Vom Umgang mit Vorurteilen

Erzählung zum Thema Vorurteile

von  EkkehartMittelberg

Eine Gruppe von Psychotherapeuten wollte wissen, ob kluge Menschen bereit sind, sich und anderen ihre Vorurteile einzugestehen. Sie inserierten deshalb einen Lehrgang zu diesem Thema mit äußerst geringer Gebühr.

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Der Lehrgang begann damit, dass alle Teilnehmer auf Vorurteile getestet wurden und es wurde ihnen schriftlich mitgeteilt, wo sie Vorurteile in welcher Form gezeigt hatten.

Danach begann eine Diskussion, in der sich die äußern konnten, die meinten, dass man ihnen zu Unrecht Vorurteile zugeschrieben habe. Am Ende der Diskussion beharrten nur zwei Teilnehmer darauf, sich nicht vorurteilsbehaftet geäußert zu haben.

Danach analysierte man gemeinsam Texte, in denen Vorurteile fiktiver Personen untersucht wurden. Hier gab es am Ende weitgehend übereinstimmende Beurteilungen. Es wurde deutlich, dass Vorurteile aus dem Bedürfnis entstehen, sich zu schützen und dass die intelligentesten Menschen nicht ganz frei von ihnen sind.

Am Ende des Lehrgangs erschienen Vorurteile nicht mehr als Makel dummer Menschen. Mehr noch: Es wurde klar, dass bestimmte Vorurteile wiederkehren können und dass man sie ein Leben lang hinterfragen muss.


Ist der Verlauf eines solchen erdachten Lehrgangs aus deiner Sicht Utopie im Sinne von in der Realität nicht erreichbar oder hältst du das Ergebnis für möglich?



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Kommentare zu diesem Text


 Regina (08.05.24, 07:26)
Ich habe an einem Seminar teilgenommen, wo die französische Dozentin behauptete, es gebe eine Kernwahrheit in den Vorurteilen, die nicht völlig von der Hand zu weisen sei. Dort lasen wir den Artikel eines Amerikaners, der den Charakter der deutschen Nation als Hund, den der französischen als Katze darstellte, im politischen Verhältnis zu den USA zu sehen. Der Hund zu seinem Herrn aufblickend und treu, die französische Katze eigenwillig und weniger beherrschbar. 
Die unangenehme Seite des Vorurteils beginnt da, wo man dem Individuum abspricht, seine eigenen Wege gehen zu können.
Die eigenen Vorurteile zu hinterfragen ist Psychoanalyse, da man sie erst einmal erkennen muss.

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 08.05.24 um 10:47:
Hallo Regina, wenn man wie die französische Dozentin in den eigenen Vorurteilen eine Kernwahrheit sieht, wird man sich von ihnen nie lösen können.
Eigene Vorurteile zu erkennen, muss auf jeden Fall am Anfang jeder Auseinandersetzung damit stehen.

 Quoth antwortete darauf am 09.05.24 um 19:42:
Wie steht es mit positiven Vorurteilen? Ich halte Juden für im Durchschnitt bessere Geschichtenerzähler als Nichtjuden, und Schwarze für rhythmisch sehr viel begabter als Europäer, Frauen für im Durchschnitt friedliebender als Männer und die meisten Naturwissenschaftler für fröhliche Optimisten. Muss ich das alles bekämpfen und ablegen?

 Regina schrieb daraufhin am 09.05.24 um 20:48:
Es gibt sie auf alle Fälle auch, die positiven Vorurteile.

 EkkehartMittelberg äußerte darauf am 10.05.24 um 20:26:
Ich finde deine Frage nach den positiven Vorurteilen hilfreich, Quoth, Soweit ich sehe, richten die, die du als Beispiele anführst, keinen Schaden an. Es gibt also keinen zwingenden Grund, sie abzulegen, zumal du dir dessen bewusst bist, dass es sich um Vorurteile handelt.

Antwort geändert am 10.05.2024 um 20:27 Uhr

 Mondscheinsonate (08.05.24, 08:58)
Ich schreibe heute eine Klausur über Vorurteile. Hast du schon einmal etwas von dem Innocence Project gehört? Das ist eine Non-Profit-Organisation, die sich um Justizirrtümer kümmert. Sehr interessante Studien gibt es da auch. Oder von dem Ankereffekt in den richterlichen Entscheidungen? https://rechtampunkt.at/de/ankereffekt-in-vergleichsverhandlungen-vor-gericht
Auch, dass schön= gut und weniger schön= böse bei Zeugenvernehmungen über mögliche Täter. Und so viele Beispiele wären zu nennen. Vorurteile= Schemata=Schubladendenken. Nicht immer schlecht, wie Regina bemerkte, aber auch behindernd, klar und deutlich darüber nachzudenken. Hast du gewusst, dass POC (Schwarze) in den Staaten im Durchschnitt strengere und höhere Strafen bekommen? 
Nun, ich geh nochmals durchlesen, habe noch ein paar Artikel über richterliche Entscheidungen.

 EkkehartMittelberg ergänzte dazu am 08.05.24 um 10:56:
Hallo Cori, deine Beispiele aus der Jurisprudenz bereichern die Diskussion sehr. Die ersten beiden waren mir unbekannt.
Eine laienhafte Frage: Ist es richtig, dass sich vor allem Richter und Staatsanwälte bemühen müssen, frei von Vorurteilen zu sein, während sie bei Rechtsanwälten weniger schaden, weil sie vorurteilsbehaftete Täter schützen müssen?

 Mondscheinsonate meinte dazu am 08.05.24 um 11:06:
Ja, aber keiner ist vorurteilsfrei.

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 08.05.24 um 11:21:
Ja das sehe ich auch so. Leider bewahrt Intelligenz zu wenig vor Vorurteilen, weil Intelligente Spaß daran finden können, sie zu nähren.

 Mondscheinsonate meinte dazu am 08.05.24 um 11:24:
Allein schon durch unsere Erfahrungen im Leben bilden wir uns selbst ein Urteil, das wir verankern und immer wieder auf ähnliche Situationen anwenden.

 KonstantinF. meinte dazu am 08.05.24 um 12:09:
Man sollte Richter und Staatsanwälte nicht gleichsetzen: Richter sind nicht weisungsgebunden und nur dem Gesetz verpflichtet, während die Staatsanwaltschaft eine weisungsgebundene Behörde ist.
Inwieweit sich dies auf Vorurteile auswirkt, möge jeder selbst erkennen.
Im Übrigen sollte meines Erachtens auch ein Anwalt vorurteilsfrei sein, um einen Tatbestand sachlich beurteilen zu können.

 Mondscheinsonate meinte dazu am 08.05.24 um 13:00:
Interessanterweise war das nicht die Frage, sondern, ob beide vorurteilsfrei sein sollten, was nichts mit Weisungsgebundenheit oder Gleichsetzung zu tun hat. ;) Aber, du hast ja sicher irgendwann Jura studiert, nehme ich an, wenn du so Bescheid weißt, nicht?

Antwort geändert am 08.05.2024 um 13:03 Uhr

 KonstantinF. meinte dazu am 08.05.24 um 13:30:
Da hast Du Dich jetzt aber gerade selbst entlarvt mit Deinem Vorurteil, ein Nicht-Jurist könne gewisse Dinge nicht beurteilen. ;)

 Mondscheinsonate meinte dazu am 08.05.24 um 13:52:

Artikel III Unabhängigkeit Staatsanwältinnen und Staatsanwälte wenden das Recht unbefangen, ohne Vorurteile und gestützt auf den konkreten Sachverhalt an. Rechtswidrige Interventionsversuche weisen sie zurück. Den Anschein der Parteilichkeit erweckendes Verhalten vermeiden sie.
Hier Lichtenstein.


(Geändert, weil falsch)Das ist kein Vorurteil 😂, wahrlich nicht (vorallem nicht, wenn du mich über Hardfacts belehren willst, die jeder Student im 1.Semester lernt). Außerdem habe ich nie behauptet, keine zu haben. ;)

Antwort geändert am 08.05.2024 um 13:54 Uhr

Antwort geändert am 08.05.2024 um 15:27 Uhr

 KonstantinF. meinte dazu am 08.05.24 um 15:10:
Ich heiße Konstantin, liebe Mondscheinsonate, und niemand hat versucht, Dich über irgendetwas zu belehren. 
Du solltest Dich nicht ganz so wichtig nehmen.

 Mondscheinsonate meinte dazu am 08.05.24 um 15:12:
Verzeih, ich habe dich verwechselt. Und zum Inhalt... ah so.

 Agnetia meinte dazu am 08.05.24 um 19:34:
Amerikas Rechtssystem und Justitia unterscheiden sich von der unseren und können überhaupt nicht als Vergleich deinen.
Dort spielt stark Rassismus ein, weniger Vorurteil.

 Mondscheinsonate meinte dazu am 08.05.24 um 19:50:
Richtig, dort spielt Rassismus als Vorurteil eine große Rolle, mehr als bei uns.
Ein interessanter Artikel, den ich fand. Zwar alt, aber mehr denn je passend zum Thema Vorurteile:

 Rassismus: Das Vorurteil als täglicher Begleiter | DiePresse.com

 uwesch (08.05.24, 09:01)
Ich denke schon, dass Bewußtheit bei Einigen zu Veränderungen führen kann. LG Uwe

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 08.05.24 um 11:05:
Ja danke, Uwe wir brauchen natürlich Beispiele. Als ich zum Beispiel erfahren habe, dass Zünfte und Innungen Juden aussperrten, habe ich deren Geldgeschäfte viel nachsichtiger beurteilt

 S4SCH4 (08.05.24, 09:42)
Ist Vorurteil gleich Vorurteil? Wäre das ein Vorurteil? Nun, aber ich denke sie können zum Leben gehören, müssen aber nicht. Wer gesund damit haushaltet, also mit Erfahrungen und Reflexion kommt gut mit seinen Mitmenschen aus. Danke für den Text, Vg sascha

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 08.05.24 um 11:15:
Merci, SASCH4, ich denke, dass es bei den Vorurteilen graduelle Unterschiede gibt. Wenn ich zum Beispiel sage, dass alle Kreter lügen, ist das ein massives Vorurteil, das keine Ausnahme zulässt. 
Mit dem Begriff "gesund" kann ich im Kontext von Vorurteilen nichts anfangen. Man könnte etwa fragwürdig behaupten, dass Vorurteile gesund sind, weil sie einen vor negativen Erfahrungen schützen. Problematisch!

 S4SCH4 meinte dazu am 08.05.24 um 14:29:
Ich kenne jemanden, der in der Vergangenheit, öfters von "Sozialhygiene" sprach, im Sinne sozialer Kontakte und Umgänge. Darauf möchte ich das (gesund) beziehen.

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 08.05.24 um 20:14:
Okay, als Antwort darauf ist der Begriff akzeptabel.

 Dieter_Rotmund (08.05.24, 09:55)
Vorurteile sind nicht per se schlecht. Wir brauchen sie jeden Tag, um Entscheidungen treffen zu können!

 Mondscheinsonate meinte dazu am 08.05.24 um 10:22:
Richtig. Aber, auch hinderlich bei Zeugenaussagen.

 Dieter_Rotmund meinte dazu am 08.05.24 um 10:31:
Aber hilfreich im Alltag, z.B. im Supermarkt.

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 08.05.24 um 11:28:
Ja, Dieter. Ich habe mein Vorurteil, dass Zigeuner stehlen nicht konsequent genug befolgt, als ich ihr in der Küche Wasser holte. Eine Minute und sie mitsamt meiner          Sonnenbrille im Flur hatte sich in Luft aufgelöst.

 FrankReich meinte dazu am 08.05.24 um 12:13:
Woher wusstest Du, dass es sich bei ihr um eine Zigeunerin handelt, Ekki? 👋😂

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 08.05.24 um 14:09:
Hallo Frank,
jetzt, wo du mein Vorurteil entlarvt hast, sagt mir mein unerschütterliches Vorurteil, dass es sich um eine deutsche Schauspielerin handelte. :D

 Graeculus (08.05.24, 09:59)
Es wurde deutlich, dass Vorurteile aus dem Bedürfnis entstehen, sich zu schützen [...]

Wurde gesagt, wovor?

 Graeculus meinte dazu am 08.05.24 um 10:12:
Mich interessiert auch eine Definition von "Vorurteil". Dieser Begriff ist ja nicht ohne weiteres klar. Ich halte es für sehr wichtig, auch bei einem wissenschaftlichen Experiment, daß man vorab die Bedeutung des Begriffs klärt. Andernfalls besteht die Gefahr, daß man schon dem ersten Vorurteil erliegt.

Mein Vorschlag: Ein Vorurteil ist eine Ansicht oder Einstellung, die wir ungeprüft übernommen haben und mit der wir an neue Ereignisse herangehen.

Aber was ist dann kein Vorurteil?
Liegen nicht am Grund selbst der geprüften Annahmen immer ungeprüfte Annahmen?
Wieviele Menschen haben ein Vorurteil zugunsten einer zweiwertigen Logik oder der Ansicht, man könne einen Text ohne Bedeutungsveränderung in eine andere Sprache übersetzen?

 Graeculus meinte dazu am 08.05.24 um 10:15:
Möglicherweise steht es so, daß wir allenfalls die alten Vorurteile durch andere ersetzen können. Und weil zu dem neuen Vorurteil alle lieben Menschen mit dem Kopf nicken, erscheint es nicht mehr als Vorurteil.

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 08.05.24 um 11:37:
Graeculus, meine Erzählung ist eine Fiktion. Deshalb wurde nicht gesagt, wovor. Aber zum Beispiel die pauschale Annahme, dass Zigeuner stehlen, kann vor Diebstahl schützen.
Ich muss für eine Sunde weg, dann gehe ich auf deine weiteren Argumente ein. Jetzt nur so viel. Deine Definition erscheint mir ungeachtet der damit verbundenen Probleme brauchbar.

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 08.05.24 um 14:36:
Hallo Graeculus, zur Definition des Vorurteils: Tatsächlich gilt eine Behauptung, an die fast alle glauben, als vorurteilsfrei. Das Dilemma ist, dass nicht alle den Dingen auf den Grund gehen können und auf Urteile derer angewiesen sind, denen sie vertrauen. Da die Meisten den Urteilen der Mehrheit vertrauen, können Vorurteile rasch multipliziert werden.
Zum Teil kann man Vorurteile durch logische Schlüsse erkennen.
Wenn jemand behauptet, dass manche Kreter lügen, ist das sicher deshalb kein Vorurteil, weil es in jeder Nation Menschen gibt, die gewohnheitsmäßig lügen.
Wenn aber jemand behauptet, dass alle Kreter lügen, ist das sehr unwahrscheinlich, denn warum sollten Kreter sich von anderen Nationen in dieser Hinsicht so fundamental unterscheiden. Ich habe hier zwar keine empirische Prüfung vorgenommen, würde aber aufgrund meines Erfahrungswissens die Aussage, dass alle Kreter lügen, für ein Vorurteil halten.

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 08.05.24 um 17:05:
Graeculus, "die alten Vorurteile durch andere ersetzen". Ich sehe nicht so schwarz. Vielmehr denke ich, dass bei jemandem, der sich ernsthaft bemüht, seine Vorurteile abzubauen, die Summe der Vorurteile geringer wird, weil er mehr bemüht ist, Vorurteile zu überprüfen, bevor er sie weiter verbreitet.
Die von dir benannte Gefahr ist freilich existent. Wenn jemand zum Beispiel gelernt hat, dass Juden keine minderwertige Rasse sind, läuft er Gefahr, seine Erkenntnis durch Überbetonung zu verfestigen, indem er sie für ein auserwähltes Volk hält.

 Agnetia meinte dazu am 08.05.24 um 19:44:
Vor-Urteil. Ein Urteil vor... was? vor dem Urteil
Wenn alle Kreter lügen, dann ist das kein Vorurteil, sondern üble Nachrede auf Gund von Rassismus. Jeder vernunftbegabte Mensch könnte das erkennen.
Was also ist ein Vorurteil?
Voruteil als Begriff ist negativ belastet. es wird davon ausgegangen, dass der Urteilende nicht recht hat.
Also kann man Vorurteile nicht testen, weil es die Beurteilung deiner Meinung ist, die andere darüber abgeben.

lG von Agnete

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 08.05.24 um 20:29:
Das "vor" verstehe ich so: Es ist ein Urteil, bevor man hinreichend Erfahrungen gesammelt und gründlich nachgedacht hat. In diesem Sinne ist, dass alle Kreter lügen ein Vorurteil, das auf übler Nachrede und Rassismus gründet. Die negative Belastung des Begriffs Vorurteil sehe ich auch so. Ich kann mir Tests vorstellen, mit denen man nachweisen kann, dass jemand antisemitisch oder rassistisch denkt. Es steht freilich auf einem anderen Blatt, ob er bereit ist, das zuzugeben.

 Graeculus meinte dazu am 08.05.24 um 23:25:
Es gibt viele Vorurteile, und nicht nur in dem Bereich, von dem hier meist die Rede ist. Oft haben sie mit dem zu tun, was unsere Mitmenschen für selbstverständlich halten.

Ein Beispiel ist die Annahme, daß die Erde sich um die Sonne drehe.
Nach Einstein kann man Bewegung nicht ohne Festlegung einer bestimmten Perspektive messen, und in diesem Falle nehmen wir eine Perspektive oberhalb des Sonnensystems an, während die Perspektive von der Erde aus ergibt, daß sich die Sonne um sie dreht.
Ferner sagte mir einmal ein Physiker: "Die Erde dreht sich um die Sonne? Nein, sie drehen sich beide um einen gemeinsamen Schwerpunkt, der allerdings innerhalb des Sonnenradius liegt."

Und wer weiß, von welchen physikalischen Annahmen wir in 100 Jahren ausgehen werden, wenn - vielleicht - all die Probleme der gegenwärtigen Physik (1) gelöst sein oder in einem anderen Licht erscheinen werden?
____
(1) die Unvereinbarkeit von Relativitätstheorie und Quantenmechanik, die Dunkle Materie, die Dunkle Energie, die Natur Schwarzer Löcher usw.

 Graeculus meinte dazu am 08.05.24 um 23:34:
Eine weitere Ansicht, auf deren Richtigkeit wir beide vor 30 doer 40 Jahren sicher gewettet hätten, ist das Vorurteil, daß es (nur) zwei Geschlechter gibt.
Inzwischen weiß ich, daß es nicht erst heute, sondern schon vor Jahrhunderten ganz andere Annahmen gab, etwa bei den Indianern Nordamerikas, die von drei Geschlechtern ausgegangen sind: Männer, Frauen und Berdaches. Heute gibt es sogar einen Wikipedia-Artikel dazu:

https://de.wikipedia.org/wiki/Two-Spirit

 Mondscheinsonate meinte dazu am 08.05.24 um 23:39:
Gut, bevor ich meine Skripten wegschmeiße (grins! mit Vergnügen!) hier die Definitionen. Es ist in Stichwörtern, denkt euch bitte ganze Sätze:

1. Schemata: Schema= Schublade: übergeordnete kognitive Strukturen von Gegenständen, Situationen, Inhalten
- Kategorisieren, Bedeutung zuordnen
- Ermöglicht schnelles, müheloses Zurechtfinden

Auswirkungen:
- Lenken alltägliche Wahrnehmung (auch selektiv)
- Integration und Erinnerung von Wissen wird unterstützt
- Je elaborierter ein Schema, desto leichter ist die Integration von neuen Informationen
- Abrufen von Informationen ist schemakonsistent
SCHEMA + soziale Komponente = Stereotype

Dies, weil dann 2.)
Stereotype, Vorurteile, Diskriminierung
- Kognitive Komponente = Stereotyp
* Wissen, welches mit einer Gruppe verknüpft ist
* Wird auf alle Mitglieder verallgemeinert
- Affektive Komponente = Vorurteile
* Wertung
* Positive/negative Empfindung gegenüber Personen aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe 
* Zustimmung zu Inhalten des Stereotyps
- Verhaltenskomponente = Diskriminierung
* Ungerechtfertigtes negatives oder schädliches Verhalten gegenüber Personen aufgrund ihrer Gruppenzugehörigkeit

Personen können/wollen nicht unbedingt über ihre Einstellungen/Stereotype reden
- nicht wollen: Scham, gesellschaftliche nicht angesehen
- Selbsttäuschung, unbewusst, kein Zugriff

So, jetzt kübel ich das. Ich hoff, jetzt sind wir alle etwas gescheiter geworden, das freut uns. :-D

 Graeculus meinte dazu am 08.05.24 um 23:45:
Ermöglicht schnelles, müheloses Zurechtfinden

Das ist der Vorteil. Wenn man einer Gefahr gegenübersteht, etwa einem Löwen, kann es ungünstig sein, sich erst die Frage zu stellen, ob das Vertrauen in die eigene Wahrnehmung nicht lediglich ein Vorurteil ist.

Ich beharre allerdings darauf, daß Vorurteile sich nicht bloß auf andere Personen erstrecken. Auch die Annahme, wenn man mit dem Schiff immer in eine Richtung fahre, kippe man irgendwann von der Erdscheibe herunter, war ein solches.

 Mondscheinsonate meinte dazu am 08.05.24 um 23:48:
War das nicht ein Nicht-Wissen? Ein Vorurteil ist mAn ein Wissen, das wir verankert haben durch einen Vorfall/Ereignis und eben auf mehrere/s oder alle/s projizieren.
Annahme ist doch eher ein Glauben.

Antwort geändert am 08.05.2024 um 23:49 Uhr

 Graeculus meinte dazu am 09.05.24 um 00:01:
Das kommt auf die Definition an, und Definitionen sind von Menschen gemacht, sind Konventionen. Deshalb habe ich zuerst danach gefragt.

Ganz wörtlich ist es ja ein Urteil (und jeder Aussagesatz ist sprachlich ein Urteil), bevor man etwas durchdacht bzw. erfahren hat ... also in meinem Beispiel: bevor jemand mit einem Schiff immer in eine Richtung gefahren ist.

Diskutiert worden ist der Begriff zuerst in der Philosophie der Aufklärung, und zwar in dem von mir intendierten weiten Sinne; inzwischen engt er sich immer mehr ein auf stereotype negative Einstellungen gegenüber bestimmten Personengruppen.
Was mich daran stört, ist der Umstand, daß uns gar nicht mehr bewußt wird, in wievielen Bereichen wir einfach auf gängige Ansichten zurückgreifen, ohne sie durch eigenes Nachdenken und Erproben - das Programm der Aufklärung! - infrage zu stellen.

 Graeculus meinte dazu am 09.05.24 um 00:02:
Daß daraus ein politischer Kampfbegriff zwecks Verurteilung anderer geworden ist, kommt dann noch hinzu, und das ist das Gegenteil des Programms der Aufklärung.

Antwort geändert am 09.05.2024 um 00:03 Uhr

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 09.05.24 um 00:02:
Hallo Graeculus,
streng logisch gesehen, nennst du Beispiele für Vorurteile. Aus meiner Sicht sind es aber Beispiele für naturwissenschaftlich falsche Urteile, denn Vorurteile haben nach meiner Kenntnis eine moralisierende Dimension. Deine Beispiele gehören meines Erachtens in die Erkenntnistheorie. Nun wirst du einwenden, dass es langfristig die Moral beeinflussen kann, ob die Erde sich um die Sonne dreht oder die Sonne um die Erde. Aber diese Diskussion empfinde ich als sehr abstrakt. Wenn ich aber sagen würde, dass alle Juden gerissene Händler seien, die ihre Partner betrügen, wäre das aus meiner Sicht ein Vorurteil, das, sofern man es übernähme, unmittelbare Folgen für die Gegenwart hätte. Zusammengefasst: Naturwissenschaftliche Fehlurteile sind keine Vorurteile. Es fehlt ihnen die Dimension der Diskriminierung oder Glorifizierung, die Vorurteile prägt.

 Graeculus meinte dazu am 09.05.24 um 00:07:
Das kann man so sehen. Ich möchte nur darauf hinweisen, daß es sich dabei historisch/geistesgeschichtlich um eine Verengung des Begriffs handelt. Was mich daran stört, habe ich weiter oben geschrieben.
Aber Definitionen sind Sache der Konvention, und die kann sich ändern.

 Mondscheinsonate meinte dazu am 09.05.24 um 00:08:
Beispiel: Ein Kind wird sich ca. mit 3 Jahren seiner selbst bewusst. Es hat da noch keine Vorurteile, es hat noch keine Schubladen, geht man nach diesen psychologischen Sätzen. Das erwirbt jemand erst im Laufe seines Lebens durch Wahrnehmung, soziales Umfeld und Erziehung.
P.S. Vorurteile sind ja per se nicht schlecht. Ich greife auch nicht mehr freiwillig auf die Herdplatte.

Antwort geändert am 09.05.2024 um 00:13 Uhr

 Graeculus meinte dazu am 09.05.24 um 00:22:
Vorurteile ermöglichen schnelles Reagieren, das ist klar, und sind deshalb notwendig, wo dieses erforderlich ist.
Die Vorsicht bei der Herdplatte beruht allerdings, so nehme ich an, auf Erfahrung ... jedenfalls bei mir; insofern ist das kein gutes Beispiel.

Daß nur Menschen(kinder) und Schimpansen den Spiegeltest bestehen, daß nur Menschen eine Sprache kennen usw., hat sich als Vorurteil erwiesen. Und ich bin der Ansicht, daß dies selbst in Eurem Sinne dem Begriff des Vorurteils entspricht, denn es beruhte auf einer menschen- und damit selbstverliebten Geringschätzung von Tieren.

 Mondscheinsonate meinte dazu am 09.05.24 um 00:30:
Mag sein, aber dennoch beruhen Vorurteile auch auf Erfahrung. Hat jemand eine Schlägerei mit einem Ausländer gehabt, kann es passieren, dass er es auf alle Ausländer umlegt, alle sind schlecht. Oder, geht einfach nur gewissen Situationen aus dem Weg. Oder wird in solchen Situationen wieder aggressiv. Oder, oder, ...

 Graeculus meinte dazu am 09.05.24 um 00:32:
Das Vorurteil auf der Basis einer Verallgemeinerung, ja.

 Graeculus meinte dazu am 09.05.24 um 00:42:
An dem handelsüblichen Gebrauch des Begriffs wird diese Diskussion wohl nichts ändern:

1. Vorurteile diskriminieren jemanden (die Schwarzen/die Weißen, die Männer/die Frauen, die Rechten/die Linken, die Amerikaner/die Russen usw.).
2. Vorurteile haben immer die anderen.

 Mondscheinsonate meinte dazu am 09.05.24 um 10:45:
Aber, ein Vorurteil ist nicht immer schlecht, Graec...zB. meide dieses oder jenes Viertel mit viel Schmuck, da passieren oft Raubüberfälle. Nun, könnte retten.

 Teo meinte dazu am 09.05.24 um 11:09:
Täglich sieht man in digitalen Medien Fahndungsbilder.
Wen sieht man....Nordafrikaner, Araber, Osteuropäer.
Manchmal mehrmals täglich.
Warum zeigt man keine deutschen Täter? Diese Benachteiligung grenzt an Rassismus.
Da müssen ja Vorurteile wachsen....

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 09.05.24 um 11:55:
Hallo Graeculus,
ich habe noch einmal versucht. die Definition zu präzisieren,  die du handelsüblich nennst:
1. Vorurteile diskriminieren jemanden (die Schwarzen/die Weißen, die Männer/die Frauen, die Rechten/die Linken, die Amerikaner/die Russen usw.) oder sie glorifizieren vermeintlich eigene Stärken.
2. Der Begriff Vorurteile macht Sinn bei soziologischer oder psychologischer Beurteilung, also in der Verhaltensforschung.
3. Der Begriff Vorurteile macht wenig Sinn bei naturwissenschaftlichen Forschungsergebnissen. Hier empfiehlt es sich, je nach Stand der Argumentation von richtigen oder falschen Urteilen zu sprechen, weil durch Versuche für das eine oder andere eindeutige Belege erbracht werden können.

 Saira (08.05.24, 10:17)
Lieber Ekki,

jeder hat Vorurteile, denke ich, aber es ist wichtig, sich darüber im Klaren zu sein und sie immer wieder neu zu hinterfragen.

Liebe Grüße
Sigi

 Mondscheinsonate meinte dazu am 08.05.24 um 10:24:
Ich habe gelernt, dass der Großteil Vorurteile nicht zugibt, weil sie meinen, dies sei verpönt, aber bei Tests (wie dem IAT) kommt dann heraus, dass sie welche haben. Jeder von uns hat Vorurteile, es wäre auch schwer, über alles und jeden lange nachzudenken, bevor man eine Antwort gibt.

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 08.05.24 um 16:44:
Hallo Dieter, hast du die Zeit zu erklären, wieso Vorurteile im Supermarkt hilfreich sein können? Meinst du, dass man mit Vorurteilen schneller Entscheidungen für oder gegen etwas trifft?

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 08.05.24 um 17:10:
Cori, du liegst richtig, dass der Großteil Vorurteile ungern eingesteht. Eher gibt er zu, sich mit einem Urteil geirrt zu haben, denn er hält einen Irrtum für normal, ein Vorurteil für moralisch verwerflich.

 Saira meinte dazu am 08.05.24 um 20:02:
@Mondscheinsonate

Es wäre einfacher, zuzugeben, dass man welche hat. Dann kann man sie revidieren. Wer behauptet, er habe keine, lügt.

@Ekki

Du hast mir weiter unten bei AZU geantwortet (hihi). Muss man Idealist sein, um seine Vorurteile immer wieder neu zu hinterfragen? Ist es nicht viel mehr so, dass man seine Meinung ab und zu konstruktiv selbstkritisch betrachten sollte?

Antwort geändert am 08.05.2024 um 20:03 Uhr

 Mondscheinsonate meinte dazu am 08.05.24 um 20:18:
Ja, sofern bewusst sind, liebe Saira. Das ist die nächste Kategorie. (auch das musste ich heute ankreuzen. Mann, sind MC-Tests bescheuert, anbei.)

 AZU20 (08.05.24, 13:20)
Möglich ist es wahrscheinlich. LG

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 08.05.24 um 14:44:
Hallo Sigi,

ich stimme dir total zu. Aber ein Sophist könnte gegen unsere Position einwenden, dass man mit Vorurteilen gut fährt, weil man von einer Mehrheit mit demselben Vorurteil gestützt wird. Man muss also Idealist sein, um seine Vorurteile immer wieder neu zu hinterfragen.

Liebe Grüße
Ekki

 Kardamom (08.05.24, 14:10)
Manchmal dient die Tatsache, dass es Vorurteile gibt, dazu die Tatsache, dass es Probleme gibt zu unterdrücken.
Es ist bequem, jmd. der ein Problem benennt, als Vorurteilsträger abzuqualifizieren. Davon geht das Problem nämlich nicht weg, im Gegenteil es wird grösser.

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 08.05.24 um 17:24:
Kardamom, Du hast richtig beobachtet, dass der Vorwurf, Vorurteilsträger zu sein, als Polemik im politischen Meinungskampf eingesetzt wird. Solange man sachlich bleibt, ist er relativ leicht zu entkräften, indem man geduldig immer wieder Argumente einfordert.

 Teo (08.05.24, 20:25)
Hi Ekki,
Vorurteile....natürlich habe ich die. Nun ist ja, besonders in Herne, die Bevölkerung gut durchmischt.
Ich gehe in einer kleiner Bäckerei, angehangen an einen Supermarkt, gerne mal frühstücken. ich beäuge besonders die zugereisten Gäste, ob sie denn dann auch ihr Geschirr wegstellen. Mache ich auch nicht mehr. Die Gäste räumen nicht nur alles weg, nein, sie machen auch den Tisch sauber. Im Gegensatz zu dem deutschen Sozialhilfeadel. Die hausen wie der Pöbel. Also alles recht authentisch. Gut, sicher nicht alle.
Aber...soviel zu Vorurteilen.
Lieben Gruß
Teo

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 08.05.24 um 20:42:
Merci, Teo, prima Beispiel. Ich lerne daraus, dass genaues Beobachten hilft, Vorurteile abzubauen.
Liebe Grüße
Ekki

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 09.05.24 um 18:46:
Teo, selbstverständlich lerne ich auch daraus, dass Massenmedien eine Brutstätte von Vorurteilen sind.

 harzgebirgler (09.05.24, 11:09)
ein vorurteil wird oftmals provoziert
durch etwas das der zeitgeist ignoriert:
das ist der gesunde menschenverstand
der gibt seine urteilskraft nicht aus der hand.

lg
henning

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 09.05.24 um 11:22:
Hallo Henning,
Lieber Henning,
es ist interessant, warum der sogenannte gesunde Menschenverstand sich so stark fühlt.
Es sind vorwiegend Akademiker, die Vorurteile bekämpfen, oft herablassend. Deswegen werden die Herablassenden vom sogenannten kleinen Mann darauf beobachtet, ob ihnen das Schicksal eine Nase dreht. Da das nicht selten passiert, glauben die von den Herablassenden Getadelten den gesunden Menschenverstand auf ihrer Seite zu haben. So schaukeln sich auf beiden Seiten Vorurteile hoch.
LG
Ekki

 TrekanBelluvitsh (09.05.24, 13:08)
Ich kann mich noch ganz genau an den Tag erinnern, als ich - wie erwartet - falsch lag. "Bist halt fehlerhaft", dachte ich mir. Dann stellte sich heraus, dass ich gar nicht falsch lag, sondern recht hatte. Ich bin fehlerhaft und vorurteilbehaftet. QED. ;)



Kommentar geändert am 09.05.2024 um 13:19 Uhr

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 09.05.24 um 19:15:
So geht es auch mir, Stefan. Ich frage mich jetzt nach dem Fazit: Wie soll ich mit Vorurteilen umgehen?

1. Ich diskriminiere niemanden wegen Vorurteilen, weil ich weiß, dass ich selbst welche habe.

2. Ich versuche immer an meinen Vorurteilen dran zu bleiben, weil ich weiß, dass die Rückfallgefahr groß ist.
3. In bestimmten Situationen lasse ich mich trotz aller Erkenntnis bewusst von Vorurteilen leiten, um möglichst wenig Schaden zu erleiden. Ich verhalte mich zum Beispiel in der Berliner U-Bahn so, als seien alle Mitreisenden Diebe, obwohl ich weiß, dass dies nur für einige zutrifft.

4. Ich bin mir der Tatsache bewusst, dass auch naturwissenschaftliche Erkenntnisse Vorurteilen unterliegen können, wenn der Forscher seinen Standpunkt nicht mitreflektiert. Beispiel: Dreht sich die Erde um die Sonne?

 TrekanBelluvitsh meinte dazu am 09.05.24 um 22:33:
Ich denke, es ist zunächst einmal sehr wichtig, sich einer  "neuralen Wirklichkeit" bewusst zu sein: Unser Gehirn ist u.a. eine Bewertungsmaschine. Es bewertet alles, was wir wahrnehmen. Dem können wir nicht entgehen. Aber zum Menschsein gehört, sich nicht davon kritiklos steuern zu lassen, sondern es selbst versuchen zu steuern.

Beispiel: Wir sehen eine Torte. Unser Gehirn wird uns zwei Bewertungen senden: lecker und ungesund. Wenn ich gerne Kuchen esse, wird das "lecker" im Vordergrund stehen, mach ich mir weniger aus Gebäck, wird es das "ungesund" sein. Das nennt man "confirmation bias" - man sieht das, was man erwartet.

Was ist nun "richtig"? Beides. Wie sollte man sich verhalten? Ich denke, hier ist der Kontext entscheidend. Hat man schon zwei Stücke Torte gehabt, sollte man auf das Dritte vielleicht verzichten ("ungesund"). Hatte man noch keines, kann man sich eines gönnen ("lecker").



Bei Menschen, die uns begegnen, ist es ähnlich. Sehen wir einen, lesen oder hören wir einen, bekommen wir von unserem Gehirn sofort eine Bewertung.Das muss man lernen zu erkennen. Diese Bewertung ist keine bewusste Entscheidung. Sie ist einfach da. Wichtig ist dann, dass wir uns selbst nicht als Maßstab setzen, sondern als fehlerbehaftet beurteilen.

Ansonsten ist der Vorgang wie oben beschrieben. Es kommt auf den Kontext an. Ein Krankenwagen, der auf uns zugebraust kommt, hat für uns eine andere Bedeutung, wenn wir mit gebrochenem Bein auf der Straße liegen oder ob wir gesund am Rande eines Zebrastreifens stehen.

Für Menschen kommt noch hinzu: Bewerten wir /unser Gehirn sie aufgrund persönlicher oder aufgrund von allgemeinen Merkmalen? Wenn mir jemand mit einer Hakenkreuzfahne in der Hand entgegen kommt, ist die Bewertung "Nazi" angebracht. Das tragen dieser Fahne, ist ein individuelles Merkmal. Kommt mir jemand entgegen, der mit einem starken sächsischen Dialekt spricht, ist die Annahme "Nazi" ein Vorurteil, denn sie beruht auf einem allgemeinen Merkmal - dem sächsischen Dialekt - und ihr liegt die "Annahme" zugrunde, dass alle Sachsen Nazis sind. Dies allerdings nachprüfbar nicht richtig und damit ein Vorurteil.

Das Problem ist, dass solche Bewertungen unseres Gehirns bzw. deren Überprüfung im Einzelfall oft recht einfach sind. Wir begegnen in unserem Leben jedoch immer wieder Gruppen von Menschen und es kann durchaus nötig sein, diese Gruppen zu bewerten, (z.B. weil deren Auftreten uns zu einer sofortigen Reaktion zwingt). Das wird schon schwieriger, weil einzelne Merkmale schwer zu erkennen sind. Also sprechen wir der Gruppe Gruppenmerkmale zu. So oder so wird man der Gruppe damit nicht gerecht, weil es sich um eine Ansammlung von Individuen handelt.

Was können wir gegen solche Verallgemeinerung unsererseits tun? Nun, das einfachste ist, uns zunächst zu fragen, ob die Gruppe, die wir als Gruppe identifiziert haben, tatsächlich eine homogene Gruppe ist? Sind "die Politiker" eine Gruppe? Die Meisten werden nach kurzer Zeit des Nachdenkens zu der Beurteilung kommen, dass sie es nicht sind. Daraus folgt zwangsläufig, dass "die Politiker" gar nicht sinistre Menschen, die nur gegen die Bürger arbeiten, sein können, weil es "die Politiker" nicht gibt.


FAZIT:
Was steht am Ende? Es gibt Vorurteile(Schnellurteile unseres Gehirns). Niemand kann diesen entgehen. Es gibt jedoch kein Allheilmittel gegen sie im Sinne eines Schalters, den man nur umzulegen braucht. Will man sie bekämpfen, muss man dies in jedem Augenblick tun. Es ist ein Kampf, der niemals endet. Und man muss es bewusst tun. Das ist anstrengend UND es ist etwas, was uns zwingt Selbstzweifel zu entwickeln und zuzulassen.

Das nicht zu tun, ist einfacher. Darum heben die Menschen auch so viele Strategien entwickelt, Vorurteile zu rechtfertigen, die, wie wir Deutschen nur zu gut wissen, bis in einen Holocaust führen können.

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 10.05.24 um 20:12:
Vielen Dank, Trekan, dein Fazit ist besonders wertvoll, weil es auf Kenntnissen der Hirnforschung basiert, die es stützen.

 plotzn (12.05.24, 11:43)
Ein interessantes Experiment, lieber Ekki!

Ich halte das Beschriebene für möglich, aber nicht unbedingt wahrscheinlich. Der Zufall müsste schon sehr viele reflektierte Menschen in der Gruppe zusammengebracht haben.
Es hängt meines Erachtens auch nicht an der Intelligenz sondern eher an etwas anderem. Emotionale Intelligenz trifft es zwar auch nicht, was ich meine, kommt dem aber näher. Reflektiertheit, sich an der Sache orientieren und nicht (z.B. aus fehlender Sympathie) mit anderen in Streit geraten, etc.

Liebe Grüße
Stefan

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 12.05.24 um 12:09:
Lieber Stefan,

nehmen wir einmal an, dass jemand reflektiert, an der Sache orientiert und streitresistent ist. Denkst du, dass so einer weniger leicht in Vorurteile verfällt? Ich vermute nein, denn diese Tugenden verlangen immer wieder die Kraft der Geduld und wenn die dann durch gegenteiliges Verhalten enttäuscht wird, ist die Gefahr des Rückfalls in Vorurteile sehr groß.

Liebe Grüße
Ekki

 plotzn meinte dazu am 12.05.24 um 14:28:
Lieber Ekki,

doch, ich denke, dass reflektierte Menschen mit hoher emotionaler Intelligenz sich leichter in andere und deren Verhalten hineinversetzen können und ihr Urteil über andere daher weniger voruteilsbehaftet ist. Natürlich ist niemand frei von Vorurteilen, es geht nur um den Ausprägungsgrad.

Liebe Grüße
Stefan

P.S.: Ich habe mir den Text und meine Antwort(en) noch mal durchgelesen und muss feststellen, dass ich dabei zu sehr im Gedanken verhaftet war, inwiefern sich eine Gruppe mit zunächst unterschiedlichen Meinungen nach Diskussion überhaupt auf eine einheitliche einigen kann und weniger auf die Kernfrage, ob es vorurteilsfreie Menschen gibt. Daher war meine Antwort etwas am Thema vorbei...

Antwort geändert am 13.05.2024 um 07:50 Uhr

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 13.05.24 um 20:25:
Merci, Stefan, deine Antwort ist auf jeden Fall hilfreich. Halten wir für das summary doch diesen Satz fest:
"Natürlich ist niemand frei von Vorurteilen, es geht nur um den Ausprägungsgrad."
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