119,5 Sekunden

Erzählung zum Thema Heimweg/ Heimkehr

von  Mutter

Zwei Tage später ist klar: Ich hätte gleich mit Molly in den Flieger steigen können. Ich habe nichts, keine Spur, die mich weiter bringt. Bis auf die Namen, die aus Belfast gekommen sind. Die ich aus Welshie herausgepresst habe – excuse the pun.
Wer auch immer mir dauernd an den Karren fährt, meinen Arsch ins Abseits stellen will, sitzt dort drüben. In Eire.
Ich habe keine Lust, mich in diesen Sumpf zu begeben. In dieses alte Minenfeld aus Nationalisten und Paramilitärs, wo jeder nach Feierabend zum Kriminellen, Politiker, Terroristen oder alles zusammen wird. Wo die alten Feindschaften knapp unter der Oberfläche liegen, unzureichend überdeckt vom frischen Schorf der Versöhnung. Wo, wenn man knibbelt, es sofort wieder zu bluten anfängt.
In der Vergangenheit hatte ich meine Position gerne unabhängig von Politik, Religion und ähnlichen Seilschaften gehalten – das war dort oben unmöglich. Neutralität hatte keinen Platz in dem zerrissenen kleinen Land. Es sieht nicht so aus, als würde ich darum herumkommen, ein bisschen im nordirischen Dreck rumzustochern.

Collie besorgt mir den Flug und Stout fährt mich zum Flughafen.
‚Ruf mich an, wenn du mich brauchst, Buddy.’ Der Schwarze sieht mich bedeutungsschwanger mit seinen dunklen Augen an und legt mir seine Pranke auf die Schulter.
Ich verspreche es - großes Pfadfinderehrenwort. Stelle mir kurz vor, wie sich die beiden Brüder in einen Flieger quetschen, um mir zu Hilfe zu eilen wie der bedrängten Jungfrau am Abend der primae noctis. Muss lächeln.
Stout grinst zurück, drückt noch mal fest zu. ‚Pass auf dich auf, Alter.’
Ich nicke und steige aus. Hätte die beiden gerne mitgenommen, als Rückversicherung. Ohne konkreten Nutzen kann ich mir das kaum leisten – weder die Kohle noch die Gefallen, die ich Stout schulden würde.
Es würde eine ganze Weile dauern, bis ich noch mal freiwillig von jemandem Hilfe annehmen würde. Die Geschichte mit Molly ging mir mehr auf den Sack als ich erwartet hatte.

Belfast International Airport begrüßt mich mit untypischem Sonnenschein. Passend zu meiner Stimmung und zum Klischee hatte ich mich auf Nieselregen, Nebel oder ähnlich ungemütliches Wetter eingestellt. Ich lasse mich nicht täuschen, beäuge diese Schlange von Stadt misstrauisch. Und merke: Corker hat Schiss. Eine Scheiß-Angst.
In Berlin gibt’s genügend Leute, vor denen man echt Respekt haben muss, aber der größte Teil ist aufgeblasen. Wannabees. Poser.
Hier ist das anders. Die Schlagzahl höher. Mir würden sofort mehrere Dutzend Leute einfallen, denen ich nachts im Dunklen nicht begegnen möchte. Wo’s nicht ums Posing, ums Gefackel, sondern gleich zur Sache geht.
Belfast ist Kampf. Ist es immer schon gewesen.
An die Atlantikküste, im Norden nicht weit von hier, hatte ich angenehmere Erinnerungen. Die Zeit habe ich geliebt. Und die Frau.
Mit einem Seufzer gehe ich rüber zum Taxistand. Lege einem blutleeren Anzugträger die Hand auf die Schulter, hindere ihn am Einsteigen. Gebe ihm mit einem Blick, der Robert DeNiro stolz machen würde, zu verstehen: Das ist meins, Buster. Er hat genug Filme mit dem Mann gesehen, um mich zu verstehen. Überlässt mir das Taxi mit gequältem Lächeln. Ich nicke höflich, während ich einsteige. Weiß ja, was sich gehört.
‚In die Innenstadt’, weise ich den Pakistani an.
Wenn ich nicht direkt zurück ins Flugzeug steigen will, bleibt mir nichts anderes übrig, als mich dieser Stadt zu stellen. Meiner Vergangenheit.

Der Taxifahrer nimmt meine Euro zu einem völlig überzogenen Kurs. Note to self: Verfickte Pfund besorgen, dringend. Hätte ich gleich am Flughafen machen sollen.
Er setzt mich an der Falls Road ab und langsam wandere ich runter, nach Osten. Hole mir in einer Bank britische Pfund, couple o’ quid, bevor ich die Castle Street runterpilgere. Kurz darauf stehe ich vor meinem Ziel.
Draußen hängt das verwitterte Schild, das seit einer Dekade die „Brown Goat“ ziert. Nach einem letzten Augenblick des Zögerns stoße ich die Tür auf, schlüpfe nach drinnen. Die Schultern unangenehm verkrampft.
Es ist noch nicht mal Fünf, und drinnen finden sich ein paar Regulars, die mich kurz mustern. Um sich dann wieder ihren Pintgläsern zu widmen.
Der Junge hinter der Bar, Anfang Zwanzig, sieht, wie ich auf das halbvolle Glas meines Nebenmannes zeige und den Finger hebe. Er nickt und beginnt, das Guinness zu zapfen.
Ich lehne mich an die Bar, den Rücken zu ihm. Weiß, dass er mich mustert. Die Braune Ziege gehört zu den sogenannten Irish-Clutter-Pubs, wie man sie in größeren Städten überall findet. Die Wände voll von clutter: Memorabilia, alte Emaille-Schilder, schlaue Sprüche, ledernes Zaumzeug oder Musikinstrumente. Nur Mist.
Die Decke ist niedrig, die Stühle und dazu gehörigen Tische ebenfalls. Es ist dunkel, die winzigen Fenster seit Generationen von Rauch und Qualm verquarzt.
Bevor ich ihn höre, drehe ich mich um. Sehe befriedigt, dass mein Zeitgefühl noch stimmt. Ein perfektes Pint braucht zwei Minuten. 119,5 Sekunden, wenn man die Guinness-Brauerei fragt.
Der Barkeeper sieht mich mit hochgezogenen Augenbrauen an, während ich darauf warte, dass das Pint sich beruhigt. Er hat darauf verzichtet, mir einen Shamrock oder ähnlichen Firlefanz mit dem Zapfhahn in die Schaumkrone zu malen – derart dicht am Stadtzentrum bekommen Touristen so was frei Haus.
Als die letzten Reste der hellen Bläschen aufgestiegen sind, nehme ich einen hungrigen Zug, trinke die erste Hälfte des Pints weg.
‚Danny, richtig?’ sage ich dann, die Augen zusammen gezogen. Als hätte ich Schwierigkeiten, mich zu erinnern.
Er ist erstaunt, nickt. Stößt sich vom hinteren Tresen ab, macht einen unsicheren Schritt auf mich zu. Kennt mich nicht mehr.
‚Du warst acht oder neun. Würde nich erwarten, dass du dich an mich erinnerst.’
‚Wer sind Sie?’ Ein leichtes Kopfschütteln – es irritiert ihn, dass er mich nicht einordnen kann. Mein Akzent stempelt mich klar ab, sagt, ich komme aus der Republik. Bin Republican, kein Loyalist.
Ich widme mich wieder dem Pint. Setze das Glas ab, wische mir mit dem Handrücken über den Mund. ‚Sag deinem Vater, Corker will ihn sprechen.’
Seine Augen weiten sich. Ich unterdrückende ein triumphierendes Grinsen, während ich den Rest des Pints in einem weiteren langen Satz austrinke. Mein Name ist meine Trademark.
Als er sich gerade entfernen will, mich dabei nicht aus den Augen lässt, schiebe ich ihm das Glas aufmunternd rüber und füge hinzu: ‚Aber bevor du gehst – mach mir noch eins davon.’
Er kehrt zurück, zapft mir ein weiteres Stout. Beobachtet mich, weicht meinem Blick aus, wenn ich lächelnd zu ihm rüber sehe.
Ich bekomme mein Glas gefüllt zurück. Er verschwindet nach hinten raus.
Danny war immer schon eine kleine Ratte. Ein fieser kleiner Schisser, den niemand leiden konnte. Ich nehme nicht an, dass die Zeit ihn verändert hat. Kann mir egal sein – wichtig ist sein Vater.

Ein paar Minuten später ist Danny zurück. Kurz darauf folgt sein Dad.
Der alte Drummond mustert mich argwöhnisch, als er auf mich zukommt. Dabei trocknet er sich die Hände an einem schmutzigen Geschirrtuch ab.
‚Corker? Scheiße, nach all den Jahren. Könntest ein Geist sein.’
Ich antworte nicht, lächle milde und nehme einen weiteren Zug von dem Bier.
‚Komm mit’, sagt er in meine Richtung gewandt und nickt seinem Sohn zu.


Anmerkung von Mutter:

Back in business ...
Tät ich sagen.

*edit: Hab' noch mal ein paar Sachen, die E. und das Kitten beanstandet haben, geändert ...

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Kommentare zu diesem Text

Kitten (36)
(17.06.09)
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 Mutter meinte dazu am 17.06.09:
Mmmh, das mit der Rückkehr stimmt. Vielleicht geht da noch was ...
Bisschen was von der schmerzenden irischen Melancholie. :)

Und vielleicht kann ich der Stewardess noch 'nen Twist geben, so'n selbstironischen, dann passt das vielleicht auch besser.

Danke. :)
Elvarryn (36)
(17.06.09)
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Kitten (36) antwortete darauf am 17.06.09:
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 Mutter schrieb daraufhin am 17.06.09:
:)

Lustiges Experiment.
Und ja, kann ich was mit anfangen. Iss ja genug drin ... ;)
Manches ist konkret hilfreich, anderes mehr generell.

Zum Geschwafel muss ich mir mal wahrscheinlich längere Gedanken machen. Ist halt schwierig, wenn der gesamte Tonfall des Textes darauf angelegt ist, dass er auch erzählt werden könnte - da gehört (zumindest der Eindruck von) Geschwafel halt dazu. Muss ich mal sehen, wo ich da ganz vorsichtig mit der Rasierklinge was raustrennen kann, um das Ganze geschmeidig zu halten.

Danke schön ... :)

@Kitten: Ich glaube, der E. hält jetzt den Rekord - war auch clever, mit'm Komplett-Quote ... :D
Elvarryn (36) äußerte darauf am 17.06.09:
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 RainerMScholz (27.10.09)
Oh Mann, ich dachte, das Wort Poser gibt es gar nicht mehr. Cool!
Und de Niro im Taxi - schon klar. Vielleicht kann Corker in den Rückspiegel sprechen: Guckst du mich an, sprichst du etwa mit mir, usw.
Grüße,
R.

 Mutter ergänzte dazu am 27.10.09:
You talkin' to me? Hey, you talkin' to me? 'Cause I don't see anybody else here ...

Mmmh, Du bringst mich auf Gedanken. :D

Danke.
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