Die Flusskinder (überarbeitete Version)
Erzählung zum Thema Streit
von tulpenrot
Die Flusskinder
Wenn es Abend wurde, war unser Dorf angenehm ruhig. Die Vögel sangen ihr letztes Lied, die Blumen schlossen ihre Blüten. Am Morgen vor dem ersten Sonnenstrahl erwachten die Vögel wieder, zwitscherten ihren Morgengruß und die Blumen öffneten ihre Blütenkelche und strahlten in der hellen Morgensonne. Es war schön in unserem Dorf.
Jeden Morgen liefen die Kinder zur Schule. Einige mussten über die Brücke gehen. Durch unser Dorf fließt nämlich ein großer Fluss. Die Kinder, die über die Brücke zu uns in die Schule kamen, waren die Ostkinder. Wir waren die Westkinder. Auf unserer Seite war die Schule. Bei uns ging die Sonne abends unter. Am anderen Ufer des Flusses ging die Sonne morgens auf und kam dann zu uns herüber. Und wenn bei uns Dämmerung war und noch die Sonne ein wenig funkelte, war es drüben schon dunkel und ganz still. Nur manchmal bellte ein Hund auf, weil eine Katze ihn erschreckte.
Linte kam morgens immer schon sehr früh über die Brücke in unser Dorf und Mulle rannte hinter ihm her. Sie kamen so früh, damit sie uns ärgern konnten, weil wir noch gar nicht richtig wach waren vor der Schule. Sie klopften an unsere Fenster und riefen:
"Rasselmasse - Borstenriecher" oder "Milchbecher - Nadelstecher", was uns richtig wütend machte. Etwas später lief Olme über die Brücke, bog in unsere Straße ein und klopfte mit einem Stock an unsere Haustür so laut, dass unser Vater ärgerlich wurde und die Mutter auch.
Unsere Katze fauchte wütend und peitschte mit ihrem dicken Schwanz. Aber das störte Olme nicht. Er lachte nur.
Der alte Schneider auf unserer Seite war schon ein wenig schwerhörig. Nach der Schule liefen Linte, Olme und Mulle zu ihm ans Gartentor und riefen laut: "Der Topf kocht!" – doch er verstand: "Der Kopf pocht" und wusste nicht, was gemeint war.
Ein anderes Mal riefen sie: „Es regnet wirklich literweise!“ Und er verstand: "Ach, wäre das Gewitter leise!" und sagte: „Ach, was; das Gewitter ist nie leise.“ Da lachten Mulle, Olme und Linte und hielten sich die Bäuche.
Einmal füllten die Ostkinder rote Farbe in die Schläuche bei unserer Feuerwehr und freuten sich, als beim Löschen unserer Brücke rote Farbe herausspitzte anstelle von Wasser. Aber so weit sind wir noch nicht in unserer Geschichte, das geschieht eigentlich erst später. Vorher muss ich noch erzählen, was wir den Ostleuten für Streiche spielten.
Abends ist es ja auf der Ostseite früher dunkel als bei uns. Im Dunkeln rannten wir über die Brücke. Niemand konnte uns sehen. Jalte schlich sich in die Räucherkammer und stahl dem Metzger heimlich einen Schinken. Hanko schüttete Milch auf die Straße, die der Bauer in einer Kanne an den Straßenrand gestellt hatte, damit das Milchauto sie am nächsten Morgen abholen sollte. Das muss man sich mal vorstellen: Alle Autos, die in der Dunkelheit durch die Milchpfützen fuhren, wurden weiß gespritzt und am nächsten Morgen schon stank die ganze Stadt nach saurer Milch. Das war ein Spaß. Tremge aber schlich sich zum Haus des Lehrers, zerstach draußen im Garten die Reifen seines Fahrrads, schlich sich in die Studierstube und nahm heimlich alle Bücher des Lehrers mit. Er rannte mit ihnen über die Brücke und versteckte sie am Ende der Brücke in einem Gebüsch. Wir wollten nicht, dass die Ostkinder in unsere Schule kamen. Und den Lehrer wollten wir auch nicht. Schließlich konnten wir alle, die wir auf unserer Seite des Flusses wohnten, die Leute auf der anderen Seite des Flusses nie gut leiden.
Mulles Vater hatte Streit mit Tremges Vater.
Lintes Mutter hatte Streit mit Jaltes Mutter.
Hankos Schwester hatte Streit mit Olmes Schwester.
Eigentlich war es ziemlich überflüssig, dass wir eine Brücke hatten. Die Leute auf der anderen Seite sollten alleine bleiben. Wir wollten sie nicht bei uns haben. Und die Leute drüben waren ärgerlich auf uns. Sie wollten uns nicht auf ihrer Seite haben. Keiner mochte den anderen leiden.
Vor langer Zeit gab es noch eine zweite Brücke über den Fluss, ja sogar über die ganze Landschaft. Doch an sie konnte sich kaum jemand mehr erinnern. Die Leute im Osten dachten noch nie daran, und wir im Westen hatten sie vergessen. Es war der Regenbogen, der immer am Himmel stand und der uns daran erinnern sollte, dass Gott das Land und die Menschen segnen wollte: die Kinder und die Alten und die Jungen, die Einsamen und die Kranken und die Fröhlichen. Der Regenbogen war eines Tages verschwunden. Keiner hatte es bemerkt und keinem war es aufgefallen. Wer guckt denn auch schon an den Himmel?
Der Bäcker nicht, weil er meistens in den Ofen nach dem Brot und dem Kuchen schaut - und nach dem Bäckerjungen.
Der Feuerwehrmann nicht, denn er muss aufpassen, dass kein Feuer in der Scheune brennt.
Der Bauer nicht, weil er im Stall zu tun hat und aufs Feld fahren muss.
Der Lehrer nicht, weil er in den Büchern liest und an die Tafel schreibt. Der Schneider hatte auch kein Auge dafür, er war zu arm und schon zu alt.
Allein der Doktor erinnerte sich manchmal daran, dass er als Kind den Regenbogen gesehen hatte. Aber mit Sicherheit konnte er es nicht sagen, schließlich war das lange her, und womöglich hatte er nur davon geträumt. Der Regenbogen am Himmel zwischen Sonne und dunklen Wolken, das war für ihn wie ein Versprechen, dass Gott da ist und er den Menschen nahe sein will. Er fühlte sich damals geborgen und sicher. Doch inzwischen war er ein erwachsener Mann geworden und meinte daher, er könne nicht mehr träumen wie in Kindertagen.
Als unsere Brücke eines Morgens brannte, war es für niemanden etwas Besonderes. Wir standen alle von Ferne und beobachteten das Feuer, damit es nicht auf unsere Scheunen kam und auf unsere Häuser. Ich dachte zwischendrin ein wenig an Tremge und an die Bücher des Lehrers in den Büschen am Ende der Brücke. Tremge sah ein bisschen weiß um die Nase aus, als ich ihn beobachtete. Aber da die Brücke aus Holz war, hatte sie so schnell Feuer gefangen, dass niemand mehr recht wusste, ob sie im Westen oder im Osten angefangen hatte zu brennen. Und Tremge sagte auch kein einziges Wort. Der Feuerwehrmann ließ sich Zeit, baute umständlich die Schläuche zusammen und richtete sie auf das Feuer. Aber wie groß war das Gelächter, als eine rote Brühe herausschoss. Ihr wisst ja, warum das so war. Noch ehe die Sonne richtig aufgegangen war, krachte die brennende Brücke mit einem gewaltigen Getöse zusammen und fiel in den Fluss.
In der nächsten Zeit wollte niemand sie wieder neu aufbauen. Jeder war froh, den Streit auf diese Weise los zu sein. Schließlich konnte man sich jetzt nicht mehr treffen und böse Worte sagen. Lieber erzählte man sich abends auf den Bänken vor den Häusern merkwürdige Geschichten über die Leute am anderen Ufer des Flusses.
"Die schlachten Regenwürmer", sagte man oder "Sie braten Raupen und trinken Gänsemilch", obwohl man von Gänsen doch keine Milch bekommen kann, oder "Die haben so große Löcher in Kleidern und Hosen, dass ihre Dummheit und ihre Faulheit gleichzeitig herausschauen können“. Das kam natürlich daher, weil sie keinen Schneider hatten.
Die Mütter ärgerten sich über ihre Kinder, die nur noch zu Hause Unsinn machten und nicht mehr zur Schule gingen, weil der Lehrer auf der anderen Seite des Flusses wohnte.
Im Westen musste man das Brot selber backen, aber weil man ungeschickt war, verbrannte es sehr oft im Ofen, weil der Bäcker auf der anderen Seite des Flusses wohnte.
Niemand konnte mehr frische Milch und Käse kaufen, weil der Bauer auf der anderen Seite des Flusses wohnte. Wenn es im Osten irgendwo brannte, kam keine Feuerwehr, weil die Feuerwehr auf der anderen Seite des Flusses wohnte. Die Kühe im Osten waren krank, weil der Doktor auf der anderen Seite des Flusses wohnte. Und für die kranken Menschen war auch niemand da.
Tremge wurde von Tag zu Tag blasser und dünner. Wir trauten uns gar nicht zu fragen, was mit ihm los war. Er hatte ganz dunkle traurige Augen und sprach kaum noch ein Wort. Und auch Hanko wurde immer stiller, Jalte aber stand abends oft am Ufer des Flusses und summte ein Lied, das er einmal gehört hatte, vor sich hin. „Hineh ma tov uma na'im shevet achim gam yachad“. Es klang wehmütig, und mir kamen die Tränen, als ich es zum ersten Mal hörte. Eines Abends kam leise der Doktor dazu und summte die Melodie mit. Und noch einen Abend später gesellte sich der Feuerwehrmann dazu und zuletzt der Schneider. Alle vier standen am zweiten Abend da und sangen. „Hineh ma tov uma na'im shevet achim gam yachad“.
Am dritten Abend aber hörten wir leise Flötenmusik vom anderen Ufer herüber.
Ich dachte mir gleich: Das konnte nur Linte sein. Am vierten Abend sah man, wie Mulle im Gras saß neben Linte und eine Trommel schlug. Das machte den Lehrer neugierig. Er schaute aus dem Fenster und, nachdem er eine Weile zugehört hatte, kam er mit seinem Akkordeon dazu. Ich konnte mich erinnern, wie er oft damit in der Schule gespielt hatte. Aber das war ja nun schon lange her. Und so ging es Abend für Abend. Eines Abends stand auch Hanko unter den Sängern bei uns. Er kletterte in den Baum und spielte auf seiner Geige eine wundersame Melodie. Vom anderen Ufer her antwortete Olme auf seiner Mundharmonika mit einer ebenso wundersamen Melodie. Das ging so, bis es Herbst wurde und kühl, und der Feuerwehrmann war der erste, der auf unserem Ufer ein Feuer anzündete, damit wir nicht froren. Und drüben war es der Bäcker, der einen Ofen brachte und darin Stockbrot für die Kinder buk. Das duftete bis zu uns herüber und wir wurden ganz hungrig. Als der Bauer drüben noch mit warmer Milch und Honig für die Kinder kam, wurden wir ganz neidisch. Nur Tremge war nicht zu sehen. Und viele Leute aus dem Dorf hüben und drüben waren auch nicht zu sehen, sondern sie tuschelten und fragten sich, was das alles zu bedeuten hatte.
Eines Nachts aber ging im Hause des Doktors das Licht nicht mehr aus. In derselben Nacht blieb Tremges Bett leer. Gegen Morgen hörte man ein leises Plätschern im Fluss, aber niemand achtete darauf. Niemand aber wusste, wo Tremge war an diesem ganzen langen Tag und der vorherigen Nacht. Und niemand wusste, wo der Doktor war an diesem ganzen langen Tag. So sehr wir sie suchten, wir konnten sie beide nicht finden. Am Abend dieses traurigen Tages gingen wir alle ans Ufer des Flusses. Wir wollten uns an dem Feuer wärmen und zusammen singen. Vielleicht half das ja gegen das Traurigsein. Und so sangen wir erst leise und dann immer lauter. “Hinneih matov uma naim ...“ Auf der anderen Seite des Flusses standen sie auch zusammen, spielten ihre Musik und tranken warme Milch und aßen warmes Brot. Wieder plätscherte es leise im Fluss. Wir staunten nicht schlecht, als ein Boot herangerudert kam und aus ihm der Doktor ans Ufer sprang und nach ihm Tremge. Und dann kam auch noch der Lehrer aus dem Boot. Tremge hatte ganz rote Wangen vor Aufregung. Der Lehrer hatte sein Akkordeon mitgebracht und begann so lustig zu spielen, dass wir alle zu tanzen begannen. Und so merkten wir nicht, wie jemand das Boot leise wieder vom Ufer löste und hinüberruderte. Es waren der Feuerwehrmann und Hanko und Jalte, denn sie hatten gesehen, wie drüben der Ofen des Bäckers viel zu heiß glühte, und sie schnell mithelfen mussten, das Feuer mit Flusswasser zu löschen. Und wieder plätscherte das Wasser und diesmal kamen Mulle und Olme und Linte mit dem Bauern, weil sie mit uns tanzen wollten. Und so ging es den ganzen Abend, das Boot wurde dauernd hin- und hergerudert. Und so ging es auch in den nächsten Tagen - hin und her. Aber besonders eifrig waren Tremge und der Doktor. Sie ruderten jeden Tag hinüber zum Lehrer. Und der Lehrer ruderte oft zu uns herüber und verschwand im Doktorhaus. Es war sehr geheimnisvoll.
Eines Tages hing an unserem Ufer an der Stelle, wo früher einmal der Brückenkopf war, ein großer Plan. Darauf war eine große neue Stein-Brücke gezeichnet, wie man sie sich besser und bequemer nicht vorstellen konnte. Und dieselbe Zeichnung hing drüben auf der anderen Seite des Flusses. Tremge, der Doktor und der Lehrer standen daneben.
„Wir wollen, dass wieder eine neue Brücke gebaut wird“, sagte der Doktor. „Wer mitmachen will, kommt morgen früh hierher und bringt einen Stein mit“, sagte der Lehrer. „Alle können mithelfen, die Großen und die Kleinen“, rief Tremge. Jeder wollte dabei sein. Jeder brachte einen Stein mit. Die Leute drüben bauten und wir bauten an der Brücke. Den ganzen Tag über. Und der Abend endete mit unseren Liedern und unserer Musik am Fluss. Die Brücke wurde länger und fester. Und eines Tages stand sie fertig da.
Nun trafen sich alle Leute auf der Brücke, lachten und tanzten, und der Schneider hatte viel zu tun, weil sie plötzlich neue Kleider von ihm wollten, damit sie beim Tanzen schön aussahen. Und der Bauer hatte alle Hände voll zu tun, ebenso der Bäcker. Und der Lehrer wurde tausend Dinge gefragt, die die Kinder nicht wussten. Und jeder wollte mit dem Feuerwehrauto fahren. Das Schönste aber war, dass der Doktor eines Mittags, als er gerade ganz müde vom Brückenbauen da saß und zum Himmel schaute, einen Regenbogen sah. Er rief sie alle zusammen: die Mütter aus den Küchen, den Bauern aus seinem Stall, den Metzger aus der Räucherkammer, den Feuerwehrmann aus seinem Auto. Alle bestaunten den leuchtenden Farbenbogen am Himmel. Der Lehrer fand in seinem einzigen Buch, das ihm geblieben war, etwas über den Regenbogen und las es allen laut vor, den Leuten hüben und den Leuten drüben:
„Der Regenbogen ist ein Zeichen dafür, dass Gott mit den Menschen vor langer Zeit einen Bund geschlossen hat. Er hat versprochen, dass er nicht aufhören will, ihnen gut zu sein und sie zu segnen. Er will ihnen Regen schicken zu seiner Zeit und Sonne zur rechten Zeit. Immer wieder soll es Tag werden nach der Nacht, und die Nacht soll kommen nach jedem Tag, damit sich Menschen und Tiere ausruhen können. Gott will Frieden für seine Menschen.
Seitdem haben wir wieder unsere zwei Brücken, eine zum Hinüberlaufen und eine zum Bestaunen. Wir können gut damit leben. Ich glaube, wir haben begriffen, dass auch wir Frieden schließen sollten mit Gott und untereinander. Wenn uns Brücken mit einander verbinden, dann können wir auch wieder gut zu einander sein.
Warum aber Tremge in der Nacht mit dem Doktor zusammen zum Lehrer hinüberruderte und erst am nächsten Morgen nach Hause kam, hat nie jemand genau erfahren. Nur denken konnte man sich einiges.
In Anlehnung an: Max Bolliger, Die Kinderbrücke
und an J. Oppenheim, Auf der anderen Seite des Flusses
Wenn es Abend wurde, war unser Dorf angenehm ruhig. Die Vögel sangen ihr letztes Lied, die Blumen schlossen ihre Blüten. Am Morgen vor dem ersten Sonnenstrahl erwachten die Vögel wieder, zwitscherten ihren Morgengruß und die Blumen öffneten ihre Blütenkelche und strahlten in der hellen Morgensonne. Es war schön in unserem Dorf.
Jeden Morgen liefen die Kinder zur Schule. Einige mussten über die Brücke gehen. Durch unser Dorf fließt nämlich ein großer Fluss. Die Kinder, die über die Brücke zu uns in die Schule kamen, waren die Ostkinder. Wir waren die Westkinder. Auf unserer Seite war die Schule. Bei uns ging die Sonne abends unter. Am anderen Ufer des Flusses ging die Sonne morgens auf und kam dann zu uns herüber. Und wenn bei uns Dämmerung war und noch die Sonne ein wenig funkelte, war es drüben schon dunkel und ganz still. Nur manchmal bellte ein Hund auf, weil eine Katze ihn erschreckte.
Linte kam morgens immer schon sehr früh über die Brücke in unser Dorf und Mulle rannte hinter ihm her. Sie kamen so früh, damit sie uns ärgern konnten, weil wir noch gar nicht richtig wach waren vor der Schule. Sie klopften an unsere Fenster und riefen:
"Rasselmasse - Borstenriecher" oder "Milchbecher - Nadelstecher", was uns richtig wütend machte. Etwas später lief Olme über die Brücke, bog in unsere Straße ein und klopfte mit einem Stock an unsere Haustür so laut, dass unser Vater ärgerlich wurde und die Mutter auch.
Unsere Katze fauchte wütend und peitschte mit ihrem dicken Schwanz. Aber das störte Olme nicht. Er lachte nur.
Der alte Schneider auf unserer Seite war schon ein wenig schwerhörig. Nach der Schule liefen Linte, Olme und Mulle zu ihm ans Gartentor und riefen laut: "Der Topf kocht!" – doch er verstand: "Der Kopf pocht" und wusste nicht, was gemeint war.
Ein anderes Mal riefen sie: „Es regnet wirklich literweise!“ Und er verstand: "Ach, wäre das Gewitter leise!" und sagte: „Ach, was; das Gewitter ist nie leise.“ Da lachten Mulle, Olme und Linte und hielten sich die Bäuche.
Einmal füllten die Ostkinder rote Farbe in die Schläuche bei unserer Feuerwehr und freuten sich, als beim Löschen unserer Brücke rote Farbe herausspitzte anstelle von Wasser. Aber so weit sind wir noch nicht in unserer Geschichte, das geschieht eigentlich erst später. Vorher muss ich noch erzählen, was wir den Ostleuten für Streiche spielten.
Abends ist es ja auf der Ostseite früher dunkel als bei uns. Im Dunkeln rannten wir über die Brücke. Niemand konnte uns sehen. Jalte schlich sich in die Räucherkammer und stahl dem Metzger heimlich einen Schinken. Hanko schüttete Milch auf die Straße, die der Bauer in einer Kanne an den Straßenrand gestellt hatte, damit das Milchauto sie am nächsten Morgen abholen sollte. Das muss man sich mal vorstellen: Alle Autos, die in der Dunkelheit durch die Milchpfützen fuhren, wurden weiß gespritzt und am nächsten Morgen schon stank die ganze Stadt nach saurer Milch. Das war ein Spaß. Tremge aber schlich sich zum Haus des Lehrers, zerstach draußen im Garten die Reifen seines Fahrrads, schlich sich in die Studierstube und nahm heimlich alle Bücher des Lehrers mit. Er rannte mit ihnen über die Brücke und versteckte sie am Ende der Brücke in einem Gebüsch. Wir wollten nicht, dass die Ostkinder in unsere Schule kamen. Und den Lehrer wollten wir auch nicht. Schließlich konnten wir alle, die wir auf unserer Seite des Flusses wohnten, die Leute auf der anderen Seite des Flusses nie gut leiden.
Mulles Vater hatte Streit mit Tremges Vater.
Lintes Mutter hatte Streit mit Jaltes Mutter.
Hankos Schwester hatte Streit mit Olmes Schwester.
Eigentlich war es ziemlich überflüssig, dass wir eine Brücke hatten. Die Leute auf der anderen Seite sollten alleine bleiben. Wir wollten sie nicht bei uns haben. Und die Leute drüben waren ärgerlich auf uns. Sie wollten uns nicht auf ihrer Seite haben. Keiner mochte den anderen leiden.
Vor langer Zeit gab es noch eine zweite Brücke über den Fluss, ja sogar über die ganze Landschaft. Doch an sie konnte sich kaum jemand mehr erinnern. Die Leute im Osten dachten noch nie daran, und wir im Westen hatten sie vergessen. Es war der Regenbogen, der immer am Himmel stand und der uns daran erinnern sollte, dass Gott das Land und die Menschen segnen wollte: die Kinder und die Alten und die Jungen, die Einsamen und die Kranken und die Fröhlichen. Der Regenbogen war eines Tages verschwunden. Keiner hatte es bemerkt und keinem war es aufgefallen. Wer guckt denn auch schon an den Himmel?
Der Bäcker nicht, weil er meistens in den Ofen nach dem Brot und dem Kuchen schaut - und nach dem Bäckerjungen.
Der Feuerwehrmann nicht, denn er muss aufpassen, dass kein Feuer in der Scheune brennt.
Der Bauer nicht, weil er im Stall zu tun hat und aufs Feld fahren muss.
Der Lehrer nicht, weil er in den Büchern liest und an die Tafel schreibt. Der Schneider hatte auch kein Auge dafür, er war zu arm und schon zu alt.
Allein der Doktor erinnerte sich manchmal daran, dass er als Kind den Regenbogen gesehen hatte. Aber mit Sicherheit konnte er es nicht sagen, schließlich war das lange her, und womöglich hatte er nur davon geträumt. Der Regenbogen am Himmel zwischen Sonne und dunklen Wolken, das war für ihn wie ein Versprechen, dass Gott da ist und er den Menschen nahe sein will. Er fühlte sich damals geborgen und sicher. Doch inzwischen war er ein erwachsener Mann geworden und meinte daher, er könne nicht mehr träumen wie in Kindertagen.
Als unsere Brücke eines Morgens brannte, war es für niemanden etwas Besonderes. Wir standen alle von Ferne und beobachteten das Feuer, damit es nicht auf unsere Scheunen kam und auf unsere Häuser. Ich dachte zwischendrin ein wenig an Tremge und an die Bücher des Lehrers in den Büschen am Ende der Brücke. Tremge sah ein bisschen weiß um die Nase aus, als ich ihn beobachtete. Aber da die Brücke aus Holz war, hatte sie so schnell Feuer gefangen, dass niemand mehr recht wusste, ob sie im Westen oder im Osten angefangen hatte zu brennen. Und Tremge sagte auch kein einziges Wort. Der Feuerwehrmann ließ sich Zeit, baute umständlich die Schläuche zusammen und richtete sie auf das Feuer. Aber wie groß war das Gelächter, als eine rote Brühe herausschoss. Ihr wisst ja, warum das so war. Noch ehe die Sonne richtig aufgegangen war, krachte die brennende Brücke mit einem gewaltigen Getöse zusammen und fiel in den Fluss.
In der nächsten Zeit wollte niemand sie wieder neu aufbauen. Jeder war froh, den Streit auf diese Weise los zu sein. Schließlich konnte man sich jetzt nicht mehr treffen und böse Worte sagen. Lieber erzählte man sich abends auf den Bänken vor den Häusern merkwürdige Geschichten über die Leute am anderen Ufer des Flusses.
"Die schlachten Regenwürmer", sagte man oder "Sie braten Raupen und trinken Gänsemilch", obwohl man von Gänsen doch keine Milch bekommen kann, oder "Die haben so große Löcher in Kleidern und Hosen, dass ihre Dummheit und ihre Faulheit gleichzeitig herausschauen können“. Das kam natürlich daher, weil sie keinen Schneider hatten.
Die Mütter ärgerten sich über ihre Kinder, die nur noch zu Hause Unsinn machten und nicht mehr zur Schule gingen, weil der Lehrer auf der anderen Seite des Flusses wohnte.
Im Westen musste man das Brot selber backen, aber weil man ungeschickt war, verbrannte es sehr oft im Ofen, weil der Bäcker auf der anderen Seite des Flusses wohnte.
Niemand konnte mehr frische Milch und Käse kaufen, weil der Bauer auf der anderen Seite des Flusses wohnte. Wenn es im Osten irgendwo brannte, kam keine Feuerwehr, weil die Feuerwehr auf der anderen Seite des Flusses wohnte. Die Kühe im Osten waren krank, weil der Doktor auf der anderen Seite des Flusses wohnte. Und für die kranken Menschen war auch niemand da.
Tremge wurde von Tag zu Tag blasser und dünner. Wir trauten uns gar nicht zu fragen, was mit ihm los war. Er hatte ganz dunkle traurige Augen und sprach kaum noch ein Wort. Und auch Hanko wurde immer stiller, Jalte aber stand abends oft am Ufer des Flusses und summte ein Lied, das er einmal gehört hatte, vor sich hin. „Hineh ma tov uma na'im shevet achim gam yachad“. Es klang wehmütig, und mir kamen die Tränen, als ich es zum ersten Mal hörte. Eines Abends kam leise der Doktor dazu und summte die Melodie mit. Und noch einen Abend später gesellte sich der Feuerwehrmann dazu und zuletzt der Schneider. Alle vier standen am zweiten Abend da und sangen. „Hineh ma tov uma na'im shevet achim gam yachad“.
Am dritten Abend aber hörten wir leise Flötenmusik vom anderen Ufer herüber.
Ich dachte mir gleich: Das konnte nur Linte sein. Am vierten Abend sah man, wie Mulle im Gras saß neben Linte und eine Trommel schlug. Das machte den Lehrer neugierig. Er schaute aus dem Fenster und, nachdem er eine Weile zugehört hatte, kam er mit seinem Akkordeon dazu. Ich konnte mich erinnern, wie er oft damit in der Schule gespielt hatte. Aber das war ja nun schon lange her. Und so ging es Abend für Abend. Eines Abends stand auch Hanko unter den Sängern bei uns. Er kletterte in den Baum und spielte auf seiner Geige eine wundersame Melodie. Vom anderen Ufer her antwortete Olme auf seiner Mundharmonika mit einer ebenso wundersamen Melodie. Das ging so, bis es Herbst wurde und kühl, und der Feuerwehrmann war der erste, der auf unserem Ufer ein Feuer anzündete, damit wir nicht froren. Und drüben war es der Bäcker, der einen Ofen brachte und darin Stockbrot für die Kinder buk. Das duftete bis zu uns herüber und wir wurden ganz hungrig. Als der Bauer drüben noch mit warmer Milch und Honig für die Kinder kam, wurden wir ganz neidisch. Nur Tremge war nicht zu sehen. Und viele Leute aus dem Dorf hüben und drüben waren auch nicht zu sehen, sondern sie tuschelten und fragten sich, was das alles zu bedeuten hatte.
Eines Nachts aber ging im Hause des Doktors das Licht nicht mehr aus. In derselben Nacht blieb Tremges Bett leer. Gegen Morgen hörte man ein leises Plätschern im Fluss, aber niemand achtete darauf. Niemand aber wusste, wo Tremge war an diesem ganzen langen Tag und der vorherigen Nacht. Und niemand wusste, wo der Doktor war an diesem ganzen langen Tag. So sehr wir sie suchten, wir konnten sie beide nicht finden. Am Abend dieses traurigen Tages gingen wir alle ans Ufer des Flusses. Wir wollten uns an dem Feuer wärmen und zusammen singen. Vielleicht half das ja gegen das Traurigsein. Und so sangen wir erst leise und dann immer lauter. “Hinneih matov uma naim ...“ Auf der anderen Seite des Flusses standen sie auch zusammen, spielten ihre Musik und tranken warme Milch und aßen warmes Brot. Wieder plätscherte es leise im Fluss. Wir staunten nicht schlecht, als ein Boot herangerudert kam und aus ihm der Doktor ans Ufer sprang und nach ihm Tremge. Und dann kam auch noch der Lehrer aus dem Boot. Tremge hatte ganz rote Wangen vor Aufregung. Der Lehrer hatte sein Akkordeon mitgebracht und begann so lustig zu spielen, dass wir alle zu tanzen begannen. Und so merkten wir nicht, wie jemand das Boot leise wieder vom Ufer löste und hinüberruderte. Es waren der Feuerwehrmann und Hanko und Jalte, denn sie hatten gesehen, wie drüben der Ofen des Bäckers viel zu heiß glühte, und sie schnell mithelfen mussten, das Feuer mit Flusswasser zu löschen. Und wieder plätscherte das Wasser und diesmal kamen Mulle und Olme und Linte mit dem Bauern, weil sie mit uns tanzen wollten. Und so ging es den ganzen Abend, das Boot wurde dauernd hin- und hergerudert. Und so ging es auch in den nächsten Tagen - hin und her. Aber besonders eifrig waren Tremge und der Doktor. Sie ruderten jeden Tag hinüber zum Lehrer. Und der Lehrer ruderte oft zu uns herüber und verschwand im Doktorhaus. Es war sehr geheimnisvoll.
Eines Tages hing an unserem Ufer an der Stelle, wo früher einmal der Brückenkopf war, ein großer Plan. Darauf war eine große neue Stein-Brücke gezeichnet, wie man sie sich besser und bequemer nicht vorstellen konnte. Und dieselbe Zeichnung hing drüben auf der anderen Seite des Flusses. Tremge, der Doktor und der Lehrer standen daneben.
„Wir wollen, dass wieder eine neue Brücke gebaut wird“, sagte der Doktor. „Wer mitmachen will, kommt morgen früh hierher und bringt einen Stein mit“, sagte der Lehrer. „Alle können mithelfen, die Großen und die Kleinen“, rief Tremge. Jeder wollte dabei sein. Jeder brachte einen Stein mit. Die Leute drüben bauten und wir bauten an der Brücke. Den ganzen Tag über. Und der Abend endete mit unseren Liedern und unserer Musik am Fluss. Die Brücke wurde länger und fester. Und eines Tages stand sie fertig da.
Nun trafen sich alle Leute auf der Brücke, lachten und tanzten, und der Schneider hatte viel zu tun, weil sie plötzlich neue Kleider von ihm wollten, damit sie beim Tanzen schön aussahen. Und der Bauer hatte alle Hände voll zu tun, ebenso der Bäcker. Und der Lehrer wurde tausend Dinge gefragt, die die Kinder nicht wussten. Und jeder wollte mit dem Feuerwehrauto fahren. Das Schönste aber war, dass der Doktor eines Mittags, als er gerade ganz müde vom Brückenbauen da saß und zum Himmel schaute, einen Regenbogen sah. Er rief sie alle zusammen: die Mütter aus den Küchen, den Bauern aus seinem Stall, den Metzger aus der Räucherkammer, den Feuerwehrmann aus seinem Auto. Alle bestaunten den leuchtenden Farbenbogen am Himmel. Der Lehrer fand in seinem einzigen Buch, das ihm geblieben war, etwas über den Regenbogen und las es allen laut vor, den Leuten hüben und den Leuten drüben:
„Der Regenbogen ist ein Zeichen dafür, dass Gott mit den Menschen vor langer Zeit einen Bund geschlossen hat. Er hat versprochen, dass er nicht aufhören will, ihnen gut zu sein und sie zu segnen. Er will ihnen Regen schicken zu seiner Zeit und Sonne zur rechten Zeit. Immer wieder soll es Tag werden nach der Nacht, und die Nacht soll kommen nach jedem Tag, damit sich Menschen und Tiere ausruhen können. Gott will Frieden für seine Menschen.
Seitdem haben wir wieder unsere zwei Brücken, eine zum Hinüberlaufen und eine zum Bestaunen. Wir können gut damit leben. Ich glaube, wir haben begriffen, dass auch wir Frieden schließen sollten mit Gott und untereinander. Wenn uns Brücken mit einander verbinden, dann können wir auch wieder gut zu einander sein.
Warum aber Tremge in der Nacht mit dem Doktor zusammen zum Lehrer hinüberruderte und erst am nächsten Morgen nach Hause kam, hat nie jemand genau erfahren. Nur denken konnte man sich einiges.
In Anlehnung an: Max Bolliger, Die Kinderbrücke
und an J. Oppenheim, Auf der anderen Seite des Flusses