Die Mail, die Paul A. ein fast 63- jähriger Senior, bekommt ist kurz und schlicht: „Lieber Paul, ich habe noch einmal eine Weiterbildung angefangen, muss am Wochenende viel tun. Würde mich freuen, wenn Du mich am Sonntagnachmittag besuchen würdest, möchte nach dem Lernen reden: Mit Dir, Gruß Lisa.“
Sie war es also, Lisa, Mutter von zwei Kindern, geschieden und gescheit. Schon über ein Jahr traf man sich morgens im Zug, um gemeinsam eine Viertelstunde über das zu reden, was man Alltag nennt. Die Gespräche waren oft laut, spontan, die Zeit schafft Sympathien - oder auch nicht. Bei einer eher unüberlegten Bemerkung sprach Paul von einem Mann für gewisse Stunden und schaute sie an. War das der Auslöser für die unerwartete Mail? Er fand später seine Bemerkung unpassend, war er doch der Älteste in der Runde. Er, der so genannte Alt 68-er, auf vergilbten Fotos mit “Che“ Bart, selbstverständlich links oder was man damals darunter verstand. Zeit des Aufbruchs? Gewiss und notwendig! Das Vakuum nach der Katastrophe des Krieges wurde aber von falschen Moralisten eilfertig aufgefüllt. Aber auch die neue, kriegslose Zeit, sieht er zunehmend mit Skepsis. Neue Führer, neue Diktaturen, attackieren die sogenannte freie Welt: Verschwendung, Habgier, Scham- u. Maßlosigkeit.
Es sind die Bilder am Strand eines muslimischen Landes: Frauen im Sarong tanzen in der Brandung und daneben der sonnenverbrannte Busen einer Weißen, bloß und geil. Morgens in der Bahnhofshalle streckt eine digital verstümmelte Schönheit ihm ihr hüllenloses Hinterteil entgegen mit der Aufforderung, einen Privatsender einzuschalten. Wahrscheinlich ausgesucht von fettleibigen Strategen in klimatisierten Büros, angebliche Herrscher über unzählige Dateien.
Es sind die Kinder Afrikas, die er an den Straßenrändern im Staub gesehen hat, und die übervollen Eisbecher, die von seiner Generation auf sonnenbeschirmten Terrassen bewusst- und maßlos vertilgt werden.
Er klingelt, sie erwartete ihn, schließt die Tür, schaut ihn an, lächelt und schlingt ihre Arme um seinen Hals. „Schön, dass du gekommen bist“, zieht ihn sanft nach unten, sucht seine Lippen.
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Kommentare zu diesem Text
Graeculus (69)
(06.11.17)
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