Nun gehe ich schon eine komplette Woche auf Krücken. Das war am Anfang eine gewaltige Umstellung, was Tagesablauf und Bewegungen angeht: es ist notwendig, alles zu rationalisieren, dh. doppelte Wege zu vermeiden, um die noch gesunden Glieder möglichst zu schonen. Daher hänge ich mir eine Tasche um, stopfe in der Küche alles das hinein, was im Wohnzimmer gebraucht werden könnte und umgekehrt alles das, was vom Wohnzimmer ins Bad oder zur Schlafstatt muß.
Beweg ich ihn zu wenig, droht der Fuß abzusterben; beweg ich den Körper zuviel, schmerzen Arme und Hände - es ist ein ewiges Abwägen. Auch mit dem Trinken. Zuviel bedeutet mehr Gänge zur Toilette und zu wenig bringt den Elektrolythhaushalt durcheinander. Nachts liegt das Klo gefühlte fünf Kilometer weit in der Taiga, während der Blasendruck stetig zunimmt.
Und dann ist da noch die Sorge um das verletzte Knie, das linke, immer links, immer die musische Seite einer nichteingehaltenen Bestimmung.
Bloß nicht falsch bewegen, nicht über verrutschte Teppiche stolpern und viele andere Fallen, was dem Gesunden zu bedenken nie in den Sinn kommt. Gesundheit, heißt es, sei das höchste Gut. ... ja nu, was weg ist, ist weg ...
Das Rationalisieren birgt ebenfalls Gefahren: wie weit kann ich mich hinauslehnen beim Abstellen oder Heranziehen eines Tellers mit zubereiteter Speise, ohne das Gleichgewicht zu verlieren und wie stelle ich die Krücken ab, ohne daß sie jedesmal umfallen ...
Ein Event dagegen war noch der Freitagabend in der Notaufnahme. Jetzt weiß ich wieder, wo die schönen Mädchen alle sind und warum "Männer" keine Gelegenheit auslassen, krank zu werden. Welche Blüten stecken doch unter klinisch reinen Kittel, vertonte Meisterwerke, reizende Geschöpfe, Jungbrunnen uns Sabbernden, die sie im Rollstuhl über die Flure schieben ...
Melancholie sickert durch die Poren ... unaufhörlich aus den Träumen steigend allabendlich, wie eine Venus des frühen Botticelli ... ach! - der Herbst ... wer bringt den Meisen jetzt Badewasser und spricht mit den Pflanzen ... was soll werden, was wird aus den Amseln ... die meisten sind einem Virus der aus Afrika eingewanderten Moskito zum Opfer gefallen. Bayern, Hessen, Baden Württemberg, Thüringen - überall sterben sie zuhauf. Und ich auf Krücken und fern der Mädels ...
Wenn ich gesund bin, rauche ich nie Marihuana. Jetzt allerdings, die Melancholie und das Gras, na ja, Mädchenersatz halt, wie die Krücken die Beine ersetzen - vielleicht sollte ich ihnen Namen geben, wie Heidi Klum ihren Brüsten, vielleicht, in Anlehnung eines nihilistischen kV-Professors: Grückulus und Bückulus ... und die gute alte Percbong Maria mit Diffusor ... blubbert mütterlich, wie ein Jakusie.
Stoned auf Krücken ... eieiei ...
Das vergangene Leben zog eben vorbei. Da hinten im Flur. Als Kunststudent wollte ich mal eine freie Akademie gründen, ein neues Elaborat anrühren, wo Lehrer Schüler und Schüler Lehrer wechselseitig sein sollten - jeder lehrte, wozu ihn Erfahrung befähigt und lernte, wozu andere befähigt wären - Hausbau, Musik, Malerei, kurz universale Lebenskunst, ohne allen staatlichen Überbau - ich scheiterte kläglich. Oder anders gesagt: eine gütige Gottheit bewahrte mich vor diesem ersten großen Wahn.
Später wollte ich Ernst Lothar Hoffmann nacheifern, der vielleicht bekannter ist als Venerable Anagarika Govinda, Gründer des Ordens "Arya Maitreya Mandala" und unter Kennern als Reinkarnation von Novalis gehandelt wird. Zwischenzeitlich entdeckte ich, wessen Wiedergeburt ich selbst war. Auch aus dem Orden wurde wieder nichts. Und ich bringe noch heute Dankopfer den Schicksalsmächten, die mich davor bewahrten.
Statt dessen schlurfe ich einsam durch den Flur, der Schicksalsblase wegen "on the road again" und halte Selbstgespräche: "Vorsicht, Vorsicht, linkes Bein, dann rechtes Bein -alle Mädchen wollen glücklich sein ... nachziehen, Beinchen, bleib auf dem Teppich, ein kleiner Schritt für die Menschheit, bleib konzentriert, mach kein Scheiß jetzt ... " und hörte plötzlich zu allem Überfluß Jim Morrisons episches "This is the end, my only friend", mußte ob der persönlichen Apo-Kalypse lachsalven ... "Menschlein, kleines humpelndes, schrumpeldes Ding, was willst du noch werden?
Grückulus und Bückulus: - Man braucht irgendwann Krücken, um die Erscheinung gewordene Verneinung des Daseins in all ihrer verkümmerten Abgestorbenenheit aufrecht zu erhalten.
Und bücken lernen muß sich der Unbeugsame vor dem Prinzip. Das, was der Eigendünkel nicht wahrhaben will, das muß an ihm als Zeichen des Mangels erscheinen, um im Erleiden der Umstände - des Bückens - wieder erlöst zu werden. Ist das nicht Wahnsinn?
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