Der künstliche Mensch

Essay zum Thema Menschen

von  Dieter_Rotmund

Zur Zeit wird viel über Künstliche Intelligenz (KI) gesprochen. Überhaupt drängt sich beim Menschen seit langer Zeit der Wunsch auf, einen künstlichen Menschen zu schaffen, dieses Motiv findet sich in der Literatur wieder: Golem (12.Jhd.), Frankensteins Monster (Shelley, 1818) oder der Homunkulus (Goethe,1832). Um nur einige frühe Beispiele zu nennen. Mit den aktuellen Entwicklungsschritten der KI scheint man diesem Ziel nun einen großen Schritt näher gekommen zu sein. Das Thema ist derzeit Dauerbrenner. Ich frage mich aber: Sind wir nicht schon soweit? Allerdings mehr vom anderen Ende her gedacht. Ist der biologisch-natürliche Mensch nicht längst eine Art Roboter?
Neulich in der Innenstadt gewesen. Dabei habe ich mir in der Bahn, auf den Plätzen, in einer Bibliothek und in einem Einkaufszentrum ausführlich Zeit gelassen, die Menschen zu beobachten. Auffällig ist: Fast alle haben diese In-Ear-Kopfhörer in beiden Ohren oder monströs große Kopfhörer auf dem Kopf. Von den jungen Menschen so gut wie alle. Als in der Bahn ein Rentnerpärchen beginnt, sich zu unterhalten, schrecke ich auf: Was stimmt hier nicht? Dann beruhige ich mich wieder, nur die Ungewöhnlichkeit hat mich erschreckt. Es dauert sehr lange, bis ich junge Menschen sehe, die sich auf konventionelle, althergebrachte Art unterhalten. Es scheint sie zu befremden, schnell entsteht zwischen ihnen eine unangenehme Stimmung, das Gespräch bricht ab. Sie starren lieber in ihr Smartphone und wischen über die Oberfläche. Oder holen es nach maximal 10 Sekunden wieder aus der Gesäßtasche und wischen erneut. Länger halten sie es nicht aus? Hören etwas über die Kopfhörer. Was hören sie die ganze Zeit? Post-Casts oder dieses Spotifi? Ich, weiß, dass man diese Kopfhörer auf „Durchzug“ schalten kann. Dann könne man normale Mensch-zu-Mensch-vor-Ort-Gespräche führen, heißt es.
Ich würde mich unwohl dabei fühlen, mich mit einem Menschen unterhalten zu müssen, der diese In-Ear-Kopfhörer in beiden Ohren oder monströs große Kopfhörer auf dem Kopf trägt. Aus dem Supermarkt kenne ich das schon: Wenn die Kassiererin oder der Kassiererin anfängt etwas zu brabbeln, dann hat das selten etwas mit meinem Einkauf zu tun, sondern sie redet mit einem ihrer Kollegen. „Ich mache jetzt Pause“ ist der offenbar dort meistgesprochene Satz. Schön. Meine Supermarktkonversation beschränke ich deswegen auf Begrüßung, die Angabe meines bevorzugten Zahlungsmittels und eine Abschiedsformel.
Wobei mir die ganzen Supermarkt-Menschen noch am natürlichsten vorkommen. Sie kaufen im Supermarkt auch keinen Strom oder Gigabeit (an der Kasse gibt es allerdings so kleine Kärtchen mit Strom oder Gigabeit, aber ich habe dort noch nie jemanden ein Kärtchen nehmen sehen), sondern sie kaufen biologische Energieträger, könnte man sagen. Aber auch diese Erfahrung wurde mir genommen, als ich neulich in einem eher kleinen Supermarkt in einem Einkaufszentrum zufällig eine junge Frau beobachtete, die mit monströs großen Kopfhörer auf dem Kopf und dem Smartphone in Dauer-Vorhalte sprach, mutmaßlich mit jemand anderem, mit etwas anderem, irgendwoanders. Sie lief in den Supermarkt hinein, mäanderte durch ein paar Gänge ging und wieder hinaus, ohne etwas aus den Regalen genommen zu haben und sprach dabei. Ist ja nicht verboten, ich frage mich aber: Was soll das?
Übrigens haben jungen Frauen eher diese monströs großen Kopfhörer und die jungen Männer meist diese weißen In-Ear-Kophförer, die ein wenig wie  Tampons aussehen. Wollen die jungen Frauen mit den weithin sichtbaren Kopfhörern signalisieren, dass sie nicht angesprochen werden wollen? Das kann ich verstehen. Die jungen Männer mit den Tampons in den Ohren – sexy ist das nicht.
Nun, ich möchte die Welt unmittelbar wahrnehmen, und zwar die Welt, die sich direkt um mich herum abspielt. Aber eigentlich nehmen auch die jungen Menschen die Welt um sich herum wahr. Nur eben anders. Es ist eine andere Welt um sie herum, die Welt durch die Augen von Whatsup, Ticktock, Temo und durch eine sprechende KI, die einfach über alles Bescheid weiß. Die Welt unmittelbar um sie herum wird nur noch darauf hin gescannt, dass sie nirgends dagegen laufen. Mehr scheint sie nicht zu interessieren.
Das erinnert doch stark daran, wie Roboter zu „denken“ pflegen, oder? So gesehen, gibt es die künstlichen Menschen bereits, sie sind alltäglich und unter uns. Ganz ohne Rabbi (Golem), Doc Frankenstein (sein Monster) oder Faust (Homunkulus). Die Welt verändert sich.


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Kommentare zu diesem Text


 S4SCH4 (26.03.24, 14:09)
Einerseits ist´s Idee, andererseits (wird es) Wirklichkeit!?... Oder ist es eine höhere Wirklichkeit, die Idee wird?... Fragen über Fragen. Die Katze beißt sich in den Schwanz.
Die Technokratie ist allgegenwärtig. Ein heißes Eisen, wer es anpackt dem wird mindestens einmal warm.

 Dieter_Rotmund meinte dazu am 26.03.24 um 14:24:
Danke für die nette Empfehlung.

 Pearl (26.03.24, 14:17)
Gut geschrieben, Dieter_Rotmund; auch wenn ich selbst oft beim U - bahn Fahren und Spazierengehen, die (schon altmodischen) Kabelkopfhörer im Ohr habe. Meist um Musik zu hören. Die Welt verändert sich eben andauernd, und bleibt doch still.

 Dieter_Rotmund antwortete darauf am 26.03.24 um 14:24:
Danke für die nette Empfehlung.

 Redux schrieb daraufhin am 26.03.24 um 20:35:
Du bringst fast genau das zu Papier, was ich darüber denke, bzw empfinde. Lesenswert

 AchterZwerg (27.03.24, 06:45)
Es gibt aber auch ein überaus positives Resultat dieser Entwicklung zu beobachten: Man selber wird kaum mehr belästigt! :)

 Regina (27.03.24, 07:03)
Gut geschriebener Artikel. Den Wunsch, sich auf technikfreie Weise zu unterhalten, haben diese Kopfhörerträger offensichtlich nicht. Zur Kommunikationsbehinderung kommt noch der Umstand, dass dann nur die Augen noch auf eine eventuelle Gefahr hinweisen können, mit dem Gehör sind diese Leute an einem anderen Ort, das ist ein in sich zerrissener Zustand.

 Augustus (27.03.24, 10:53)
es ist augenscheinlich logisch, dass man mit ein paar Klicks auf einem Handy „entferntes Interessantes“ sich nahe holen kann, um das langweilige nahe, interessant zu machen. Auch Kopfhörer und Musik lassen das langweilige nahe aushalten.

Dazu empfehle ich Johann Gottlieb Fichte zu lesen. Das absolute Ich, das sich durch die Freiheit im Transzendetalen konstituieren will. 

Man möchte also in der Realität virtuelle bessere Welten erleben und durch die Freiheit, diese erleben zu können, sich in diese Welten auch zu transzendieren. Ja, man könnte fast sagen, wenn wir auf kv schreiben, transzendiert sich unser Ich kurzzeitig in die virtuelle Welt. 
Geht man weiter, stellt man fest, diese virtuelle Welt ist ein Teil der realen Welt.

 LotharAtzert äußerte darauf am 27.03.24 um 11:30:
Geht man weiter, stellt man fest, diese virtuelle Welt ist ein Teil der realen Welt.
Wie das? Wenn ich dort, wo mein Körper verweilt, gar nicht geistig "anwesend", also verortet bin?

 Dieter_Rotmund ergänzte dazu am 28.03.24 um 11:52:
Nun ja, dass die jungen Menschen nach Transzendenz streben finde ich eine interessante, aber dennoch sehr verwegene These. Ich spüre bei ihnen einfach nur eine große Unsicherheit.

 Judas (27.03.24, 11:30)
Oh nein, immer diese jungen Menschen und ihre *shuffles deck, pulls card* Kopfhörer!

Das ist kein Phänomen der Neuzeit.
Früher haben die Leute alle 'ne Zeitung in der Hand gehabt, jetzt halt ein Handy. So what.

 FrankReich meinte dazu am 06.04.24 um 14:06:
Doch ist es, denn ein Handy ist, wie der Name schon sagt, einfach handlicher, oder hast Du früher etwa Menschen beim Zeitungslesen einen Zebrastreifen überqueren sehen? 🤔

 Judas meinte dazu am 06.04.24 um 14:56:
Ich hab "damals" auf jeden Fall Kinder/Teenager in's neuste Mickey Maus oder Bravo Heftchen gucken sehen, während sie eine Straße überquerten. :)

Und was das Zeitung lesen angeht...






 AvaLiam (27.03.24, 16:45)
Der Weg der Entmenschlichung ist schleichend und geht schon eine lange Zeit.
Das Schlimme daran ist, es gibt so viele, die diese Entwicklung feiern. 
Lemminge - jederzeit bereit, den kollektiven Selbstmord zu sterben.

So ist zu hoffen, dass genug Menschlichkeit bleibt, sich von Robotern zu unterscheiden.
Gestern noch sah ich einen interessanten Beitrag über Robotik und musste feststellen, der Grat ist ganz schön schmal geworden.

ungekünstelte Grüße 
Ava

 Dieter_Rotmund meinte dazu am 28.03.24 um 11:50:
Vielen Dank für die bisherigen 9 Empfehlungen und die  freundliche Kommentare!

 eiskimo (06.04.24, 15:00)
Edeka hat es, glaube ich, in einem Supermarkt als Test laufen: Eine Plauderkasse.
Da darfst du tatsächlich unverstöpfselt, analog und direkt mit der Kassiererin quatschen. Und was du auch darfst: Umständlich mit Bargeld zahlen. Alles wie früher.
Die Zeitgenossen mit Tampons oder Mickey-Mouse-Ohren und der Just-In-Time-Chronometrie schieben sich derweil dicht an dicht durch die anderen Kassengänge, genervt, weil sie ja entscheidende Sekunden  gewinnen müssen.
Ein bisschen haben wir es ja auch selber in der Hand.
Entspannte Grüße
Eiskimo

 Judas meinte dazu am 06.04.24 um 15:08:
Ich geh immer an die Selbstbedienungskassen, wo man alles selber macht, entspannter geht es nicht mehr. Wesentlich besser, als ein Kassierer, der im high speed Tempo dein Zeug über die Bahn zieht, du versuchst mit einer Hand einzupacken, mit der anderen zu bezahlen, und hinter dir die genervte Meute.
Selbstauscheckkasse: ich alleine mit der Kasse, alle Zeit der Welt, kein Gespräch über's Wetter an den Sack geklebt, niemand vor oder hinter mir, einfach Friede und pure Transzendenz.
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