KLICKS UND CLIQUEN

Synthesen + Analysen in der Matrix


Eine Kolumne von  Bergmann

Donnerstag, 20. September 2012, 09:45
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Brief in D-Dur

320. Kolumne

Lieber D,

eben war ich im Stadthaus und habe meinen Führerschein (bis zum 4.10.) abgegeben – ich war im Juli in eine Radarfalle gefahren, 105 statt 60 km/h. Das kostete außerdem 186 Euro. Zum Glück konnte ich mir den Zeitraum für die Führerscheinlosigkeit aussuchen, so dass ich meine ganzen Sommerfahrten noch absolvieren konnte.

Benjamin von Stuckrad-Barre („Soloalbum“). Mein Urteil: Geschwätz, wenn auch stellenweise originell. Aber ganz aufgehend im Zeitgeist, dem sich der Autor anbiedernd unterwirft. Keine Erzählbegabung. Fast hätte ich „Soloalbum“ mit Schülern einer 10. Klasse einmal behandelt, um so eine Literatur auch kritisch zu untersuchen, wie ich es mit Pratchett getan habe – wir lasen „Faust Eric“ (einer der Scheibenwelt-Romane mit oberflächlichen Bezügen zu Goethe, Dante, Homer). Dabei kam heraus, dass die Schüler Pratchett letztlich substanzlos fanden, allerdings trotzdem (gerade deswegen) gern lasen, und das muss auch sein dürfen. Ich las als Kind die ziemlich geistlosen und hingeschluderten Abenteuerbücher von Enid Blyton ... Also, Lesen ist mindestens zweierlei. Im Unterricht wollen die etwas gescheiteren Schüler über Bücher nachdenken und darüber diskutieren, sie wollten Widerstände überwinden - und so haben auch Schillers Dramen oder die Romantiker (zum Beispiel) gute Chancen.

Döblins berühmten Roman „Berlin Alexanderplatz“ habe ich nie im Unterricht behandelt. Kollegen, die ihre Studienzeit an der Uni nicht überwinden konnten, wühlten gern in den Erzählperspektiven Döblins herum und traktierten damit die Schüler, um zu demonstrieren, dass auch Deutschlehrer logeln können. Es gab in den 70er Jahren entsetzliche Linguistik-Moden ... Ich hatte damals den Fernsehmehrteiler „Franz Biberkopf“ von Fassbinder gesehen, mit einigem Interesse, aber nicht mit Begeisterung; mir gefiel auch nicht der Hauptdarsteller Günter Lamprecht.
Ich teile Thomas Klupps Unbehagen an Döblin. „Berlin Alexanderplatz“ ist nicht tief, es will tief wirken durch sein Perspektivenspiel und die inneren Monologe, die sich oft ver-rätseln. Da wird Tiefe nur vorgetäuscht und sprachlich angerührt. Die Großstadt birgt heute soziales Leid, das dem von früher vergleichbar ist, aber Gemüt und Schwermut vermitteln sich heute anders. Das allerdings werfe ich Döblin nicht vor. Das ideologische Fundament schon eher, es stört auch bei Brecht oft. Nur hat Brecht mehr Witz und Spielvermögen, da lasse ich mich lieber verführen (ohne am Ende verführt zu sein) oder entführen zu einer Exkursion auf subtileren Denkwegen.

Joseph Conrad, Herz der Finsternis – das ist großartige Erzählkunst (du weißt, es ist das Vor-Bild für Coppolas Film Apocalypse now), allerdings am Ende auch nicht gerade tief (das Grauen), tief aber die Atmosphäre und das Giganteske des Scheiterers Mr. Kurtz, den T. S. Eliot in seinem Gedicht „The Hollow Men“ warnend zitiert.

Abends am Schreibtisch hör ich Musik beim Arbeiten. Italienische Opern laufen mir durch die Ohren, ohne das Hirn zu berühren, fast nur übers Rückenmark. Rossini etwa. Auch Schuberts Klavierstücke. Fantasie in f-moll. Oder Beethoven, op. 111. Bachs Goldbergvariationen. Alle zweihundert Kantaten, Abend für Abend aufgelegt, Buch für Buch. Sogar Bob Dylan, die englischen Silben sind unter die Melodie gemischt. Klar, Winterreise geht nicht so gut, obwohl du die Sprache subtrahieren kannst, aber dann subtrahierst du fast alles, und so kommt es dann auch oft: Das Finale der 1. Sinfonie Mahlers verklingt und du hörst noch nicht einmal die Stille, wenn dein Grammophon schweigt, dein Player, dein Radio oder iPod. Du bist ganz tief in der Musik deiner Gedanken, bist ganz außer dir bei den Stoffen, die du drehst und wendest, und kommst auf Wegen zu dir, die du nur mit den Schuhspitzen berührst, wenn du nicht gerade fliegst. Ja, und so gefällst du dir, weil: der Spiegel, in dem du dich von innen siehst, glänzt nicht so tückisch wie das Quecksilber, das du dir wie Honig um den Mund schmierst, wenn du dich in dich so verknallst, bis du dich schön findest. O Mensch, hab acht, bedenke, wenn du fällst, fällst du immer tiefer als gedacht, das Schwarze Loch in dir, das dich anzieht, verschluckt dich bedenkenlos, ganz ohne Moral, absolut wertfrei, du bist Natur und nichts als Natur, und so, ganz natürlich, gehst du in dir unter und hörst und siehst nichts mehr. Im besten Fall bist du über deinen Akten eingeschlafen, schwimmst in den Buchstaben deiner Schrift, ohne zu atmen, ohne zu denken, und vielleicht träumst du, dass du träumen willst, und das zieht sich so hin, ohne dass du dich langweilst, du sackst weg und schwebst im Schein der Lampe über der Schreibtischplatte, die ja den Raum Seins bildet, das du dir hier glatt erschaffst, ohne es zu wissen ... Hedoniker sein bis zuletzt und darüber hinaus. Ja, so will ich sterben.

Jetzt aber nicht. Erst mal wieder aufwachen.

UB

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Kommentare zu diesem Kolumnenbeitrag


 Dieter_Rotmund (28.09.12)
"logeln"?

 Bergmann (28.09.12)
logeln, Verb, abgeleitet von Logelei (< logos).

 loslosch (28.09.12)
einleitung in moll-ton. dieser äußerlich sachfremde einstieg erzeugt privatheit. echtheit. ein cleverer start.

... erst wieder aufwachen ...

erinnert mich an kirchenvater augustin, von benedikt XVI. bevorzugt gelesen:

Da mihi castitatem et continentiam, sed noli modo.
„Gib mir Keuschheit und Enthaltsamkeit - aber jetzt noch nicht." ich musste sooo lachen. ))

 Dieter_Rotmund (28.09.12)
Ich bin ein großer Fan von Conrads Heart of Darkness, finde aber nicht, dass Kurtz scheitert.... Ist sicherlich eine Diskussion wert, aber das ist vermutlich nicht Intention dieses Kolumnentextes...
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