Die letzte Arbeitsstunde

Erzählung zum Thema Alter

von  Regina

Zögernd öffne ich das Gatter zu dem verwilderten Garten, wo mich der Geruch von Moos und verwittertem Gemäuer empfängt und dichtes Gebüsch das verfaulte Holz des Schuppens fast verdeckt. Weiter vorne im Tümpel spielen Kinder in einer ausrangierten Zinkwanne das Spiel vom Matrosen Carlo, der sich im Dampfschiff nach Amerika aufmachte, so wie damals jene Kleinen, die heute in der Mitte ihres Lebens angekommen sein müssen. Sie laden mich ein, eine Runde mitzufahren. 

Aber ich habe keine Zeit, zu verweilen, weil ich die Schule erreichen muss, wo ich heute eine Vertretungsstunde halten soll. Dort wird ein Junge gesucht, von dem man annimmt, dass er sich im Heizungskeller versteckt, der aber dort nicht zu finden ist. Immer wieder mal gab und gibt es einen, der etwas Wichtigeres zu erledigen hat als am Unterricht teilzunehmen. 

Das Lehrerkollegium begrüßt mich, obwohl mich keiner mehr an meinem ehemaligen Arbeitsplatz kennt. Mir ist aus Erfahrung klar, dass es da Lehrkräfte gibt, die wie eh und je gelassen an ihre Aufgabe herangehen, weil sie wissen, dass der eine ihrer Schützlinge den Aufstieg durch die Klassenstufen mit Bravour meistert, ein anderer sich eher stotternd und stolpernd durch die Schulzeit quält und doch das Leben dann mit Überraschungen aufwartet. Einige aber verrichten ihren Dienst lernzielversessen und wutentbrannt über Disziplinlosigkeiten mancher Schüler. 

Schon fast schläfrig beginne ich die Vertretungsstunde, für die ich noch einmal engagiert wurde. Ich lasse die Klasse singen und verlege mich auf sparsames Dirigieren, weil meine eigene Stimme an Stelle des vormals glockenhellen Klangs nur noch ein Krächzen hervorbringt und die Finger wegen Arthrose die Klaviertasten nicht mehr treffen wollen. Alles wird dem Menschen im Alter wieder genommen, auch das, was er sich mit Eifer antrainiert hat. 

Nach getaner Arbeit verspüre ich Appetit auf ein Schnittlauchbrot und begebe mich in jenes Wirtshaus, wo mich wie einst der Duft von Zitrone, Thymian und gebratenen Zwiebeln sowie das Murmeln der Gäste empfangen und eine dralle Köchin Soßen und Suppen in Teller schöpft. Nur der Zigarettenqualm ist der neuen Zeit gewichen und jetzt verboten. Draußen dreht sich das Mühlrad noch immer zum Rauschen des Baches, wenn auch Müller heute nur noch ein Name ist. Später verabschiede ich mich im Vorübergehen von Malven, Glockenblumen und einer Gänseschar, die über die Wiese watschelt.  

Der Flieder bewegt sich im Wind, als erinnere er sich an den weiten Rock, den ich früher trug und den mein federnder Gang auf dem Weg in Richtung Bahnhof zum Wippen brachte. Fast meine ich, die Zeit sei an diesem entlegenen Ort stehen geblieben, nur ich sei gealtert, so dass ich einen Krückstock brauche.
Doch die digitale Anzeigetafel in der Bahnhofshalle transportiert mich wieder in die Moderne.
 




Anmerkung von Regina:

Der Text ist nicht wirklich autobiografisch.

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Kommentare zu diesem Text


 EkkehartMittelberg (25.04.24, 18:06)
Hallo Gina,

obwohl dein Text auch den Verlust des Alters anspricht, wirkt er angenehm versöhnlich.

LG
Ekki

 Regina meinte dazu am 25.04.24 um 18:11:
Mich plagt der Verlust derzeit (noch) nicht. Ich genieße die Altersruhe.
Danke für den Lieblingstext. Sehr erfreut.

 AchterZwerg (26.04.24, 07:18)
Wenn du zu leben verstehst, ist dieser Verlust gar keiner.
Für mich ist diese Phase die schönste überhaupt,
weil absolut selbstbestimmt. :)

 Regina antwortete darauf am 26.04.24 um 12:16:
Es ist, wie es ist. Danke dir.

 TassoTuwas (26.04.24, 09:32)
"Alles wird dem Menschen im Alter wieder genommen, auch das, was er sich mit Eifer antrainiert hat".
Den Satz nehme ich mit!
LG TT

 Regina schrieb daraufhin am 26.04.24 um 10:39:
Daran könnte man nun wieder Reflexionen anschließen, aber das würde den Rahmen dieses Textes sprengen.

 Oops (26.04.24, 11:01)
Das hat mir sehr gefallen, ich empfinde es  detailverliebt geschrieben :), Du warst eine Musiklehrerin, hm...Du solltest Dich an ein Buch wagen, wenn Du es nicht schon tust.

LG Oops

Kommentar geändert am 26.04.2024 um 11:03 Uhr

 Regina äußerte darauf am 26.04.24 um 12:23:
Detailverliebt. Hoffentlich nicht mit zu vielen Adjektiven!
Danke dir.

 Oops ergänzte dazu am 26.04.24 um 12:29:
Dann streiche detailverliebt und setze lebendig und nah ein. Du schreibst toll <3

 Saira (26.04.24, 11:12)
Liebe Gina,
 
ich bin in deine Erzählung eingestiegen und hatte das Gefühl, die Bilder, die du entstehen ließest, am Rande mitzuerleben. Selbst die Düfte konnte ich wahrnehmen.  Alles ist so ruhig und beschaulich geschrieben.

Wunderbar!
 
Liebe Grüße
Sigrun

 Regina meinte dazu am 26.04.24 um 12:15:
Danke fürs Lob. Sehr erfreut.
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