Dostojewskis Die Brüder Karamasow lesen

Bericht zum Thema Literatur

von  Jedermann

Ich habe Dostojewskis Romane und Erzählungen als junger Erwachsener gelesen. Damals entwickelte ich ein regelrechtes Suchtpotenzial für seine Schriften und las viele seiner Werke mehrfach. Nach meiner dritten Lektüre der Brüder Karamasow innerhalb eines Jahres schüttelten mehrere Bekannte über soviel Verbohrtheit nur noch die Köpfe und wiesen mich darauf hin, dass es noch andere Bücher gäbe, die ich lesen könnte. Dagegen hatte ich ja auch nichts einzuwenden, aber in den Karamasows erschloss sich für mich die Komplexität der menschlichen Psyche.
Die Hauptgeschichte rankt um den alten Possenreißer mit seinen drei so charakterlich verschiedenen Söhnen Dimitri, Iwan und Aljoscha und seinem vierten Sohn, смердящий dem Stinkenden. Darin webt Dostojewski viele weitere Geschichten ein, lässt sie eine gewisse Zeit parallel laufen, führt sie zu Gemeinsamkeiten oder voneinander weg; darin ist er der Meister. Die charakterlichen Dissonanzen der Personen bestimmen die Handlungen, ein auf und ab menschlicher Abgründe und Größe führt zu verblüffenden Entwicklungen in den Geschichten, darin ist er ebenfalls der Meister.
Die Auseinandersetzung mit dem Glauben und den gesellschaftlichen Zuständen in Russland sind Kernthemen um die sich die Handlung rankt. Die Glaubensfrage wird in drei Episoden besonders eindrucksvoll behandelt.
Im Kapitel Empörung konfrontiert Iwan seinen jüngeren gläubigen Bruder Aljoscha mit dem Bösartigsten was Menschen anderen antun können. Er schildert wie ein Gutsbesitzer wegen eines kleinen Vergehens seine Jagdhunde auf ein Kind hetzt und dieses vor den Augen der Mutter zerfleischen lässt. Dann fragt er den Bruder „Was soll man mit ihm tun?“
Im Kapitel Der Großinquisitor kommt Jesus noch einmal auf die Erde zurück. Es ist die Zeit finsterster Inquisition, die Scheiterhaufen lodern in jeder Stadt und Jesus wird natürlich als Ketzer sofort eingesperrt. Der Großinquisitor macht Jesus unmissverständlich klar, nicht die Menschenliebe und die Freiheit sind notwendig um die Menschen glücklich zu machen, sondern die Macht. „Wir geben ihnen das Brot, welches sie im Schweiße ihres Angesichts erarbeitet haben. Und, sie sind uns dankbar dafür!“ „… es wird damit enden, daß sie ihre Freiheit bringen, sie uns zu Füßen legen und uns sagen: „Versklavt uns lieber, aber ernährt uns.“
In Iwans Alptraum redet dieser mit dem Teufel. Dort wird die Sicht gedreht und der Atheist Iwan spricht zu sich im Nervenfieber, „Obwohl du siehst, glaubst du nicht!“
Dieser Roman Dostojewskis hat mich tief berührt. Kein Satz war zu langatmig, keine Geschichte langweilig. Die Novelle vom Großinquisitor – nicht ohne Grund wird diese auch separat verlegt – stellt für mich den beeindruckendsten philosophisch-literarischen Disput über den Glauben und die menschliche Freiheit in Form des Monologs des Großinquisitors dar; denn Jesus kann nichts mehr hinzufügen, er hat bereits alles gesagt.
Selbstverständlich werden heutzutage junge Menschen nicht mehr mit dem Glauben ringen, dennoch, die Themen Menschlichkeit und Freiheit werden wohl eine Rolle im individuellen Reifeprozess spielen.
Nun sind 140 Jahre seit der Erstveröffentlichung des Romans vergangen und die Sprache ist in stetem Wandel begriffen. Durch neue Übersetzungen bleiben Werke für das Lesepublikum länger attraktiv, aber keine Übersetzung kann die Weitschweifigkeit und Ausführlichkeit der Episoden einer sich ständig verkürzenden Sprache anpassen ohne deren Inhalt zu zerstören.
Dostojewskis Romane haben mehrere Generationen von Lesern begleitet und nachfolgende Schriftsteller wurden durch seine Werke inspiriert. Sein, aus meiner Sicht, großartiges Werk ist somit nicht verloren. Auch wenn er immer weniger gelesen wird und eines Tages vielleicht gar nicht mehr, schillern seine Gedanken in den Romanen anderer jüngerer Autoren durch.
Bücher können Menschen in der Jugendzeit und der Zeit des jungen Erwachsenen ganz besonders stark prägen, eine Binsenweisheit. Ich hatte damals meinen Dostojewski!


Anmerkung von Jedermann:

Entgegnung zu den Texten von  Mondscheinsonate

 Die Brüder Karamasow - Dostojewski und  Die Brüder Karamasow-weiter geht es!

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Kommentare zu diesem Text


 EkkehartMittelberg (25.06.21)
Hallo Jedermann,
wie du dem folgenden Sonett entnehmen kannst, teile ich deine Begeisterung für Dostojewski und die Brüder Karamasov

Ein Titan
Sonett zum Thema Charakterisierung/ Charakteristik

von Ekkehart Mittelberg
Aus Sucht und Leiden ist dein Werk entsprungen.
Sibirien konnte deine Kraft nicht rauben,
gestützt auf deinen unbeirrten Glauben,
ist „Schuld und Sühne“ grandios gelungen.

Ein Panorama großer Charaktere
und Weltensichten in der Zarenzeit,
die Revolution ist nicht mehr weit.
Vorausgesehen hast du ihre Leere.

„Der Idiot“, „Die Brüder Karamasov“,
„Dämonen“, "Spieler" hast du hinterlassen,
als Seelenspiegel von besondrem Stoff,

die Innenwelt mit ihnen zu erfassen.
Wer kann vergessen den Raskolnikoff?
Dein Dichter-Nachruhm, nie wird er verblassen.

© Ekkehart Mittelberg, Mai 2012

LG
Ekki

 Jedermann meinte dazu am 26.06.21:
Hallo Ekki, ich danke für deinen Kommentar in Form dieses gelungenen Sonetts.
AdaGro (49)
(16.03.23, 16:32)
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