Margarethe war nicht die erste ältere Frau bei der ich landete, denn immerhin lebte ich zu dieser Zeit davon. Aber: es war die erste Frau in dieser langen Schlange von übermäßig geschminkten Fratzen, die mir trotz allem das Gefühl gab ein Mensch zu sein, und nicht nur das Objekt ihrer Begierde. Deshalb hat sie sich, unter anderem, einen ewigen Platz in meinen Erinnerungen gesichert. Hatte sie mir doch, neben Achtung und Respekt, sogar fast einen Hauch von dem, was die Leute so Liebe nennen, abgerungen.
Was sie für mich empfand stand relativ schnell fest. Obwohl ich das in meinem Leben nicht selbst kennengelernt hatte, möchte ich es an dieser Stelle als Mutterliebe bezeichnen. Jedenfalls stellte ich sie mir so vor, die Mutterliebe.
Was mir als erstes zur unserer Zeit wieder einfällt ist, dass ich gerne eng an ihre Seite geschmiegt, mit dem Kopf auf ihrer Brust, einfach nur so mit ihr zusammen auf dem Sofa war. Im Hintergrund lief meist ein Klavierkonzert und ihr Atem ging ruhig und flach. Und ihre Hand, die mich gedankenverloren streichelte. Ach, und diese unnachahmliche Geste, mit der sie mir in ihrer ruhigen Art sanft mein langes Haar aus dem Gesicht schob, um mir besser in die Augen sehen zu können. Ich war dann in einem Zustand, den ich 'zu Hause sein' nannte. Wie ich mir jedenfalls ein Zuhause so vorstellte, zu jener Zeit.
Stundenlang lauschte ich geduldig ihren Worten, ohne den Inhalt je wirklich zu beachten. Aber sie sprach ja auch nicht mit mir, sie meinte Ludgar – ihren Sohn, den sie, noch bevor er 17 wurde, an eine Überdosis verlor. Sie hatte mich dazu auserkoren all das, was sie ihrem Ludgar nicht mehr geben konnte, zu geben. Sie quoll förmlich über vor Liebe, Fürsorglichkeit und Aufmerksamkeit, so dass es mir schon fast wieder zur Last wurde – zumal ich nie vergaß, dass es ja nicht wirklich mir galt.
Sie kleidete mich neu ein, und machte mich auf Kunst und Kultur neugierig.
"Du musst wirklich nicht alles wissen, aber wenigstens ein paar 'kluge Sätze' von Dir geben können, egal um welches Thema es geht. Wenn Du dabei überzeugend bist, dann wird keiner weiter nachhaken, da sie meist selbst keine Ahnung haben, nur Allgemeinplätze von sich geben", lächelte sie mich ermunternd an, während sie ein Buch aus dem Regal zog und mir in die Hand drückte.
Bei ihr lernte ich klassische Musik kennen und zu schätzen, die Epochen, Gemälde und Künstler zu verstehen und auseinander zu halten. Viel meiner freien Zeit verbrachte ich bei ihr und damit, ihr Bücherregal zu plündern. In erster Linie fraß ich die Bücher in mich rein, um mich selbst damit aus meiner Ahnungslosigkeit zu befreien, andererseits aber auch um ihr zu gefallen. Es sollte ihr nicht länger peinlich sein müssen, dass ich immer völlig ahnungslos war, wenn es mal nicht einfach nur um den Überlebenskampf ging.
Sie ging dann mit mir in die Musikhalle in Hamburg zu Klavierkonzerten, schleppte mich durch Museen von denen ich gar nicht wusste, dass es sie überhaupt gibt. Dafür zeigte ich ihr im Gegenzug meine Welt, ließ sie mitkommen in die dunklen Ecken der Stadt. Sie wollte unbedingt die Szene, die aus ihrer Sicht ihrem Sohn das Leben gekostet hat, kennenlernen.
Jahre später erfuhr ich dann, dass sie, nach unserer Zeit, eine Einrichtung mitgegründet und finanziell unterstützt hatte, die sich um Straßenkinder in Hamburg kümmerte. Ja, sie war schon etwas ganz besonderes, schon die Art wie wir uns kennen lernten hatte es in sich.
"Du siehst so verloren aus, so wie Du hier sitzt ... ich musste einfach zu Dir an den Tisch kommen. Es stört Dich doch nicht, wenn ich mich kurz zu Dir setze, oder wartest Du auf jemand bestimmten und ich verderbe Dir damit Deine Tour", fragend, hatte sie sich einfach zu mir an den Tisch gesetzt. Schon das war mehr als ungewöhnlich, denn eigentlich dienten den Frauen die Tischtelefone, die hier an jedem Tisch vorhanden waren, dazu Kontakt zu einem Herren ihrer Wahl aufzunehmen.
Besonders erwähnenswert ist weiterhin, dass ich zu diesem Zeitpunkt auf dem Kiez im 'Café Keese' am 'Stecher-Tisch' saß. Dieser Tisch war stets nur für die 'Herren', die den zahlungskräftigen Damen in diesem Lokal 'ihre Begleitung' feilboten, reserviert.
Zu denen gehörte ich auch zu dieser Zeit, wobei ich allerdings der Exot unter all den 'Herren' war. Ich war 'das Kind' unter den 'willfährigen Herren', und wäre wohl ohne die Empfehlung von 'Pierre dem Kellner' überhaupt nicht in dieses Lokal rein gekommen. Normalerweise durften hier lediglich 'Herren mit Schlips und Kragen' ihre Dienste – mehr oder weniger unauffällig - anbieten.