Deutsch, schlecht - Komasaufen, gut (Version 2; auktorialer Erzähler, 3. Person)

Kurzgeschichte zum Thema Aufwachen

von  Koreapeitsche

Deutsch, schlecht Komasaufen, gut

(Version 2; auktorialer Erzähler, 3. Person)

 

Always look on the bright side of punk!

 

Eine Vielzahl an Punk-Songs handelte von Selbstzerstörung. Darunter waren Songs wie “Self Destruct“ von GBH, „Das Wahre Leben“ von Cotzbrocken oder „Vakuum“ von Toxoplasma. Wir arbeiteten lange an diesem Thema.

 

            Durch die vielen Alkoholexzesse ließ seine Leseleistung in der Schule drastisch nach, die ohnehin schon schlecht war. Nur bei Comics, Fanzines und Plattencovern war er voll bei der Sache.

      Manchmal sah der Schüler beim Lesen Sterne und Punkte, die gar nicht existierten oder, wenn überhaupt, irgendwo in seiner Imagination, also in seinem Gehirn oder, wie ihm ein Augenarzt später darlegte, im Glaskörper der Augen. Je nachdem nennt sich das Halluzination, Schwebestoffe im Glaskörper oder ganz vorsichtig Leseschwäche.

      Die Gedächtnisleistung des Schülers aus der Punkszene war oftmals eingeschränkt, sodass er gelesene Inhalte entweder nicht behalten konnte, oder sie überlas, weil in seinem Kopf ein anderer Film lief und er sich  nicht auf den Textinhalt konzentrieren konnte und wollte, selbst wenn wir Lehrer ihn dazu zwangen. Er bekam lediglich bei Reizwörtern Kicks, ohne die textlichen Zusammenhänge zu schnallen, geschweige denn einen ganzen Satz zu erfassen. Manchmal assoziierte der No-Future-Kandidat etwas bei gelesenen Wörtern, was seine Gedanken abschweifen ließ. Häufig war er mental schon beim nächsten Besäufnis am Wochenende und beim nächsten Punk-Meeting. Denn das war überlebenswichtig für seine Psyche. Er identifizierte einige Wörter falsch, weil sie ähnliche Buchstabenkombinationen enthielten wie abstrakte und konkrete Gegenstände, für die er sich mehr interessierte – Koma sei Dank. Bei „Punkt“ liest er „Punk“, bei „Poncho“ „Pogo“ und bei „Anapher“ liest er „Anarchy“.

Wahrscheinlich war das eine nicht diagnostizierte Dyslexie oder sogar Alexie oder eine alkoholbedingte Gedächtnisstörung. Er selbst bezeichnete es als das Koma-Sauf-Syndrom. Punkt fertig.

      Schlimmer war es im Englisch-Unterricht. Der Schüler mit den gefärbten Haaren reagierte bald nur noch auf Wörter, die er von Bandnamen, LP- und Songtiteln englischsprachiger Punkbands kannte. Er machte einen richtigen Kult daraus und freute sich, wenn Wörter wie to exploit, discharged oder rejected fielen oder er sie las. Da dachte er an Bands wie The Exploited, Discharge oder Cockney Rejects und konnte sich mitunter minutenlang freuen, bis er aus seinem Punktraum wieder erwachte.  

      Auch beim Schreiben verlor er den Faden, wiederholte sich oder checkte nicht, worum es ging – Komasaufen sei Dank.

Auf dem Pausenhof erzählte ihm jemand, dass bei jedem Vollsuff Millionen von Gehirnzellen zerstört würden.

      „Dann sind bald keine mehr über!“

hieß es danach allzu häufig.

In einigen Schulpausen zerrte der gescheiterte Schüler sich obendrein ganze zwei Zigaretten direkt nacheinander rein, zog an der Zippe wie ein Süchtiger, hielt bei gefüllter Lunge kurz den Atem an, bis der Rauch wie bei einem Stier durch die Nase herausschnaubte. So konnte er das Beste für seine Nasenschleimhäute herausholen. Der Nikotin-Flash reichte bestimmt die ersten zehn bis 15 Minuten des Unterrichts, je nachdem, was für Zigaretten am Start waren. Notfalls roch er noch einmal an den gelben Nikotinfingern, um einen Flashback zu bekommen. Jetzt erst ließ er sich treiben.

      Seitdem der Teenager mit Nervenzucken so unermesslich viel soff, wurde das Schriftbild immer schlechter. Bei den vielen durchgestrichenen Elementen, Buchstaben, Wörtern, Sätzen und Satzzeichen, ja teils ganze Absätze, wirkte der Text wie ein Entwurf, radikal Korrekturgelesen oder im Extremfall wie eine Skizze oder ein Schmierblatt. Bereits beim ersten Schreiben produzierte er Unmengen an Flüchtigkeitsfehlern und Textchaos, was vor allem am Satzbau-Pogo lag. Seine Mitschüler sagten, er habe einen Schaden. Heutzutage würde es heißen Attention Deficit Syndrome.

Umlaute setze er zunächst nicht. Wenn überhaupt erst später, allerdings malte er keine Punkte, sondern schräggestellte Gänsefüße über a, o und u. Das war sein gutes Recht.

      Viele Schreibkonstrukte waren irreparabel, sodass das Blatt Papier am besten gleich im Papierkorb hätte landen sollen. Das war No Fun für uns Lehrer und die Tischnachbarn des Schulpunks. Er tat sich selbst keinen Gefallen damit. Zu allem Übel kritzelte er Micro-Comics in seine Schulhefte. Er malte klitzekleine Punks mit Iros, Skinheads mit fetten Ohrringen, Männeken mit Psychobilly-Frisuren, fliegende Schweine, Fledermäuse, Augen, immer wieder Boots mit dicker Beule vorne, Sprechblasen und das Haus vom Nikolaus. Es war Anarchie auf dem Papier, Chaos im Satzbau. Wenn er schon seine Meinung im Diktat nicht äußern durfte, wollte er trotzdem auf seine Art ein Statement abgeben.

      Beim Schreiben strich er immer wieder Wörter durch, als bearbeite er einen Telegrammtext, der gekürzt werden sollte, schrieb über die durchgestrichenen Wörter andere, die ebenso wenig passten, die deutlich kleiner waren, die er in vielen Fällen ebenso durchstrich. Häufig konnte der Schüler aus der Punkszene seine eigene Schrift nicht mehr lesen, obwohl er sie doch erst wenige Minuten zuvor hingekliert hatte. Irrtümlich schrieb er Wörter doppelt. Das kam auf jeder DinA4-Seite bestimmt zwei- oder dreimal vor: „weil weil“, „durch durch“, „und und“. Da lief kognitiv irgendwas verkehrt. Rechtschreibregeln konnte er sich nur merken, wenn die Lehrerin einen Merksatz daraus machte:

      „Wer nämlich mit ‘h‘ schreibt ist dämlich.“

Das kam bei ihm an. Das konnte dieser schlechte Schüler bei Meetings außerhalb des Sinnzusammenhangs einbringen.                      

      Bei Erörterungen hatte der Pseudo Probleme, seine Gedanken zu sortieren, was sich im Text widerspiegelte, und das nicht nur, wenn er noch vom Vortag einen sitzen hatte. Beim Schreiben gab es Buchstaben, die er grundsätzlich immer verkehrt schrieb oder verwechselte, oftmals d, t, tt und dt. Was er als verkehrt erkannte, kritzelte er Bruchteile von Sekunden später dick und fett über, sodass es nicht nur Deutschlehrer wie mich in Rage brachte. So kreierte er einen neuen Buchstaben, ein d mit einem Querstrich, den es im Deutschen gar nicht gibt, also đ, der soweit ich weiß als Dyet bezeichnet wird. Letztendlich konnten wir Lehrer selbst entscheiden, ob d oder t.

Manchmal war ein Wort noch nicht einmal zu Ende geschrieben, als er erkannte, dass der Anfangsbuchstabe falsch war. Das nervte ihn tierisch, und er stand vor der Entscheidung, einfach weiterzuschreiben oder den Schreibfluss abzubrechen.

Es sah aus wie hingerotzt, wie Appetenzverhalten mit dem Füller, Diagnose Langeweile, als fragte er sich: Wann wird es endlich wieder Samstag? Wann ist endlich das nächste Punk-Meeting in der Wik? Wann kommen die bestellten Pogo-Scheiben von Vinyl Boogie oder Groovers Paradise?

      Es gab Tage, da schaffte der Teenager aus der Punkszene mit seinen Wichsgriffeln nicht einen fehlerfreien Satz. Manchmal stoppte er mit dem Füller um zu überlegen, bis sich das Blatt Papier mit Tinte vollsaugte. Der Schüler besorgte sich blaue, grüne, schwarze und auch rote Patronen und wechselte nach Belieben, um mehr Farbe ins Spiel zu bringen. Es gab deshalb mehrmals Rüffel, bis er konsequent bei Schwarz blieb, auch wenn da der Tintenkiller kapitulierte, was er nicht checkte und trotzdem den Tintenkiller ansetzte. Das gab natürlich eine Sauerei. Geil war es, wenn bei einer Klausur die Tinte immer schwächer wurde, er eine andere Farbe einwarf und die Schrift langsam mit einem Komplementäreffekt die Farbe wechselte. Wenn er später die Umlauttüpfelchen nachtrug, war das ein Heidenspaß und kunterbunt, auch wenn wir Lehrer*nnen später ausflippten. Zusätzlich verschmierte er als Rechtshänder vieles mit der Handkante, was wir nicht aufs Onanieren zurückführen, jedoch auf den Drücker der Carrera-Bahn oder den Atari-Joystick. Irgendwie schaffte er es regelmäßig, Fingerabdrücke zu hinterlassen, was irgendein unterbewusster Prozess gewesen sein musste, aber astrein aussah, als hätten die Cops bei ihm reingefingert.

      Eine weitere Spezialität war, großgeschriebene Wörter, die mit ‘G‘ begannen, automatisch klein zu schreiben, sodass der junge Mann mit einem finalen Kunstgriff wie bei einer geschwungenen Unterschrift ein großes G daraus machte. Das zelebrierte er richtig. Da bleibt ihm fast nichts anderes übrig als später mal einen Punkroman zu schreiben.  

 

Gez.: Referendar D. K.-P. (Berufsverbot seit 1984) und Lehrer T.-B. T.



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Kommentare zu diesem Text

Verlo (65)
(17.01.23, 23:55)
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 Koreapeitsche meinte dazu am 18.01.23 um 02:03:
:ermm:
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