Dein angeknabberter schwarzer Kapuzenpulli, der Nasenring, die bebende Lippe in den sozialen Unrechtsdiskussionen. Dein Hamburger Hochdeutsch, das schallende Gelächter bei unverschämten oder doofen Kommentaren der Kommilitonen. Und dann fährst du hoch, aber so richtig. Du bist voll auf meiner Welle. Die Kontaktschwelle ist sehr gering, schon bald sprechen wir miteinander. Ein paar Monate später komme ich häufiger vorbei. In deiner WG gibt es einen großen runden Tisch, der mit kaltem türkischen Kaffee, 1,5 l Wasserflaschen und drei Aschenbechern beladen ist. Ich fühle mich wohl. Abends stecken Kerzen in den leeren Flaschen, in den vollen ist Merlot.
Der Anfang unserer Freundschaft war so: Wir wollten nach der Sartrevorlesung einen Glühwein trinken gehen. Es war eine lose Verabredung, nach zwei Wochen dann fix ausgemacht. In der Zwischenzeit hat sich meine katastrophale Beziehung zum finalen Ende hin entwickelt. Glücklicherweise. Von dir lerne ich später den Begriff Glücksdepression. So fühlt sich das an, als ich ihm am Telefon sage, dass ich Schluss mache. Es hat einige Wochen und Tage Anlauf gebraucht, aber ich schaffe es. Ich entferne mich aus meinem Gefühlsmorast und erhebe mich in diesem einzigartigen Moment. Er vergeht allzu schnell, als er sagt, er steige sofort in den Zug. Fünfeinhalb Stunden später ist er da, er hat es sogar fertig gebracht die Tramlinie und Haltestelle rauszusuchen. Erstmals ohne mein Zutun. Die Woche, die er dann an mir klebt, ist psychodelisch. In der Hochschule ist mein Leben weiterhin normal. Du sprichst mich darauf an, dass bei euch jeden Sonntag Tatortschauen ist und die Pizzeria gegenüber deiner WG das passende Essen liefert. Ich sage zu, ist ein tolles Konzept. Klingt beruhigend. In meiner Wohnung fühle ich mich gehäutet, blank. Er will mich davon überzeugen, dass er jetzt auf mich aufpasst. Er streicht mir fahrig durchs Gesicht, wenn ich sage, dass ich nicht gerettet werden muss. Ich mache, was er braucht, damit wir es irgendwie aushalten. Besorge Kamillentee, die Vollmilchschokolade, Fruchtzwerge und immer ist da das Hintergrundrauschen durch den Fernseher. Ich kenne seine Gewohnheiten. Morgens bis nachts der Fernseher. Ich fühle mich stumpf, als er mit seinen diffusen Händen an meinen Armen herum streichelt und wir anschließend Posex haben. Er hat meine Pille verlegt. Das ist schon eine billige Art, mich zu halten. Außerdem müsste ich mich dann auch mal umdrehen.
Immer wieder suche ich Vorwände, um wieder einkaufen zu gehen, vergesse absichtlich die Milchbrötchen. Als hätte ich es gewusst, kaufe ich einmal noch zwei Flaschen Merlot. Ich will mich verlaufen. Dann wieder der Weg zurück, sein Gesicht zerstört und verwundet, seine Hände suchen und werden nichts mit mir anfangen können. Er nimmt sich meinen PC und schaut auf studi.vz nach Mädchen in einem anderen Bundesland. Jetzt wo er da ist, rieche ich ihn überdeutlich. Es komprimiert sich alles in dieser Einzimmerwohnung und meinem Versuch, es zu beenden. In einem Moment, als er etwas von seinem Onkel erzählt, der ihm eine schwere Lebenslüge aufgebürdet hat – irgendeine wirre Geschichte seiner Vergangenheit, die ich nicht mit den anderen Geschichten verbinden kann – sitze ich am Boden, umarme seine Beine, rieche ihn, und habe das Gefühl, jedes einzelne Härchen lieben zu können. Wenn ich mich um entscheiden würde. Und dass meine Nähe ein paar Dinge reparieren könnte. Ich ertrage diese Nähe nicht. Mein Bauch rebelliert, auch wenn ich niemals brechen würde. So lange hier der Fernseher labert, läuft alles weiter irgendwie. Mein Telefon klingelt andauernd. Ich habe meinen Eltern gesagt, dass ich ihn verlassen habe und sie wollten vor Erleichterung kommen, nach ihrer Arbeit, er war dann aber schneller. Ich kann nicht reden, hier ist die ganze Wohnung besetzt. Hätte ich schon deine Nummer, würde ich dir vielleicht eine SMS schreiben. Wenn ich auf dem Klo bin. Meine beste Freundin, wohnt 300 km weit weg. Zu weit.
Immer wieder sitzen wir stumm da, warten ab. Dann schieben wir uns kleine Zettel zu. Da wiederhole ich meine Bitte, er solle gehen. Es ist einfacher, zu schreiben.
Als ich malwieder einkaufen gehe, finde ich beim heim kommen eine leere Wohnung vor. Ich bin mit einem Mal starr. Setze mich auf den Stuhl, fasse den Fernseher an, ob er noch warm ist. So haben unsere Eltern früher mal kontrolliert. Ich weine vielleicht. Er klingelt 20 Minuten später. Er nimmt mich eng an sich, umarmt mich, als gebe es nur noch uns. „Denkst du wirklich, ich verlasse dich?“ Seine Tasche ist hinter dem Sofa versteckt. Wir machen es verzweifelt. Danach bin ich traurig und zärtlich.
Am nächsten Tag sind wir auf dem Weihnachtsmarkt verabredet. Er bringt mich morgens zur Haltestelle. Ich stecke ihm einen letzten deutlichen Brief in der Tram zu. Dass er innerhalb des Tages den Zug nach Hause nehmen muss. Dass ich nicht nach Hause komme. Ich habe keine Tasche mit Unterhose und so eingepackt, weil ich auf dem Weg zur Tram unauffällig sein wollte. Den Brief gebe ich ihm in dem Moment, als er mir beide Hände drückt und ich „Tschüss.“ sage. Er noch einmal mit diesem verdammt intensiven, verlorenen Blick. Ich will kotzen. Jede weitere Minute Fahrt, Fußweg zur Hochschule, Treppengang, bekomme ich Aufwind. Irgendwie fängt jetzt das große Leben an oder so. Aber ich bin auch noch von Angst getrieben. Ich bin in einem schrägen Zwischenraum, einem Fenster.
Deine strähnigen Haare beruhigen mich. Ich bin nervös, als wir uns in der Vorlesung sehen. Ich erkläre dir nur im Ansatz, was mich umtreibt. Meinen losen Plan. Dass ich noch Kaffee trinke oder in die Bib gehe nach den Vorlesungen. Dass wir sehr viel Glühwein trinken können, vor allem lange. Dass ich nicht nach Hause möchte. Dass er da ist und weg muss. Bei jeden meiner erst knappen, dann verzweifelten Sätze schaust du mich ernster an und reagierst wie eine Art Notfallsanitäter. Mit ruhiger Stimme und einer Hand auf meiner Schulter. „Du kannst bei mir pennen.“ Auf dem Weihnachtsmarkt bin ich ganz Glühwein. Warm und rot. Du spendierst, ich spendiere, wir lassen es ein bisschen krachen. Irgendwie will ich gegen 21 Uhr doch zu mir. Ich finde den Gedanken beschissen, dass er auf meinen Sachen sitzt und ich ausgesperrt bin. Ich will keine Angst vor meiner Wohnung haben. Bis dahin haben wir uns abgelenkt. Du hast mir Sachen aus deinem Leben erzählt, das ziemlich locker daherkommt. Auf den ersten Blick, im Vergleich zu meinem. Aber mit dem Humor, der auch mir über die Runden hilft. Wir haben viel gelacht. Ich klinke mich in deinen Arm ein, als wäre das schon lange so. Und so kommst du dann auch mit. Du bist da an diesem Abend. Es ist kalt und wir haben keinen Wegewein, unsere Gespräche werden nüchterner und ernster. Ich rede mich zeitweise Panik und lade den Wust an Beziehung ab, der mich so auffrisst. Du hörst zu und ich finde, du bist wie meine Löwenmutter. Du wirst so richtig sauer auf ihn. Ich bin mir sicher, dass du mich verteidigen wirst, wenn er mir noch einmal etwas tut. Um 22:30 Uhr stehen wir vor meiner Wohnung. Ich komme nicht ganz die Treppe hoch, es ist zu schwer. Du stehst aber da. Ich reiche dir meinen Schlüssel. Du machst auf. Da ist nichts mehr. Ich schreie fassungslos. Ich feiere in deiner Umarmung.
Wir drehen Musik auf. Du zeigst mir deine Favoriten auf youtube, wir tanzen und trinken. Irgendwann wird alles schwer und leicht und schwarz. Du legst dich zu mir ins Bett, streichst über meinen Arm, ich schlafe ein. Ich bin mir sicher, ich habe dir ein Shirt zum Schlafen angeboten. Du wolltest nicht. Am nächsten Morgen, als ich leise aufstehe und Kaffee mache, sitzt du mit einer Bewegung kerzengerade auf der Matratze. Ich setze mich dazu, wir essen Milchbrötchen und wieder verzichtest du auf ein frisches Shirt. Dann gehen wir los.