Wenn ein Ronaldo sich beidhändig in den Schritt fasst und damit bedeutet, er bzw. sein Team habe „die dicksten Eier“, dann ist das schon großes Fußball-Kino. Diese Botschaft wird millionenfach gezeigt, bejubelt, vielleicht auch missbilligt. Aber welch suggestive Kraft liegt in solchen Bildern, die überall in der Welt verstanden werden! Beneidenswert!
Fußballer verstehen heißt die Menschen verstehen. So kann man das Spiel und vor allem das Spektakel drum herum zusammenfassen. Dabei müssen wir als TV-Zuschauer die Sprache der Aktiven richtig deuten, eine Sprache, die sich für uns nicht in Worten, sondern in Mimik und Gestik ausdrückt – expressiv, wild, oft dramatisch .. oder auch lächerlich.
Dank immer aufwändigerer Übertragungstechnik und hoch auflösender Kameras sind wir dicht dran, ja, kriegen besonders spektakuläre Szenen in Zeitlupe und Rückblende oft mehrfach dargeboten. Eine Flut von Botschaften prasselt daher auf unsere Augen ein – und das ist viel mehr als erfahrene Reporter oder wortgewandte Kommentatoren je mit ihren sich überschlagenden Bandwurm-Sätzen transportieren könnten.
Was das „Lesen“ eines Spiels und die Interaktion auf dem Platz zusätzlich reizvoll macht: Die Handlungsträger agieren und reagieren nicht immer spontan oder reflexhaft, sondern simulieren auch, machen Show oder inszenieren sich nach einem zuvor ausgedachten Plan. Diese Art „mieser Schauspielerei“ unterstellt man natürlich gerne der gegnerischen Mannschaft. Auf internationaler Bühne „wissen“ wir Deutschen, dass zum Beispiel die Italiener „Meister der Theatralik“ sind , die Argentinier mit „versteckten Fouls“ arbeiten, die Mannschaften des United Kingdoms oder Islands aber „ total schmerzfrei“ agieren und nur eine „gesunde Härte“ an den Tag legen – das sei „auf der Insel“ so.
Vorteile für die eigene Mannschaft heraus zu schinden, den Gegner mit allen Mitteln zu schwächen, das wird von vielen Fans trotzdem gutgeheißen, weil es ja (mal wieder) „um alles geht“. Die „Schwalbe“ des eigenen Stürmers, die zum Elfmeter führt, ist also legitim (die anderen versuchen es ja auch), und auch als „sterbender Schwan“ Gelbe oder Rote Karten zu provozieren, wird den eigenen Leuten nicht krumm genommen – es ist im Zweifel ja auch „ausgleichende Gerechtigkeit“ für die vielen Male, wo sie selber verpfiffen worden sind.
Peinlich für den Schauspieler nur, dass vielfach die Fernsehbilder seine Darbietung als Fake entlarven – schmerzverzerrtes Gesicht, Hin- und Herwälzen auf dem Rasen, der Griff an die linke Wade... wo doch der angeblich so brutale Kontakt eindeutig rechts erfolgte. Peinlich auch, wenn nach der ganzen Leidensdramatik eine sekundenschnelle Heilung erfolgt. Die Kamera zeigt den eben noch vom Tod Gezeichneten beim nächsten Schwenk schon wieder im Vollsprint.
Auch hier werden die Fans ihre eigenen Leute deswegen nicht auspfeifen – umso gellender dafür die Gegner. Einseitige Empörung dann auch, wenn die ganz knapp führende Mannschaft am Ende "auf Zeit" spielt. Torwarte können sich da schon einmal hinter ihrem Tor verirren, um den Ball zu holen; sie schaffen 30 Sekunden, um ihn sauber auf den Abstoßpunkt zu platzieren, nehmen 15 Meter Anlauf, um dann … aus dem Fuß kurz zum Verteidiger zu passen. Die Kunst bei dieser Art Zeitschinderei: Sie schalten zwar auf Slow Motion, aber der Schiri empfindet es nicht als solche – nur die Fans der zurück liegenden Mannschaft, die merken sofort lautstark an, wenn da die ausgewechselte Nummer 8 just vor dem Verlassen des Platzes noch einen Wadenkrampf buchstäblich er - leidet. Die Fans aus dem führenden Lager nennen dasselbe (unsportliche!) Schauspiel dann „Cleverness“, geben fachmännisch vor, dass gute Mannschaften da „halt nichts mehr anbrennen lassen“ dürfen und jubeln ihrem Simulanten auch noch begeistert zu.
Man könnte die schauspielerischen Einlagen der Fußballer also durchaus als „Zielgruppen-orientiert“ qualifizieren. Erster Adressat aber ist immer der Schiedsrichter, dessen Sicht der Dinge man natürlich zum eigenen Vorteil beeinflussen will.
Ganz subtile Versuche sind der total erstaunte Blick – wie, das Foul wird gegen mich gepfiffen??, das anschließende völlig ungläubige Kopfschütteln oder ein hilfloses Hochheben der Arme in Richtung Südkurve, der Blick zum Himmel (lieber Gott, kannt DU da nicht eingreifen?) und das völlig kraftlose Sinkenlassen der Arme, die man dann als offensichtlich Betrogener in die Hüften stemmt, der Blick nun resigniert zum Boden.....
Ganz entsetzte Aufschreie gibt es auch und das Sich-an-den-Kopf-Fassen mit schier ungläubigem Gesichtsausdruck, aber Vorsicht: Das kann schnell zur „Scheibenwischer“-Geste übergehen, was natürlich die Rote Karte bedeutet.
Rote Karte natürlich auch für die ganze üblen Fouls, wobei Opfer und Täter (leider!) allzu oft lächerlich-übertrieben reagieren. Das Opfer präsentiert die ganze Bandbreite körperlichen Leidens, der Täter sagt mit hektisch-verneinenden Gesten: Ich hab ihn doch gar nicht berührt – ich hab doch den Ball gespielt.... „Rudelbildung“ ist dann oft die Folge mit Szenen wie früher auf dem Schulhof bei den zwölfjährigen Jungen. Schubsen, Wegstoßen, Droh-Rituale, die gerne zu der Nummer benutzt werden, eine „Tätlichkeit“ erlitten zu haben: Plötzlich liegt da einer, wie meuchlings abgestochen.
Fällt der Schiri eine Elfmeter-Entscheidung gegen die eigene Truppe, dann erfolgen die zuletzt beschriebenen Gesten kollektiv, fast wie beim Synchron-Schwimmen: Der Pfeifenmann wird eingekesselt und körperlich bedrohlich eng ran genommen – Textbeiträge aus dem Gedränge kriegen wir am Fernseher leider nie „live“ übermittel .
Der gestresste Schiri liefert dann (wenn er denn so dicke hat wie Ronaldo...) eine starke Szene: Er befreit sich mit herrischer Geste aus der Einkesselung und geht mit ganz gewichtigen, sehr bestimmenden Schritten zum Elfmeter-Punkt. Mit beiden Händen zeigt er auf denselben, den Kopf hoch gereckt, Blick eisern über das zeternde Völkchen hinweg...
Ja, es wird uns Fußball-Zuschauern schon einiges geboten. Theater total.
Höhepunkt der Schauspielerei ist und bleibt aber der Torjubel. Hier explodiert es förmlich auf der Bühne – die Bildregie kann „Leidenschaft pur“ einfangen: Den ekstatischen Sprint des Torschützen hin zur Eckfahne“, das fulminante auf den Knien Rutschen, die Daumen egomanisch auf die Rückennummer weisend... Dann die Mitspieler, die den Glücklichen überglücklich erdrücken – Sandwich-ähnliche Stapelversuche, Männer-Zärtlichkeiten, Männer-Tanzeinlagen, Männer-Glück.....
Auf der Verlierer-Bühne malträtiert der arme Torwart den Alu-Pfosten, hocken zwei, drei Abwehr-Recken wie klein gefaltet auf dem nassen Grund, schauen frustrierte Vorderleute ziellos in die Leere. Für neutrale Zuschauer eine sehr eindeutige Beweisführung, wer da was gerade erlebt.
Bleibt am Ende die Frage nach den Frauen. Nein, nicht wie denn die Spielerfrauen „ihr“ Tor feiern, nicht nach den Frauen im Publikum, sondern nach den selber aktiv Fußball spielenden Damen. Toben Fußballerinnen genauso wie die Männer, versuchen sie auch, ihre Schiri-Frau zu beeinflussen, haben sie dieselbe Körpersprache?
Nein, die Nummer von Ronaldo können sie schwerlich imitieren. Aber sie haben bestimmt andere Tricks und Bilder-Botschaften, vielleicht viel raffiniertere.
Wir müssen also weiter beobachten, weiter die Schaubühne „Fußball“ im Auge behalten, und spätestens nach der nächsten Frauen-EM gibt es dann sicher viel Neues zu berichten über die wunderbare Grammatik der Fußball-Sprache.