Der Spiegel

Lebensweisheit zum Thema Ehrlichkeit

von  tastifix

In einem Luxusbad hing ein prachtvoller Spiegel, groß und eingefasst in einen breiten Goldrahmen. Er sah sehr edel aus und es machte Freude, ihn zu betrachten.
Ja, es war Liebe auf den ersten Blick gewesen. Genauso hatte sich der reiche Bankdirektor seinen Spiegel vorgestellt. Der Mann war recht eitel und prüfte jeden Morgen sein Aussehen. Leider war er, bedingt durch die meist sitzende Bürotätigkeit, ziemlich übergewichtig. Seit er sich dazu entschlossen hatte, abnehmen zu wollen, missfiel ihm das Konterfei, das sein Spiegel ihm vorführte, von Tag zu Tag mehr. Ständig unzufriedener kehrte er morgens dem Bad den Rücken.
Seine Bemühungen, schlanker zu werden, brachten keinen Erfolg, was er aber nicht wahrhaben wollte. Nach mehreren Monaten ertrug er es nicht länger.
´Eine Unverschämtheit! Ich lasse mich doch nicht von meinem eigenen Spiegel verhöhnen!`“Entweder, du spurst oder ...“
„Was oder...?“, blitzte der Spiegel zurück.
„Oder du landest auf dem Sperrmüll!!“
„Nur, weil du die Wahrheit nicht erkennen willst. Überleg besser mal, warum des so ist!“
Wütend hob Manfred den einst geliebten Spiegel vom Haken und verfrachtete ihn tatsächlich zu seinem ausrangierten Krimskrams auf die Straße.
„Was machst denn du hier? Bist du etwa kaputt?“, fragten ihn neugierig zwei alte verbeulte Schubläden.
„Pööh!“, machte der Spiegel.
Er dachte gar nicht daran, denen etwa über die erlittene Schmach zu erzählen.
„Bist wohl verdammt eingebildet!“, brummelten die Schubladen.
Der Spiegel schwieg weiterhin.
Gegen Abend fuhren zwei LKWs vor. Die Fahrer sprangen aus den Wagen und durchsuchten den Sperrmüll nach verwertbaren Dingen. Es stand ja eine ganze Menge herum und sie luden fleißig ein. Dann entdeckten sie den Spiegel.
„Nee, hat keinen Zweck. Wer will denn schon ein dermaßen protziges Ding haben?“
„Ist ja scheußlich!“, meinte der Eine.
„Solche Spiegel zeigen nur das, was man sehen möchte!“, ergänzte der Andere.
Und sie ließen ihn am Straßenrand zurück.
„Ach, wenn ich denen doch nur hätte sagen können, wie es wirklich ist!“, seufzte der Spiegel.
Er vermisste das warme Badezimmer, ja, selbst den grantigen Herrn Bankdirektor, denn es hatte auch Zeiten der Harmonie zwischen ihnen gegeben. Traurig beschlug sein Glas, als er sich daran erinnerte, wie sehr er von den Gästen immer bewundert worden war. Und jetzt? Jetzt fand er keinerlei Beachtung, sondern zählte zu all dem, was Menschen entsorgt hatten.
„Wenn doch nur jemand kommen würde, der mir ein neues Zuhause gibt!“
Er wartete und wartete. Die Nacht verstrich und mittlerweile hatte der Spiegel die Hoffnung, doch noch einem Menschen zu gefallen, fast aufgegeben. Allmählich wurde es wieder hell, der neue Tag brach an. Immer noch lehnte der Spiegel an der kalten Mauer, doch jetzt allein und einsam. Selbst die verbeulten Schubladen hatten einen Abnehmer gefunden.
Da näherten sich zwei junge Frauen. Die eine gestylt und geschmückt wie ein Mannequin, die andere schlicht gekleidet und ganz ohne Make-Up.
„Mönsch, ein bisschen Schminke und flottere Klamotten täten dir auch gut!“
„Nein, lass mich doch. Ich will das nicht. Wer mich nicht mag, wie ich bin, soll bleiben, wo der Pfeffer wächst!!“
„Versteh ich nicht!“, murmelte die Freundin.
Der Blick des schlicht gekleideten Mädchens fiel auf den Spiegel.
„Guck mal! Der gefällt mir und in Ordnung scheint er auch zu sein! Den nehm ich mit!“
Der Spiegel freute sich.
„Sie hat wirkliches Selbstbewusstsein. Sie braucht keine Verkleidung.“
Aber das schlichte Outfit täuschte. Wider des ersten Eindruckes war es eine reiche junge Frau und sie wohnte in einer wunderschönen Villa mit genau dem Ambiente, in das der Spiegel mit seinem tollen Rahmen passte. Das Bad war sehr groß und vornehm eingerichtet. An den Wänden sah man wertvolle Mosaiken, neben dem Whirlpool gedieh eine weit ausladende Palme, deren charmante Wedel sich dem Tageslicht entgegen streckten, das, durch das große Fenster fallend, den Raum in wunderbare Helligkeit tauchte. Die junge Frau hing den Spiegel an die Wand neben der Palme. Deren Wedel spiegelten sich in dem Glas und es schaute fast aus, als ob dort ein dichter Palmenwald stünde. Der geschmackvoll eingerichtete Raum ließ den Spiegel noch ausgefallener wirken. Man hätte meinen können, dass er schon immer dort gehangen hätte.
Am nächsten Morgen betrachtete sich die junge Frau kritisch im Spiegel. Der Spiegel wartete bange. Würde er sein neues Zuhause wieder verlieren? Denn ihr schaute ein blasses, kaum attraktiv zu nennendes Gesicht entgegen. Auch ihre Figur war keinesfalls eines Mannequins.
„Endlich mal ein Spiegel, der die Wahrheit zeigt!“
Zufrieden löschte die junge Frau das Licht und verließ das Bad. Sie stand zu ihren Fehlern, war eben sie selber. Genau wie der Spiegel, der anders als andere trotz seines prachtvollen Äußeres nicht gewillt war, etwas zu verfälschen, nur um zu gefallen. Auch er wollte akzeptiert werden wie er war - nämlich ehrlich!

Hinweis: Du kannst diesen Text leider nicht kommentieren, da der Verfasser keine Kommentare von nicht angemeldeten Nutzern erlaubt.

Zur Zeit online:
keinVerlag.de auf Facebook keinVerlag.de auf Twitter keinVerlag.de auf Instagram