KLICKS UND CLIQUEN

Synthesen + Analysen in der Matrix


Eine Kolumne von  Bergmann

Samstag, 28. Juni 2014, 16:57
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Reale Traumspielerei

416. Kolumne


Der Lyrikerin Caroline Hartge, die mich fragte, was aus mir geworden wäre, wenn ich keinen Brotberuf ausgeübt hätte, sondern ausschließlich Schriftsteller geworden wäre, antwortete ich: „Bestimmt wäre ich dann ein anderer. Bedenke aber auch: Schlink, Kafka, Goethe – sie waren alle berufstätig. Ein erfolgreicher Autor wäre ich gern (geworden). Aber ich finde jetzt wieder eine Gemeinsamkeit mit HEL. Ich war nicht ehrgeizig genug, wollte mich nicht abstrampeln wie Joachim Zelter zum Beispiel, der auf die 50 zugeht und immer noch nicht wirklich oben angekommen ist ... Die Einsamkeit liebe ich nur temporär. Ich war und bin Ehe- und Familienmensch. ... Ob ich anders schriebe, wenn ich Berufsschriftsteller geworden wäre, fragst du. Sicher, ich müsste ja verkaufen, was ich schreibe, und das meine ich nicht polemisch. Ich hätte mich sicherlich noch besser entwickelt – vor allem in jüngeren Jahren. Die Kraft des großen Einfalls hat man vor allem, wenn man jünger ist. Zu argumentieren, Fontane schrieb seine Romane erst im hohen Alter, ist eine faule Ausrede. Der schrieb immer schon viel. Umberto Eco – nun gut, das sind Ausnahmen. Aber auch Eco schrieb, als Wissenschaftler, schon vorher viel. Die Kraft eines Goethe, der Erster Minister, Schauspieldirektor, Wissenschaftler und Dichter war, habe ich nicht. Soviel Arbeit wollte ich nicht, konnte ich nicht leisten. Ich bin zufrieden mit meinem Lehrerleben, hadere nicht mit meinem Schicksal. Wie ich geworden bin, entspricht mir ganz. Ich habe mich auch als Lehrer nicht auf die Karriereschiene begeben, sondern ging auf in meinen Tätigkeiten als Theaterlehrer mit etwa 20 Inszenierungen und als Klassenlehrer mit 48 Studien- und Klassenfahrten. Ich liebe außerdem zu sehr die Kultur als Betrachter und Rezensent. Und meine Arbeit für den „Dichtungsring“. Es ist gut so, wie es ist. Aber ich gebe zu, der Weg des erfolgreichen Schriftstellers hätte mir auch gefallen. Oder des Kunstsammlers oder des Museumsdirektors. In meiner Jugend spielte ich mit dem Gedanken, Journalist zu werden, aber das passte nicht zu meinem Temperament, allenfalls Feuilleton-Redakteur wäre vielleicht noch gegangen; oder Richter, wie meine Großväter – aber ich bin froh, dass das alles nicht wurde. Ich gehe lieber etwas träumerisch durch mein Leben, was mir schon auf einem der ersten Schulzeugnisse bescheinigt wurde. Ich sehe in Straßenszenen Romanhandlungen, ich sehe mich in den Dingen poetisch gespiegelt, ich sehe mich in meinen Handlungen manchmal als Teil einer Dichtung. Natürlich nicht in jedem Augenblick, aber in bestimmten Phasen des Tages, wenn es passt, wenn es geht, wenn sich damit auch in der Wirklichkeit spielen lässt. Das war ja das Schöne an meinem Lehrerberuf, dass ich mit jungen Leuten zu tun hatte, die auch viel spielten, mit denen ich spielen konnte, die mit mir spielten und die mein Spiel in anderen Wirklichkeiten mitmachten. Das war schon so, als ich noch ein Kind war. In einem Kinderferienheim las ich Prinz Eisenherz. Als ich krank wurde und Fieber hatte, musste ich im Heim bleiben, während die anderen Kinder loszogen in die Natur. Ich stand auf dem Balkon und winkte ihnen zum Abschied – wie Prinz Eisenherz, der „In den Tagen König Arthurs“ auch krank war und nicht mit ins Feld ziehen durfte – die davonziehenden Jungen kannten das Buch, das ich so liebte. Ich nannte mich Prinz Eisenherz, den Titel musste ich mir in mehreren Raufereien erkämpfen. Heute läuft das subtiler. Der Balanceakt zwischen Tagträumerei und dem Bestehen der oft sehr harten Wirklichkeit war und ist ein reizvolles Spiel. Ich weiß, nicht für jeden gilt das. Als meine erste Frau starb, inszenierte ich ihr Begräbnis und den Leichenschmaus, als wäre es eine Theaterinszenierung. Ich fühlte mich wohl in der Rolle, ich stand am Grab und weit über 100 Trauergäste defilierten an mir vorbei, viele kondolierten. Ich glaube an die Kraft eines sinnvollen Ritus. Damit besiegt man natürlich nicht die Trauer, aber man ermöglicht sie erst, weil ein Abschnitt abgeschlossen wird, der gelebt wurde. Letztlich ist das im Leben erfahrene Glück viel wichtiger als die Sehnsucht Hölderlins. Den Nachruhm erfahren wir nicht. „Einmal lebt’ ich wie Götter ...“ beziehe ich auf das von mir erschaffene Lebenskunstwerk, das mir phasenweise, stückweise gelingen kann. „Und mehr bedarfs nicht!“
Meine neue Altersphase: Seit vier Jahren bin ich Pensionär. Ich habe immer noch mit meiner Verlusttrauer zu tun, ich war zu gern Lehrer. Mir fehlen die jungen Menschen, die Mitspieler meines träumerischen Wesens. (Darum geht es in meinem Roman „Die Namen der Nacht“, allerdings nur in geringem Maße autobiographisch.)
Ich schreibe mehr Rezensionen als früher – vor allem für fixpoetry.com (Frank Milautzcki). Ich lese mehr, auch nichtliterarische Werke, zuletzt George Grosz, Ein kleines Ja und ein großes Nein. Ich erfahre mit dem Rad die Schönheit des Alleinseins in der Natur, ich fahre bis Köln und Koblenz, oder an der Sieg entlang bis Siegburg und Hennef.
Immer wieder lerne ich Neues kennen. Obwohl ich in der ‚klassischen’ Musik das meiste kenne, so fehlten mir doch die Kantaten Bachs, die ich immer vor mir her geschoben hatte, obwohl ich die Matthäus- und Johannes-Passion, die Messe in h-moll und das Weihnachtsoratorium (was ja Kantaten sind) gern hörte. Nun aber öffnet sich mir ein weiteres Wunder der Musik in den Kantaten.
Oder Rossini. Ich erlebte in diesem Sommer zwei Opern bei den grandiosen Wildbader Festspielen – und geriet in ein Rossinifieber. Seit einem halben Jahr lerne ich Chinesisch, um mich auf mein Literaturseminar vorzubereiten, das ich in Qingdao halten werde. Ich bin verliebt in diese Sprache und ihre Zeichen. So öffnet auch die Realität immer wieder Räume des Spiels und einer aktiven Träumerei.“

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Kommentare zu diesem Kolumnenbeitrag


 W-M (01.08.14)
Altersweisheit und Lebenserfahrung sind scheiß Wörter. Vor kurzem dachte ich: Das schlimmtste an Gedichten ist die Ungeduld!"

Und ein Vers in einem meiner Gedichte lautet: "Im geträumten Leben bin ich wach."

Grüße aus dem Schwarzwald an den Rhein lieber Uli, werner

 EkkehartMittelberg (02.08.14)
"Letztlich ist das im Leben erfahrene Glück viel wichtiger als die Sehnsucht Hölderlins. Den Nachruhm erfahren wir nicht."
Dieser Satz ist richtig, wenn das Leben in seiner ganzen Vielfalt das Ziel des Lebens ist. Wenn es aber die Kunst ist, entfaltet die Sehnsucht Hölderlins eine ungeheure Kraft, gleichgültig, ob wir Nachrum erfahren oder nicht.
Deine reale Traumspielerei zeugt von dem Glück eines Menschen, der diszipliniert genug ist, sein Leben, zumindest phasenweise, als Traumspiel zu gestalten.
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