Als mir klar war, dass ich verweigern würde, wurde mir empfohlen, mich in der Friedenswerkstatt am Exer beraten zu lassen. Ich habe keinen blassen Schimmer, wer das anregte, vermutlich jemand aus dem Sportverein oder der Punkszene, denn von der Schule konntest du so etwas nicht erwarten. Ich schaffte es sogar, nüchtern in das kleine Büro auf dem Hinterhof zu gehen und war verunsichert, da ich nicht wusste, was mich dort erwarten würde. Es waren tatsächlich Althippies, die in den Räumlichkeiten eine Handvoll verweigerungswillige Teenager beraten wollten. Die Friedenswerkstatt war hervorragend ausgestattet mit Infomaterial, entweder als DIN A4-Infoblätter oder kleine kopierte DIN A5-Broschüren mit ungefähr 16 Seiten. Diese Broschüren waren nur ansatzweise vergleichbar mit den aus der Punkszene bekannten Fanzines, denn Fanzines waren punkig-chaotisch auf die Geschmäcker der Punkszene ausgerichtet. Das konntest du von den pragmatisch-informativen Blättern und Broschüren der Friedensbewegung nicht behaupten. Die wirkten eher wie geordnete professionelle Printprodukte, hatten jedoch keinen Humor, kein Esprit, kein mitreißendes Design und keine geschnippelten Collagen. Vieles war für mich unlesbar. Die Texte wimmelten nur so vor Polit-Fachbegriffen, die mich eher abschreckten, als dass sie die Hoffnung vermittelten, unbeschadet durch den Zivildienst zu kommen. Ich hatte Angst von den Polit-Hippies indoktriniert zu werden. Mit der Spezies Hippies hatte ich doch schon genug Probleme am besetzten Haus Sopienhof und an der Alten Sattlerei, das Headquarter der Friedrichsorter Hippie Kommune. Außerdem kamen mehrere Lehrer der Gesamtschule aus der linksalternativen Hippie-Szene.
Bei meinen Besuchen mittwochabends in der Friedenswerkstatt am Exer standen immer Kaffeebecher und Kannen mit Heißgetränken bereit. Notfalls wurde noch eine frische Kanne Hagebutten- oder Pfefferminztee aufgesetzt. Kriege gab es auch damals schon reichlich auf der Welt, da musste ich nicht unbedingt mitmischen. Außerdem hatte ich immer noch mein Alkoholproblem und vergleichbare Nachlässigkeiten und Schwachstellen, und plante trotz schlechter Noten demnächst das Abi zu absolvieren. Jetzt musste ich obendrein eine Verweigerung schreiben, in der ich glaubhaft darlegen musste, was dagegen spricht ein Uniformträger zu werden.
Ich wusste ja, dass $abrinas Schäferhund Leik alle Uniformträger ankläffte, ja sogar an gespannter Leine die Zähne fletschte und in Richtung Uniformierte schnappte. Das kann nur ein gesunder Instinkt des Hundes gewesen sein. Langsam dämmerte es: Die einzige Uniform, die ich jemals mit Stolz tragen würde, war die Karate-Uniform.
Ich erfuhr jetzt Mittwoch für Mittwoch zwischen 18 und 20 Uhr alles über die Geschichte der Kriegsdienstverweigerung oder Wehrdienstverweigerung, wie es synonym an anderer Stelle hieß. Uns wurde der Unterschied verklickert zwischen Totalverweigerung und Wehrdienstverweigerung, die Sanktionen, die bei einer Verweigerung nach Antritt des Kriegsdienstes drohten. Uns wurde berichtet von Kriegsdienstverweigerung im Dritten Reich, was mit dem sofortigen Tod geahndet werden konnte, blutige Verweigererschicksale mit Horrorshow Strafen wie Erschießungskommandos, religiöse Gründe und politische Gründe, die nicht akzeptiert wurden und schließlich die Verweigerung aus Gewissensgründen, die für uns, die Kids of the 80s, in Frage kam. Begriffe wie Drückeberger, Wehrkraftzersetzer, Desertation, zivile Verteidigung, ziviler Widerstand, ziviler Ungehorsam, Tyrannenmord und Gewissensprüfung wurden uns zurecht eingeimpft. Bis in die 70er hinein waren Pseudo-Gerichtsverhandlungen mit Fangfragen für die Verweigerer obligatorisch, bis stattdessen schlussendlich schriftliche Verweigerungen akzeptiert wurden. Bis dahin hieß es in Fangfragen:
„Was würden Sie tun, wenn Sie als Verweigerer aus Gewissensgründen in den Wald gehen und sehen wie ein russischer Soldat ihre Mutter vergewaltigt. Vor Ihnen liegt die Kalaschnikow des Russen?“
„Ich würde die Waffe nehmen und den Russen erschießen!"
Wer diese Fangfrage so beantwortete, fiel durch die Gewissensprüfung und musste zum Militär. Zum Glück gab es diese Gerichtsverhandlungen inzwischen nicht mehr.
Uns wurde unter anderem ein ziviles Verteidigungskonzept vorgestellt, das angeblich in der Tschechoslowakei eingesetzt wurde. Bei diesem Konzept würden vor dem Einmarsch der feindlichen Truppen alle Straßenschilder und Verkehrsschilder abmontiert, damit sich der Feind sich in der Stadt nicht mehr orientieren konnte und so auf massive Probleme stieß. Zusätzlich ließen sich weiße Fahnen aus den Fenstern hängen.
Es wurde diskutiert, ob es nicht besser sei, angesichts der Übermacht eines Aggressors sofort landesweit die weißen Fahnen rauszuhängen. So könnten Mord und Zerstörung verhindert werden. Ein weiteres großes Thema war das Konzept des Tyrannenmordes, das legitim sei, sobald eine Führer*in sich Verbrechen gegen die Menschlichkeit schuldig machte oder Angriffskrieg plante. Das Konzept des Mordkomplotts gegen einen Tyrannen wirkte zunächst etwas beschämend, und es schoss mir durch den Kopf:
„Das ist doch lächerlich. Wer den Führer abknallt, stirbt doch selbst Sekunden später im Kugelhagel. Wer will das schon? Das ist doch Selbstmord. Außerdem kriegt doch jeder, der hier solche Mordpläne ernsthaft propagiert von Vater Staat etwas auf den Deckel.“
Der Mitarbeiter der Friedenswerkstatt beteuerte, es gehe darum, größeres Übel zu verhindern, indem ein Diktator rechtzeitig aus dem Verkehr gezogen wird. Dies müsse geschehen, sobald absehbar war, dass der Diktator Verbrechen, Kriege und Killings plante. Es wurde diskutiert, wer einen Tyrannen umbringen könnte, denn nicht jeder kommt an ihn heran, da er mitunter von seinen Schergen und Sicherheitsleuten abgeschirmt war. Und nicht jeder, der als Tyrann oder Diktator betrachtet wird, ist gleich ein Massenmörder oder Kriegstreiber. Als Paradebeispiele dienten immer wieder die Anschläge auf Adolf Hitler, die alle zurecht für absolut legitim hielten, keine Frage, ja sogar für unausweichlich. Zu der Zeit meiner Verweigerung fiel immer wieder der Name des ugandischen Herrschers, bloody Idi Amin, als Paradebeispiel eines afrikanischen Diktators. Gespaltener Meinung waren alle beim Anschlag auf Ronald Reagan. Der Mann trieb zwar das SDI Weltraumverteidigungsprogramm und die Atomaufrüstung mit Pershings und Cruise Missiles voran und war verantwortlich für die Iran-Contra Affäre. Jedoch galt Ronald Reagan bei vielen als ganz normaler US-Präsident ohne Makel.
In der Friedenswerkstatt standen mehrere Ordner mit Verweigerungsschreiben mit geschwärzten Namen der Verfasser. Ich hätte jetzt am liebsten laut Punkrock in der Friedenswerkstatt gehört, die Füße auf den Tisch gelegt, mit meinen alten Punkkumpels Alkohol getrunken und mich herrlich daneben benommen. Diese Gefühle löste das Ambiente der Friedenswerkstatt in mir aus mit Anti-Kriegs-Postern an den Wänden und überzeugenden Anti-Kriegs- und Friedensparolen. Der moderne Punkrock sprach sich in seinen Lyrics ohnehin klar gegen den Krieg aus, ob "Warhead", "The Final Bloodbath", “Tin Soldier“, “Bombs of Peace", "Chemical Warfare", "Last Rockers“, „ABC-Alarm“ oder "Army Life". Inzwischen gab es Tausende von Songs aus der 80er-Punk- und sogar Metal-Szene, welche die Sinnlosigkeit des Krieges anprangerten. Leider gab es eine ganze Reihe von Songs, die eher wie Kriegsverherrlichung wirkten, besonders in den verschiedenen Subgenres der Metal-Szene, und deshalb keine Antikriegslieder waren, sondern Kriegslieder.
Jetzt taten mir die Verfasser der Verweigerungstexte total leid, als die Kopien dieser privaten Verweigerungen an uns junge Leute verteilt wurden, damit wir sie durchlesen konnten. Wir sollten uns ein Bild machen, wie wir die eigenen Texte zu formulieren hatten. Einige der Verweigerungen wurden im Kreise der angehenden Zivis verlesen, bis wir wussten was zu tun sei. Wir wurden auf allerlei Fettnäpfchen hingewiesen. Mehrere der Besucher der Friedenswerkstatt waren unentschlossen, ob sie nicht gleich totalverweigern sollten, was einen Knastaufenthalt zur Folge haben würde.
„Die Leute verbauen sich ihr Leben, sind vorbestraft und ecken überall an.“
„Das wäre mir egal. Auch Zivis sind Teil des militärischen Komplexes und müssen im Ernstfall sogar Blindgänger entschärfen.“
„Das habe ich auch schon gehört.“
Bei diesen beiden Themen, Zivis im Kriegsfall und Totalverweigerung breitete sich grundsätzlich immer Depression aus. Du hörtest Worte der Verzweiflung und Frustration über das System.
Schließlich setzte ich mich an die Schreibmaschine meines Vaters, musste bei jedem gravierenden Tippfehler neues Schreibpapier einspannen, bis ich endlich die vier Seiten Verweigerungstext mit über 1500 Wörtern fertig gestellt hatte.
Zu der Zeit als ich meine Verweigerung schrieb hatte ich wieder massiver Probleme in der Schule. Dennoch schaffte ich es, das Schreiben in den Wochen vor meinem Abi ’88 fertigzutippen und einzureichen. Das war ein ziemlicher Kraftakt. Ein paar Monate nach dem Abi, im August, kam schließlich das Anerkennungsschreiben. In dem Schreiben vom Bundesamt für den Zivildienst hieß es:
„Auf Ihren Antrag vom 13.04.88, festzustellen, daß Sie zur Verweigerung des Kriegsdienstes mit der Waffe berechtigt sind, ergeht folgender Bescheid:
Sie sind berechtigt den Kriegsdienst mit der Waffe zu verweigern. Dieser Bescheid ist unanfechtbar.“
Erleichterung machte sich breit. Ich ging gleich einen Saufen und hing für Monate an der Flasche und rauchte riesen Tüten. Mehrere Mannschaftskollegen vom Fußball, die ebenfalls zu verweigern planten, sich jedoch nicht in die fucking Friedenswerkstatt trauten, entliehen sich meine Verweigerung und kopierten sie einfach. Daraufhin kursierte meine fucking Verweigerung im ganzen Stadtteil, was ich nicht korrekt fand. Immerhin waren mein Name in Verbindung mit den Gewissensgründe immer noch auf dem Papier zu lesen. Daran hätten sich das Kreiswehrersatzamt oder wer auch immer stoßen können, wenn später nicht mehr eindeutig erkennbar gewesen wäre, wer der Urheber der Verweigerung war. Wohlmöglich hätte mir der Vorwurf des Abschreibens oder des Plagiats gemacht werden können. Ich hatte Angst vor Strafe und hakte bei meinen Teamkollegen noch mal nach.
„Sag mal hast du den Text etwa wortwörtlich übernommen?“
„Das weißt du doch nicht!“