Wir schreiben die 1970er. Die Kinder waren alle noch keine zehn Jahre alt, hatten jedoch eine ganze Menge über die Vergangenheit der Großeltern während der Nazi-Zeit in Erfahrung bringen können. Das geschah sowohl bei Familiengesprächen als auch durch Fernsehsendungen wie „Vor 40 Jahren“. Sie trafen sich fast täglich auf dem Abenteuerspielplatz, wo Spielgeräte wie Kletterhäuser, Seilbahn und Reifenschaukel längst ihren Reiz verloren hatten und langweilig wirkten. Es musste etwas Aufregendes her, und deshalb spielten sie Krieg. Sie brachten ihre Plastikpistolen, MGs und Gummi-Messer mit und spielten abmurksen, erschossen werden, tot zu Boden fallen und qualvoll sterben. Das brachte den Kindern Riesenspaß. Am zurückliegenden Sonntagmorgen wurde wie üblich im Fernsehen in einer Wiederholung eine Ausgabe der Deutschen Wochenschau gezeigt. Diese Sendung enthielt Ausschnitte von Hitlerreden und Reden anderer Ober-Nazis sowie Nazirituale mit und ohne Marschmusik. Das war für die Kinder ein gefundenes Fressen. Jetzt stellte sich eins der Kinder – gerade mal acht Jahre alt – auf ein Kletterhäuschen des Abenteuerspielplatzes, das eine Plattform mit Umzäunung wie ein Krähennest besaß, und fing an, eine Rede zu halten. Es wurde der größte Ehrgeiz aufgeboten, um Adolf Hitler in Ekelhaftigkeit, Aggro-Rhetorik und Grausamkeit zu überbieten. Der Grundschüler verausgabte sich beim Schreien dieser improvisierten, im Verlauf konfabulierten Rede. Das Kind gebärte sich bewusst, als hätte er eine Halskrankheit, genauso, wie er es an Adolf Hitler im Fernsehen wahrgenommen hatte. Und er brach das Geschrei erst ab, als ihm der Hals schmerzte, die Stimme rauer und kratzig wurde und schlussendlich aussetzte.
Seine Großmutter lächelte manchmal verschämt die Enkelkinder an, wenn die Hitler-Reden Sonntagmorgen im Fernsehen liefen. Der Großvater schaute stets ernst und wie gebannt auf den Fernseher und hatte die Arme dabei in einer Abwehrhaltung vor dem Brustkorb verschränkt. Er wirkte skeptisch, zeigte aber außer der Abwehrhaltung keine Gefühlsregung. Der achtjährige Enkel begriff sofort, dass diese Reden eine spezielle Wirkung auf die ältere Generation hatten. Und beim Imitieren auf dem Abenteuerspielplatz steigerte er sich in etwas hinein. Er versuchte den Hass zu imitieren, schrie immer lauter und kam immer wieder auf die Themen Krieg und Zerstörung zu sprechen. Es fiel immer wieder das Wort „vernichten“. Jetzt zog der 8-Jährige über die Juden her, genauso, wie er es in der Wochenschau gesehen hatte. Ohne das weiter zu reflektieren, verlor das Kind sich immer tiefer in seine Hassrede. Jetzt schrie er mehrmals das Wort „ausrotten“, sodass es über den Abenteuerspielplatz schallte. Die Anwohner in ihren Gärten wunderten sich und ließen das Gegröle laufen, hörten teils sogar interessiert zu und spitzten die Ohren. Die Hassrede des 8-Jährigen schien nicht enden zu wollen. Er holte immer wieder aus und setzte zur nächsten Hasstirade an. Plötzlich fing der nächste Knirps eine Rede an. Auch dieser Grundschüler wollte Schreihals Adolf imitieren und seinen Vorredner übertreffen. Er schrie alles aus sich heraus, was er von den Hitler-Reden aus der „Wochenschau“ behalten hatte. Da das andere Kind mit seiner Rede noch nicht fertig war, waren die kleinen Hitler-Imitatoren jetzt aus unterschiedlichen Richtungen gleichzeitig zu hören, bis sogar noch ein drittes Kind mit einstimmte. Die kleinen Hitler-Imitatoren schrien gegeneinander an, und jeder wollte für sich die beste und fieseste Rede halten. Jeder wollte „der bessere Hitler“ sein. Ihnen war noch nicht ganz klar, was sie taten.
Als schließlich ein älterer Herr mit einem Gehstock über den Abenteuerspielplatz tippelte, bekamen die Kids einen Schreck und verstummten plötzlich. Sie griffen ihre Spielzeugwaffen und versteckten sich. Der Spuk war vorüber. Am nächsten Tag war beim Spielen bereits eine neue Masche angesagt. Sie spielten mit kleinen Plastikfiguren an Mini-Fallschirmen, die sie in die Luft warfen und zu Boden segeln ließen. Sie spielten Landung in der Normandie.