Das war jeden Tag ein Schlag, der eigentlich den Tag, der beginnen sollte, schon zerstörte. Nach seinem Aufwachen. Seit der Diagnose Gehirntumor war er nicht mehr der, der er vorher war. Am nächsten Tag sollte operiert werden. Er hatte Angst, denn er wusste, dass es sich um einen besonders bösartigen Tumor handelte.
Nach der Operation, diversen Bestrahlungen und einem kurzen, sehr turbulenten Aufenthalt in der psychiatrischen Abteilung der Uni-Klinik saß er nach fünf Monaten in seinem Atelier, in dem er seiner Leidenschaft der Malerei frönte, mit deutlich spürbarer Unruhe am Tisch. Ein knochiger, groß gewachsener Mann mit kahlem Schädel.
Während der Zeit der Bestrahlungen musste er immer früh aufstehen. Er hatte sich so daran gewöhnt, dass er jeden Morgen schon um 6.00 Uhr anfing zu arbeiten. Seitdem begann er auch, immer drei Morgenseiten in sein Tagebuch zu schreiben. Er wollte seiner Arbeit Struktur geben weil er nicht wusste wie lange er noch leben würde, geschweige denken könne. Ihm war mehr oder weniger bewusst, dass ihm wohl eher keine lange Lebenszeit übrig bliebe, denn die Ärzte rückten mit der Wahrheit nicht gern heraus.
Sein ursprünglicher Wunsch war es einmal gewesen, Schriftsteller zu werden. Nach einem abgebrochenen Germanistikstudium, das ihm die Lust an Literatur vergällt hatte, schrieb er Essays, die ab und an sogar in einer Regionalzeitung gedruckt wurden. Doch davon konnte er nicht leben. So beschloss er, seine zweite Leidenschaft, die Malerei, zu verfolgen. Kunst war bei einer sehr extravaganten jungen Lehrerin, neben dem Deutschunterricht, sein Lieblingsfach mit besten Noten gewesen. Als schon damals sehr eigensinniger junger Mann hatte er sein Interesse ausschließlich auf die Im- und Expressionisten fokussiert. Spätere Malerei, wie der Kubismus, Dada und die Surrealisten waren ihm immer ein Gräuel geblieben. Doch Künstlerfreunde meinten: Da ist man nur der letzte Arsch, wenn man sich nicht für eine moderne Richtung interessiert, die gerade IN ist. So ist der Kunstmarkt heute. Nur das Geld zählt.
Er machte eine kleine Erbschaft als sein Vater starb, hielt sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser und ging unbeirrt seinen Weg in der Malerei, für die sein Herz brannte. Er adaptierte Künstler wie Nolde, Heckel, Macke, Schmidt-Rottluff, Bonnard, Matisse, Pechstein, Vuillard, Vallotton, Degas und Schiele.
Schiele hatte es ihm besonders angetan und er beschloss das eigens für diesen begnadeten Maler, der leider nur achtundzwanzig Jahre alt wurde, geschaffene Egon-Schiele-Museum in Tulln an der Donau zu besuchen.
Nach seiner Anreise betrat er ein restauriertes Bezirksgefängnis, das 1898 erbaut worden war. In dem Gebäude ging er neugierig in eine Gefängniszelle, die einer ursprünglich vorhandenen Zelle des Neulengbacher Gefängnisses nachempfunden war, in welcher der Maler im Jahr 1912 drei Wochen hatte zubringen müssen. Nicht gerade gemütlich. Auf einer Schautafel las er, dass Schiele wegen angeblichen sexuellen Übergriffs an Minderjährigen in Untersuchungshaft genommen wurde. Der Hauptvorwurf des Missbrauchs erwies sich allerdings als haltlos, denn die Kinder hatte er lediglich gezeichnet. Dennoch verurteilte ihn das Gericht wegen des Tatbestandes der “Verbreitung unsittlicher Zeichnungen“. Die Eröffnung des Museums erfolgte zum hundertsten Geburtstag des Künstlers am 12. Juni 1990. Die Internationale Egon Schiele-Gesellschaft wurde zum Träger dieser ausgefallenen Museumsidee.
Beim Gang durch die anderen Zellen, in denen frühe Werke des Künstlers ausgestellt waren, empfand er die Idee, in einem Gefängnis auszustellen, besonders passend, da Schiele auch in einem inneren Gefängnis lebte, aus dem er mit seiner provozierend-erotischen Malerei auszubrechen versuchte.
Jetzt wusste er, wohin seine eigene Malerei gehen würde, ja musste. In der Zeit der extensiven Arbeit an der Staffelei schrieb er trotzdem jeden Morgen weiterhin seine drei Seiten. Er ließ sich dabei aus über die Trauer um die Entfernung zwischen den Menschen, insbesondere wenn sie unterschiedlichen Geschlechtes waren.
Mit den Frauen könnte es so einfach sein, wenn sie den Unsinn mit der Kindererziehung, den Hader mit ihrem Aussehen und ihrer Sexualität vergessen, das ewig baumelnde Handtaschengebilde mal zuhause lassen würden und ein wenig trinkfester wären.
Immer wieder schrieb er über die Vereinzelung und vom Eingesperrtsein ins Gefängnis der eigenen Existenz. Und dann auch manchmal von Momenten der Innigkeit und vom jähen Erwachen daraus:
Ich vergesse das, wenn ich mit jemandem lange zusammen bin, aber in besonderen Momenten fällt es mir ein. Wenn ich zum Beispiel nachts im Bett liege und nur noch den Rücken einer Frau neben mir im Halbdunkel von hinten erahne. Ich meine, dass ich nur noch eine Person bin, und gleichzeitig erkenne, wie fremd, wie monströs, wie entsetzlich dieses Gebilde ist, das neben mir liegt.
Er schaffte innerhalb der nächsten sechs Monate über achtzig Werke und fand einen renommierten Galeristen, der sie ausstellen wollte. Ein Werk, er nannte es “Körperwelten“, stach besonders heraus. Ein Käufer wollte 39.000 Euro dafür zahlen.
Doch der Gedanke an den Tod war allgegenwärtig. Er würde hingehen, wohin alle eines Tages gehen müssen, und alles, was er je erlebt hatte, würde mit ihm gehen. Verschwinden würden auch seine Bilder und die Frauen, an die er sich erinnerte, alle Dinge, die ihn umgaben, Häuser und Kneipen, in denen er gelebt und diskutiert hatte.
Am Tag nach der Vernissage erschießt er sich mit dreiundvierzig Jahren. In seinem letzten Eintrag ins Tagebuch beschrieb er seine Exitstrategie, die mit dem Satz endete: Ich werde meinem Leben ein Ende geben weil die Krankheit nicht mehr zu ertragen ist.