Die Ästhetik der Masse
Leiber.
Massen von Fleisch, darin
amorphe Gesichter; aufgeschwemmte, fette, fahlweiße Kreaturen, dicht an dicht; in der Menge, im Mob, in einer sakralen, burlesken Demonstration überhitzter Materie; osmotisch flutend in jede Richtung und keine; schwärendes Lava; polypenartig, aufsaugend, füllend, erstickend; wie ein Krake seine acht Arme unaufhörlich der Unendlichkeit entgegenstreckt. Ein gigantisches Krebsgeschwür der Allgegenwärtigkeit.
Haßverzerrte Minen, leere Augen, tote Gesänge; hilflose Gesten, die sich im Rachen der Masse verzehren.
Und immer und
immer: böse Blicke
böse Blicke
böse Blicke
böse Blicke!
Das unaufhörliche Getrampel, Scharren, Kratzen, Schlurfen von Füßen, Tausende, Millionen von Füßen. Infernalischer Lärm von Stampfen und Treten und Brechen und Klirren und Knirschen über Treppen, Pflaster, durch marmorne Hallen, über Asphalt, geteerte Wege, geteerte Teufel; in langen Korridoren, unterirdischen Gängen, in Kellern, Schächten, Gewölben; über der Erde, nah am Himmel.
Das Kreischen, Röcheln, Schreien und Weinen, Heulen, Schnarchen, das Hecheln, Husten, Kratzen, Rascheln, Sirren, Scharren, Schmatzen und Murmeln - das Atmen! Das Atmen!
Unerträglicher, erstickender schwitzender körperlicher Odem, Ausdünstungen von Urin und Kot und Sperma, menstruationsfleckiger Wäsche, feuchter Haut, alter Haut. Viehischer Gestank aus kariösen Mündern, nässenden Wunden, eiternden Geschwüren, die sich aneinander reiben, aufeinander kleben, gepreßt werden, die aufbrechen in der Hitze der Leiber. Der süßliche Modergeruch verwesender Körper, in permanenter Auflösung begriffen, verfallend. Wie tote Katzen schwarzen Leichensaft in kotverkrusteten Aborten aussondern; unaussprechliche Flüssigkeiten versickern in zerfressenen Gehirnen wie in chlorgeschwenkten Urinalen.
Abgestumpfte, tote Geister in der Mitte aus der Masse heraus, balsamiert von Alkohol, betoniert in Heroin, Tabletten, Lebenszeitzerfallsprodukten.
Psychopharmaka. Lügen und Bier.
In der Mitte.
Vergessen, verloren, verwünscht.
Ausgestoßen.
Das Spiegelbild.
In der Mitte.
Um das Vergessen.
Und die gierigen Blicke, die Vergewaltigungen in überfüllten Zügen, aufgedrängten Penetrationen des Leibes und der Seele zwischen den Divisionen, in den glitzernden Passagen, vorscheingewerferten Schaufenstern, unter dem Leichentuch des Neons, anonym, brutal, offensichtlich, ungesehen. Der verzweifelte Aufschrei inmitten der Taubheit der Millionen. Verstohlen gewandte wie abgehäutete Gesichter und heimliche Blicke, verschämt komplizenhaft oder speichelgeifernd. Grinsende Gier aus wächsernen Gesichtern, ein unsichtbares Kopfnicken von Untätern, die leise inquisitorisch gemurmelte stillschweigende Zustimmung.
Schließlich die Befangenheit im Angesicht der Unendlichkeit der Zahl und die verstehende Nichtanteilnahme. Bewußtseingewordene Egomanie in der Stärke der Armeen. Die Gleichgültigkeit
stummer Ameisenvölker.
Dazwischen:
Klaustrophobische Psychopathen.
Und der Mord im Stillen.
Unterhalb der Schwelle von Wahrnehmung
- die Menschen.
Die Masse.
© Rainer M. Scholz