Nach dem Gottesdienst

Text zum Thema Rache

von  Rudolf

Ist der Gottesdienst vorbei, hat Nepomuk auf dem Weg nach Hause alle Zeit der Welt. Er reflektiert die Worte der Predigt. Und wo lässt es sich über eine Predigt besser reflektieren als auf einem Friedhof?

Unsere Tage zu zählen, lehre uns! Dann gewinnen wir ein weises Herz *.

Der Würde des Ortes entsprechend (Friedhofssatzung) schreitet Nepomuk die Parade der Grabstätten ab. Er summt das Lied, das sie nach der Predigt sangen, eine ruhige getragene Melodie. Ein Gedanke kreist in Nepomuks Kopf, drängt sich immer wieder nach vorn, will immer wieder gedacht sein: „Gott möchte, dass wir mit unseren Nächsten in Frieden leben.“
„Gilt das auch für Nölendorf?“
„Nein, er ist ein Feind, der wie die Feinde im alten Testament bekämpft werden muss.“

Nepomuk atmet tief durch, sein Blick fällt auf den mächtigen Stamm einer Eiche und gleitet über das grobe Muster der Rinde nach oben zur blattlosen Krone. Mächtige Äste, so dick wie junge Bäume, gehen vom Stamm in alle Richtungen,  recken sich zum Himmel, verästeln sich immer weiter bis zu den dünnen Enden, an denen Knospen auf die Frühlingssonne warten. Den Kopf im Nacken starrt Nepomuk in den strahlend blauen Himmel über sich, vor dem sich die mächtige Eiche ausbreitet. Sein Summen ist verstummt. Wie riesig ein Baum werden kann und wie alt. Ast für Ast, Jahresring für Jahresring zog dieses Wesen Mineralien aus einem Boden, in dem die Reste von Menschen vergraben sind. Er stand schon hier, als der Friedhof eingerichtet wurde. Seit dem arbeitet er an der Atomisierung der unter ihm Begrabenen mit. Weitläufig verästelt sich sein Wurzelwerk im Untergrund und gibt ihm auch dann noch sicheren Halt, wenn Stürme seine Baumkameraden umstürzen lassen.

„Ich wäre gern wie Du“, flüstert Nepomuk dem Baum zu und tastet mit beiden Händen über die Furchen in der graugrünen Rinde.

Antwortet der Baum ihm? Wispert in der Krone der Geist der Toten, deren Reste dieses riesige Lebewesen in Jahrzehnten in sich gesogen hat. Wenn sich die Welt der Toten und die der Lebenden berühren, dann in diesem Baum. Nepomuk erfühlt ein wenig der Energie, die durch den Baum strömt, und lässt sie in sich fließen. Für einen kurzen Moment steht die Zeit still. Für einen Augenblick ist er an den allumfassenden Kosmos angeschlossen. Nepomuk weiß, dass der Friedhof sein Ziel ist, aber er weiß nicht, wie er hierhin kommt. Vor diesem Ziel liegen andere Ziele, sind Meilensteine zu passieren, die nicht auf dem Friedhof liegen. Nepomuk wendet sich zum Ausgang, der auf den Friedhofsweg führt.

Nölendorf liegt ihm schwer auf dem Magen. Nölendorf ist heute sein Nächster und er hasst ihn.

„Nölendorf, Du Geißel Gottes, wie kann ich Dir in der kommenden, gerade begonnen Woche begegnen?“

Der Gottesdienst ist vorbei.

* Bibel, Psalm 90, Vers 12

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Kommentare zu diesem Text

rätselhaft (78)
(31.10.10)
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 Rudolf meinte dazu am 01.04.11:
Danke, Dein Kommentar ist mir Lohn und Ansporn.
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