Tumbleweed

Erzählung zum Thema Halluzination

von  Mutter

Ich komme nachmittags in Belfast an und beginne, mich zu betrinken. Kurzer Besuch im Off-Licence, nächster Stopp Albert Bridge. Ich sitze am Wasser, leere bei angenehmem Herbstwetter stetig eine Flasche Single Malt. An meiner Bank wandern Studenten, Touristen, Shopper vorbei. Nicht wenige halten mich für einen bum, für einen Penner, nehme ich an. Hey, scheiß drauf.
Nach dem ersten Drittel fange ich an, mich zu entspannen. Habe nicht mehr Bilder von wächserner Haut und blutleeren Lippen im Kopf, sehe nicht andauernd Molly vor mir.
Was ich hier tue, ist Exorzismus. Verbanne die Gedanken, die mich umbringen. Bekämpfe Trauer, Ohnmacht, Selbstmitleid. Was ich jetzt brauche ist Wut, Hass und Berechnung. Bin hierhergekommen, um zu jagen. The Machine und seinen Auftraggeber. Ich werde auf euer Grab pissen, schwöre ich mir nach dem zweiten Drittel. Lache hart und erschrecke damit ein skandinavisches Pärchen, das einen weiten Bogen um mich schlägt. Über mir schreien die Möwen ihre Sehnsucht heraus, finden ein Echo in meiner Seele. Nur das es mich nicht nach Krabben, Fisch und Aas gelüstet. Ab und an antworte ich ihnen, rufe zu ihnen herauf. Sie ignorieren mich.

Ich leere den letzten Schluck aus der Flasche und stoße mich von der Bank ab. Hab mir Zeit gelassen – es dämmert bereits. Mit kontrollierten Schritten wie ein bestens ausgebildeter Alkoholiker mache ich mich auf den Weg in die Innenstadt. Versuche mich zu erinnern, finde meinen Weg. Ausgesetzter Hund.
Stehe vor ihrem Haus. Kenne Sals Nachnamen nicht, habe keine Ahnung, wo ich klingeln muss. Ich drücke einfach alle Knöpfe.
Endlich erbarmt sich einer und lässt mich rein. Ich stolpere die Treppe hoch, bis in die dritte Etage, finde ihre Tür. Klingele Sturm.
Ich verliere jedes Zeitgefühl – lehne mich nach vorne, den Daumen fest auf der Klingel. Links und rechts gehen Türen auf, irgendwer schreit.
Sal macht nicht auf. Oder Sal ist nicht da.
Mit einem letzten, langgezogenen Klingelton stoße ich mich ab, komme wieder in die Vertikale. Mir ist schwindelig.
Unten auf der Straße halte ich mein Gesicht kurz in den Wind, um auszunüchtern. Reine Illusion, und das ist gut so – müsste sonst nachtanken.
Die nächsten paar Stunden rolle ich durch die Stadt wie tumbleweed in einem Western. Nehme hier und da einen Drink, um den Pegel zu halten, unterhalte mich mit Menschen, die sich genau wie ich einfach driften lassen und lande am Ende vor der Tür der Prawda Bar.
Sal.
Heute machen zwei Boys die Tür, einer jung und geleckt, der andere vom Typ Cowboy Gay. Ich lehne mich an eine Laterne, schließe die Augen, atme tief durch. Muss mich sammeln, ansonsten lassen die beiden mich niemals rein. Egal, was für Codewörter ich ihnen nennen kann.

Die Zähne fest aufeinander gebissen, mache ich mich auf den Weg. Fixiere den Cowboy bereits von weitem mit hartem Blick, sende aggressive Pheromone in seine Richtung. Ich bin das Alphatier, Kleiner.
Sage meinen Spruch auf - kostet mich immense Willenskraft, absolute Beherrschung. Wie ein gut trainierter Alkoholiker schaffe ich es, komplett normal zu wirken. Kurz.
Mit einem Lächeln gehe ich an dem Kerl vorbei, der mich aufmerksam mustert. Ich nehme an, die Jungs des Albaners sind so etwas wie kriminelle Prominenz bei den Bouncern – gefährlicher Glamour.
Das zweite Mal den Spruch, um keine Kohle zahlen zu müssen. Bin dankbar, dass sie mich abtasten. Muss ich mich für ein paar Sekunden nicht aufrecht halten.
Der Club ist leer – es ist zu früh für echten Betrieb. Ich scanne die Bar aufmerksam, sehe keine Sal. Möchte heulen.
Stattdessen lehne ich mich schwer auf die Theke, warte, bis eine schlanke Rothaarige sich von hinter der Bar mir zuwendet.
‚Was darf’s sein?‘, fragt sie mich mit einem Lächeln.
‚Arbeitet Sal heute?‘, will ich wissen, verbanne jedes Lallen mit Macht von meiner Zunge.
Sie mustert mich mit neuem Interesse – kein normaler Kunde, sondern ein Mann für die Barchefin. Schüttelt den Kopf. ‚Hat frei. Soweit ich weiß ist sie erst am Wochenende wieder dran.‘
Ich nicke, als spiele das keine große Rolle. Hieve mich von der Theke hoch, hebe die Hand zum Abschied und hüpfe über den Abgrund, der sich unter mir aufgetan hat.
Suche mir den Weg gnadenlos nach draußen, vorbei an Gästen, mitten durch Gäste. Verschütte Drinks, jemand schubst mich zurück. Echten Widerstand, eine Schlägerei, gibt es nicht. Schade - könnte ein Ventil gut brauchen.
Kurz vor dem Ausgang verdunkelt sich die Sonne. Kreuters Schläger baut sich vor mir auf, die Backenmuskeln zum Zerreißen gespannt.
Ohne nachzudenken, ohne zu zögern, ramme ich ihm den Handballen unter die Nase. Er stolpert nach hinten, stößt gegen eine Säule. Taumelt benommen einen Schritt auf mich zu, die Nase ein blutiger Brei. Mein Kopf zuckt nach vorne, ich erwische ihn mit der Stirn ein weiteres Mal mittig. Er kollabiert zu meinen Füßen.
Ich steige vorsichtig über seine Beine hinweg, erreiche die Tür. Manövriere mich durch den Türrahmen, in dem ich links und rechts anfasse, mich lotse, als sei ich ein Segelschiff auf dem Weg in die Hafeneinfahrt.
Mir läuft Blut in die Augen – nicht meins.
Draußen auf der Straße fehlt mir die Orientierung – ihre Wohnung und die Bar waren meine einzigen Anhaltspunkte. Keine Ahnung, wie ich weitermachen soll. Kurzentschlossen folge ich einer Gruppe spanischer Studenten, die mir zu trinken geben. Wir landen in einer Bar, wo mir an der Theke ein schlaksiger Kerl mit Akzent Pillen anbietet. Ich habe Mühe zu verstehen, was er sagt. Nehme, was er mir hinhält, spüle es mit dem Bier meines Nebenmannes runter. Als der sich wehrt, mache ich ihn fertig, bis er am Boden liegt, ich nachtrete. Trinke zusätzlich noch das Bier seines Kumpels leer, der mich geschockt ansieht, sich dann um seinen blutenden Freund kümmert.
Auf Mauern und Türeingängen grüßen mich Dämonen, gaffende Mäuler, die drohen, mich zu verschlingen. Ich ziehe die Augen zusammen, starre zurück in ihre Fratzen und bösartigen Mienen. Belfast hat sich in meine persönliche Hölle verwandelt. Corkers Inferno.

Ich muss mehrere Passanten ansprechen, bis mich jemand versteht. Mir sagt, wie viel Uhr es ist - kurz vor Mitternacht. Mit einem gemurmelten ‚Danke‘ taumele ich weiter. Müdigkeit schließt mir die Augen, manchmal mache ich mehrere Schritte, bis ich sie erneut öffne. Schiebe mich mit der Schulter an Ziegelsteinen um eine Mauer, die Vertikale habe ich längst endgültig verlassen. In die komme ich heute nicht mehr.
Verwirrt sehe ich mich um – die Gasse ist eng und dunkel. Sackgasse. Ich grinse. Nichts Neues in meinem Leben momentan. Mein mittlerer Name ist Sackgasse.
Das Lächeln geht und Erschöpfung kommt. Mit dem Rücken an der Wand schließe ich erneut die Augen, will bloß noch schlafen.
Rutsche langsam herunter, bis ich auf dem Boden sitze. Entfernt nehme ich wahr, dass mein Hintern kalt wird. Ich gebe der Ermattung nach, drifte weg. Morgen früh werden sie einen namenlosen Penner steifgefroren in dieser Gasse finden. Der Gedanke lässt mich lächeln.
‚Du bist eine erbarmungswürdige Gestalt‘, sagt jemand vor mir. Überrascht reiße ich die Augen auf. Mir gegenüber, kaum drei Meter weit weg, sitzt ein Kobold. Ein Leprechaun, irisches Wahrzeichen.
Verächtlich verziehe ich das Gesicht. ‚Verpiss dich, du hässliche Ente.‘ Mache die Augen wieder zu.
‚Weißt du, warum dir so kalt ist? Weil du keinen Arsch in der Hose hast‘, fährt er fort, mich zu nerven. Ich kneife die Augen zusammen. Könnte einen Exorzisten brauchen.
‚Komm schon, Corker, hör auf, dich wie ein dummes Arschloch aufzuführen.‘
Mit einem Ruck öffne ich meine Augen. ‚Was weißt du denn, Zwerg? Ich nehme an, du hast grade nichts Besseres zu tun, als mir auf den Sack zu gehen.‘
‚Richtig.‘
Ich schnaube. ‚Was ist mit deinem Gold? Stellst du mir jetzt eine Frage, und wenn ich die richtig beantworte, bekomme ich deinen Schatz?‘
Das untersetzte Fabelwesen lacht und streicht sich durch den Bart. ‚Eine Frage – das ist eine gute Idee.‘
‚Auch gut – wer braucht schon Feengold.‘ Nach einem Augenblick füge ich müde hinzu: ‚Also los, stell deine Frage.‘ Die Augen habe ich bereits wieder geschlossen, den Kopf zurückgelehnt, gegen die kühle Mauer. In mir drin schieben sich bunte Sterne durcheinander. Ein Sog zerrt an mir, will mich mitnehmen. Wurmloch. Gerade will ich mich in den Strudel werfen, aufgeben mich zu wehren, da sagt der Leprechaun: ‚Was willst du wirklich, Corker? Was ist deine Queste?‘
Mit einem Ruck öffne ich die Augen, starre in die leere Gasse. Der Scheiß-Kobold ist verschwunden.

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