judgement. One’s time, race and religion has much to do with it. Some peoples, like the ancient Romans and the modern Japanese, have considered suicide in certain circumstances honourable and obligatory; among ourselves it is held in disfavor. A man of sense will not give much attention to considerations of that kind, excepting in so far as they affect others, but in judging weak offenders they are to be taken into the account. Speaking generally, then, I should say that in our time and country the following persons (and some others) are justified in removing themselves, and that to some of them it is a duty:
One afflicted with a painful or loathsome incurable disease.
One who is a heavy burden upon his friends, with no prospect of their relief.
One threatened with permanent insanity.
One irreclaimably addicted to drunkenness or some similarly destructive or offensive habit.
One without friends, property, employment or hope.
One who has disgraced himself.
All the men I hate.
 
[„The Passing Show“, July 15, 1900]

[Quelle: Ambrose Bierce, A Sole Survivor. Bits of Autobiography. Edited by S. T. Joshi and David E. Schultz. The University of Tennessee Press, Knoxville 1998, pp. 225-227]

 Terminator äußerte darauf am 29.05.22 um 22:31:
Diese Passage hat die geistige Klarheit eines Kant:

My correspondent asks: „Do you not think it cowardly when a man leaves his family unprovided for, to end his life, because he is dissatisfied with life in general?“ No, I do not; I think it selfish and cruel. Is not that enough to say of it? Must we distort words from their true meaning in order more effectually to damn the act and cover its author with a greater infamy? A word means something; despite the maunderings of lexicographers it does not mean whatever you want it to mean. „Cowardice“ means the fear of danger, not the shirking of duty.
In der heutigen Zeit der subjektivistischen Narrative, in denen jedes Wort eine beliebige Bedeutung annehmen kann, je nach Lust und Betroffenheit und Opfer-Abo des Sprechers, wirken diese Worte wie ein klarer Geist in einer Irrenanstalt.


 Graeculus ergänzte dazu am 29.05.22 um 22:52:
So ist es. Und von Mut bzw. Feigheit verstand Bierce (als Träger hoher Tapferkeitsauszeichnungen für die Rettung von Kameraden unter feindlichem Feuer) etwas.

"All the men I hate" ist dann ein Beispiel für den speziellen Humor von 'Bitter Bierce'.

 lugarex (01.06.22, 06:39)
Wenn Suizid, dann bitte in freier Natur. Erfrieren ist wahrscheinlich der beste und sauberste - letzte Rücksicht an Beobachter! - Weg.

 Regina (01.06.22, 11:05)
- Vor langer Zeit las ich den Suizidroman "Anna Karenina" von Tolstoi. Wenn ich mich recht erinnere, entwickelt sie genau in dem Augenblick, als sie den Selbstmord ausführt, einen unbändigen Lebenshunger. Freilich wissen wir nicht, wie realistisch Tolstoi das gesehen hat.
- Ich kenne einen vormals guten Vater von zwei Kindern, der sich plötzlich ohne Vorankündigung umbrachte. Das empfand ich als sehr verantwortungslos den Kindern gegenüber.
- Bei jeder Art von Tod trauern die Hinterbliebenen. Es erscheint in der Generationenfolge unnatürlich, vor den eigenen Eltern zu sterben.
- In esoterischen Kreisen hörte ich, dass die Lebenszeit schon bei der Zeugung vorgegeben sei und dass Selbstmörder ohne Körper umherirren müssen, bis zum Zeitpunkt, an dem sie eines natürlichen Todes gestorben wären. Freilich wissen wir auch hier nicht, ob diese Aussagen richtig sind.
- Aus der Sicht der Reinkarnationslehre macht Suizid überhaupt keinen Sinn, weil die Lebenserfahrung, die jemand noch vor sich hätte, auf das nächste Leben übertragen wird und das Schicksal dann umso dicker daherkommt.
Tiefe Depression muss es sein, das siehst du richtig, die dem Suizid vorausgeht, diese gilt es zu überwinden.
Während ich oft deinen analytischen Scharfsinn bewundere, gehört dieses Thema zu jenen, wo ich dir nicht gänzlich folgen kann.

 Terminator meinte dazu am 01.06.22 um 13:42:
Dieses Thema gehe ich aber genauso unvoreingenommen an wie jedes andere. Doch das ist kein Thema wie jedes andere: bei den meisten setzt sofort der Verstand aus und sie argumentieren nur noch auf emotionaler Ebene. Oder sie werden manipulativ und grausam.

Die Scheinargumente, die auf Emotionen abzielen, kann man entkräften, indem man beobachtet, welche Emotionen ausgelöst werden sollen:

Angst, als suizidgefährdet, und damit als Versager gesehen zu werden. Wessen Manipulation hierauf abzielt, dem ist zu sagen: besser ein suizidgefährdeter Mensch zu sein als ein asoziales Schwein.

Schuldgefühle. Dann redest du wahrscheinlich mit einem Narzissten oder  "narcissistic enabler".

Höllenangst. Auf die will ein psychisch Kranker hinaus, der offenbar sekten-ähnliche Erfahrungen aus seiner Kindheit mitbringt.

Der Vorwurf, nicht reif/weise genug zu sein. Der Vorwerfer hat einen Guru-Komplex, hält sich für erleuchtet, ist es aber nicht. Hat zu viel Schiss, selbst jemals Suizid zu begehen, und rationalisiert diese Emotion schulbuchartig nach Freud: "Nein, nicht ich bin zu feige für Suizid, sondern du hast Angst vor dem Leben/hast den Sinn des Lebens nicht erkannt/bist unreif/egoistisch/verzweifelt/usw."

 Verlo meinte dazu am 01.06.22 um 13:51:
Regina:

Ich kenne einen vormals guten Vater von zwei Kindern, der sich plötzlich ohne Vorankündigung umbrachte. 
Regina, dann hast du ihn wohl nicht gut genug gekannt bzw. er hat sich dir nicht anvertraut.

Regina:

Bei jeder Art von Tod trauern die Hinterbliebenen.
Nein, nicht selten ist der Hinterbliebene dankbar.

Regina:

Aus der Sicht der Reinkarnationslehre macht Suizid überhaupt keinen Sinn ...
Aber nur, falls man daran glaubt.

Regina, du mußt keine Angst vor Selbstmord haben, wenn ihn ein anderer ausführt: du wirst weiterleben.

 Graeculus meinte dazu am 01.06.22 um 14:19:
- In esoterischen Kreisen hörte ich, dass die Lebenszeit schon bei der Zeugung vorgegeben sei und dass Selbstmörder ohne Körper umherirren müssen, bis zum Zeitpunkt, an dem sie eines natürlichen Todes gestorben wären.

Schon Dieter Birnbacher hat darauf hingewiesen, daß dieses Argument - meist in der theistischen Variante: als von Gott vorbestimmte Lebenszeit - auffallender- und inkonsequenterweise nur auf die die künstliche Lebensverkürzung, nicht aber auch die künstliche Lebensverlängerung (Medizin) angewendet wird.
Müßten dann aus esoterischer Sicht bei den Reanimierten die Körper anschließend nicht ohne dazugehörige Seele herumlaufen, weil diese sich schon beim natürlichen Todeszeitpunkt verabschiedet hat?
Mit Verlaub: eine absurde Annahme.

 Teichhüpfer (06.11.22, 16:51)
Berlin ist Nummer eins.
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