Winternachmittag

Kurzgeschichte zum Thema Trennung

von  StillerHeld

Wutentbrannt stieß er unter Zuhilfenahme von Händen und Füßen die Autotür auf, sodass deren Unterkante den Schneewall am Straßenrand rammte. Sein erregter Atem kondensierte an der ins Wageninnere stürzenden kalten Winterluft. Ihr Schweigen zögerte eine Zeitlang, dann warf es sich auf ihn, und das empfand er als schmerzhafter als jede heftige Widerrede. Seine Miene drückte zornige Resignation aus, als er schwunghaft und bestimmt dem Wagen entstieg. Mit unerwarteter Beherrschtheit schlug er die Beifahrertür zu. Herabtanzende Schneeflocken setzten sich auf seine Wangen, schmolzen zu dicken Tropfen und ersetzten ihm die Tränen, zu denen er sich nicht fähig fühlte.

Schmerzhaft lange lief der Motor im Standgas, doch schon stellten sich die angelaufenen Scheiben des Wagens zwischen sie, und als dieser anrollte, war die Trennung auf beiden Seiten vollzogen.

Himmel und Erde schienen sich vereinigt zu haben. Konturlos weiße Welt umgab ihn, sie war dabei, sich unter einer dicken Schneedecke zu vergessen. Nur er konnte nicht vergessen, stand noch immer an derselben Stelle und die verstörenden Ereignisse tobten in Kopf und Herz.

Mechanisch packte er schließlich seine Wut in den ersten Schritt, der im vereisten Nirgendwo einer Landstraße reichlich sinnlos erschien. Irgendetwas trieb ihn querfeldein, weg von der zielschwangeren Straße.

Er konzentrierte sich auf den Rhythmus seines Atems, während sich seine Stiefel mit synthetisch anmutendem Knarren und Quietschen den Weg durch die wadenhohe Schneedecke eines sanft ansteigenden Geländes gruben. Mit eingezogenen Schultern kämpfte er sich durch die bedrückende, bleierne Stille eines nichtssagenden Winternachmittages. In ihm und um ihn war alles ins Bedeutungslose geschrumpft. –

Frühling. Herrlicher, lebenssprühender Frühling. Geburtstagsparty bei einem Arbeitskollegen. Sonnenstrahlen dringen durch frischbelaubte Baumkronen in den Raum und werfen blinkende, flirrende, tanzende Muster an Decken und Wände. Verheißungsvoll locken Vogelstimmen von draußen. Und fröhlich redet eine Schar lebenslustiger junger Gäste durcheinander.

Er ist in ihrer Mitte; sie steht ihm gegenüber, kaum drei Schritte entfernt. Gerade hat er sie in eine kontroversielle politische Diskussion verwickelt, das Klima wird hitzig, und sie fährt mit der Rechten in ihrer unnachahmlich energischen Art durch die kupferfarbene Haarpracht. Doch ihre Augen lachen und nehmen der Situation den Ernst. Der zweite Cocktail jagt den ersten, und er weiß später nicht mehr wirklich, was an jenem Abend gesprochen, gelacht, getanzt und geflirtet wurde.

Von diesem Tag an sieht er sie jedenfalls immer wieder. Ihren Zusammenkünften entwächst in zunehmendem Maße Vertrautheit; unvergesslich bleibt ihm die erste zärtliche Berührung, voll gefährlicher Spannung und doch so unvergleichlich vertraut.

Nässe steigt ihm in die Stiefel, doch seine Wangen bleiben trocken. Er hält inne. Seine Miene regt sich zum ersten Mal. Er beißt sich auf die kältestarren Lippen, fragt sich, was sich geändert hat seit damals. –

Winterliche Vorstadtidylle. Geräumte, gestreute, sichere Straßen und Gehsteige. Rundum gleichförmige Einfamilienhäuser, überladen mit aufdringlicher, unästhetischer Weihnachtsdekoration. Sie holt ihn wie gewöhnlich pünktlich mit ihrem Auto ab, man begrüßt sich lieb, ein flüchtiger Kuss kalter Lippen auf die Wange, grausame Gewohnheit.

Auf der Fahrt zu ihren Eltern regiert schweigende Spannung, dann drängt sich ein bemüht belangloses Gespräch in die unerträglich gewordene Stille. Aus Nichtigkeit bricht Streit aus. Eklat, kreischende Bremsen, seine Flucht in die Kälte.

Was hat sich geändert? Die Frage brennt unbeantwortbar in ihm, Schmerz lodert auf, sein Körper krümmt sich plötzlich im Schnee, wirbelt weiße Kälte um sich. Hilflos rudern Arme und Beine und suchen Halt, wo außer amorpher Schneefläche nichts ist. Dann bricht es wie mit Messerklingen aus ihm heraus, er stöhnt und schreit sein Elend in animalischer Reinheit in die Wildnis, vergeblich wartet er auf Trost, Zuwendung oder zumindest Erleichterung.

Schließlich wird es müde in ihm, kalt und leer. Da erhebt er sich kälteglühenden Gesichts von der zerwühlten Kampfesstätte, säubert Frisur, Kragen und Mantel notdürftig vom Schnee, und als er sich umwendet und seinen kaum zugeschneiten Spuren zur Landstraße folgt, fühlt er, als ob etwas in ihm gestorben wäre.

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