"Vergiss das Zelt nicht", meinte meine Frau noch zu mir, während wir unsere Sachen für die zwei Wochen Berg- und Seeluft packten. Ich fragte verdutzt: "Für was brauche ich ein Zelt?" Sie lächelte mich an und ich verliebte mich einmal mehr in sie. Ihr Lächeln gab meiner Vorfreude auf die lauernde Winterwildnis einen Hauch sommerliche Gelassenheit. "Fabian will dich nur daran erinnern. Er möchte nur sichergehen, dass du dein Vorhaben bestätigst", erklärte sie im Vorbeigehen. Auf meine Ausrüstung blickend, ratterten verschiedene Szenen nebeneinander in meinem Kopf rückwärts. Irgendwo musste ein Missverständnis liegen, denn ein Zelt kam in meinen eher wilden Plänen gar nicht vor. Schlussendlich tauchte die Männerrunde am letzten Donnerstag vor meinen inneren Augen auf und ich hörte mich begeistert über meine Zeit in den Wäldern zwischen Bergen und Seen sinnieren. Die Abenteuerlust schien bei einigen Anwesenden aufzukochen, denn verschiedene Stimmen nahmen die Einladung ernst mitzukommen. Fabian war einer von ihnen. Von einem Zelt war aber nie die Rede. Ich beobachtete meine Frau, wie sie sorgfältig die Taschen und Säcke füllte und wahrscheinlich schon zum siebten Mal alles überblickte, nur um sicher zu gehen, dass alles nach Plan lief. Wie sollte ich Fabian am besten aufklären und viel gewichtiger drängte sich eine andere Frage an mich heran: wie sollte ich das Ganze meiner eigenen Frau erklären? Bis jetzt schob ich dieses Gespräch gekonnt vor mich her. Ihr stetes und vollstes Vertrauen mir gegenüber schwappte etwas Behaglichkeit in mein unhörbares Seufzen.
Ein paar Tage später sass ich im Büro unseres Seehauses und tippte bei gedimmtem Bildschirmlicht Zeile für Zeile. Ich hörte das Gelächter von unseren Gästen im Wohnzimmer. Mir half dieser Rückzug ein wenig, um meine Gedanken nicht nur zu ordnen und mich auf den kommenden Aufbruch vorzubereiten, sondern auch um dieser halben Herausforderung eine Prise Bedeutsamkeit beizufügen. Ich war zwar zuversichtlich, dass alles schon irgendwie klappen sollte, aber Gefahren würden sich bekanntlich um die übereilten Handlungen der Stolzen scharen und das Leben würde ergrauen vor Ignoranz und Selbstverständlichkeit. Ich sollte mit dem Schlimmsten rechnen, aber die Hoffnung auf das Beste wollte ich behalten. Tief einatmend lehnte ich mich auf meinem Stuhl zurück und sippte an meinem Mitternachtskaffee. Plötzlich rief mich meine Frau und fragte mich höflich, aber mit gedehntem Bitten, ob ich die Sitzecke zu einer Liegefläche umnutzbar machen könnte. Diese liebe Aufforderung liess ich einen Fragment einer Sekunde unbeantwortet, weil ich gedankenverloren noch abzuwägen versuchte, wie wichtig oder dringend dieses Anliegen sein mag. Ungeduldig streckte sie ihren Kopf mit ihren schwarzen zusammengeknäuelten Haaren zwischen den Türrahmen und wiederholte ihre Frage. Sie war begabt darin, mir auch gegen meinen momentanen Willen einen Grund zu geben für sie zu kämpfen und mich wichtig zu fühlen. So liess ich meine Liebe für sie in Hilfsbereitschaft ausdrücken. Sie bedankte sich herzlich bei mir und ich freute mich natürlich. Auf dem Weg zurück ins Büro wurde mir klar, dass dieses neu erworbene Seehaus ihr liebevolles Vorhaben verkörperte. Die Früchte des monatelangen Einrichtens der einzelnen Zimmer und die damit verbundenen Autofahrten von der Stadt auf das ländliche Gebiet wurden immer geniessbarer. Das Haus war ein im Alltag versunkener Traum, der erst im letzten Jahr geborgen werden konnte, mit einer herzhaften Vision neues Leben eingehaucht bekam und nun wahr wurde. Meine Frau war das Herz dieses Hauses und darin pulsierte der Wunsch Menschen einen Ort zu bieten, an dem Gäste zur Ruhe kommen durften um nach dem Aufenthalt gestärkt die tagtäglichen Herausforderungen des Lebens zu meistern. Mit viel Liebe wählte sie jedes Möbelstück aus und verlieh schon in den Anfängen des Seehauses ein heimisches Ankommen. In diesen letzten Tagen des Jahres 2020 wurde im Verborgenen ein Hafen errichtet, der während der Maskentrage- und Distanzeinhaltspflichten nur darauf wartete, Menschen mit Ruhe und Kraft für die Weiterreise zu versorgen. Dankbar einen Beitrag dazu leisten zu dürfen umarmte ich meine Frau. Ihr flüsterte ich, mit sanftem Nachdruck in der Stimme, ins Ohr: "Danke für alles, mein Schatz". Mein Blick wanderte zum Fenster, dahinter verbarg sich der schwarzfinstere Berg, dessen kalte Nächte ich noch zu trotzen hatte. Ich verspürte die Bereitschaft den Funken Leben, das ich entdeckt hatte, in dieser dunklen Wildnis aufleuchten zu lassen. Den Satz "Ich bin immer für dich da" liess ich bewusst nicht über meine Lippen kommen.
Dieses Werk widmete ich allen unbekannten Personen, mit denen ich noch keine Worte gewechselt oder denen ich keines Blickes gewürdigt, keine Hand oder Schulter angeboten, noch Gehör verliehen hatte. Für sie ging ich mit leichtem Gepäck in die ungewissen Winternächte, ohne Zelt, aber mit dem was ich war und mit dem was ich hatte. Ich wollte damit nur zeigen, dass ich das alles, was ich bisher erreichte, nicht alleine vermochte. Das war der Grund, warum ich immer wieder bereit war, mich auf Durststrecken zu begeben um etwas zu entdecken, das sich für viele wie ein langersehnter Regen zeigte. Für diese Reise brauchte ich die Hilfe von vielen Personen. Es war nie selbstverständlich, dass wir alles überlebten. Ich glaubte auch nicht daran, dass wir nur zum Überleben geboren wurden, sondern dass wir in die Tiefen des Lebens tauchen sollten. Manchmal brauchte es Personen, die voransanken, nicht um zu zeigen wie aussergewöhnlich sie waren, viel mehr um die Unabhängigkeit des Bekannten vorzuleben. Sie bewegten sich in anderen Tiefen und ihre aufsteigenden Luftblasen waren für andere Zeichen der Hoffnung, damit sich noch andere in die Ungewissheit trauten. Vielleicht nur weil sie für kleine Lebenstückwerke kämpften, das in der Ganzheit für alle gedacht war. Ich war gewillt tiefer zu tauchen und dabei Personen zu ermöglichen weiter zu kommen, als ich es selbst geschafft hatte. Auch nach einigen aufgebauten Schulen, Firmen, Teams, Initiativen und Projekten, kam ich nie an Menschen vorbei. Sie handelten aus Liebe und Fürsorge, vertrauten einander um Schulter an Schulter gemeinsam einen Weg zu gehen, sie durchblickten mit Zuversicht jedes noch so grosses Hindernis. Jedes gelernte Bisschen wurde ein Festmahl für viele, die in den Jahren sich noch zu Tisch setzten. Jede einzelne Nacht in der Wildnis, die vor mir lag, wäre eine Chance für andere um Jahre der Finsternis hinter sich zu bringen und die kommenden Tage nicht nur aufzublasen, sondern mit dem zu füllen, was Hohes und Tiefes überwinden konnte: Dem Leben in Person immer wieder begegnen zu dürfen.