KLICKS UND CLIQUEN

Synthesen + Analysen in der Matrix


Eine Kolumne von  Bergmann

Montag, 24. Juni 2013, 14:56
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Schöne neue Welt ... Goethe (Stücke 12)

359. Kolumne

„Iphigenie auf Tauris“ von Johann Wolfgang von Goethe

„Das gedruckte Wort ist freilich nur ein matter Widerschein von dem Leben, das in mir bei der Erfindung rege war ... der Schauspieler muß uns zu dieser ersten Glut, die den Dichter seinem Sujet gegenüber beseelte, wieder zurückbringen ...“
[Goethe im Gespräch mit Eckermann. Weimar, 1. April 1827]

„So bildet sich allein in kleinsten Kreisen das Reich der Humanität...“
[Emil Staiger, 1952]

Wenn das Humanitätsideal niedriger hängt, nimmt die Nähe zur Realität zu. Stellen wir Iphigenie endlich in den großen Kontext unserer Wirklichkeit, dann hängt das Humanitätsideal so hoch wie nie zuvor.

Iphigenie hat einen vielseitigen, schillernden Charakter - sie zeigt ihren ganzen Ärger über ihre unbefriedigende Lage, ihren naiv gebliebenen Trotz gegen den Mann, der sie will, den sie aber nicht liebt: Thoas. Sie entwickelt dann, durch Orest und Pylades zum ersten Mal in ihrem Leben vor eine Entscheidung gestellt, eine immer bewusster werdende gesellschaftliche Kritik an der Diktatur des Patriarchats und wird schließlich fähig, die einzige Waffe, die sie wirklich hat, zur Durchsetzung ganz realer Humanität zu gebrauchen: Sie erobert Thoas sowohl sexuell als auch geistig: „Hat denn zur unerhörten Tat der Mann | Allein das Recht? Drückt denn Unmögliches | Nur er an die gewaltige Heldenbrust? | ... muß ein zartes Weib | Sich ihres angebornen Rechts entäußern, | Wild gegen Wilde sein? ...“ (V, 3)

Iphigenie setzt ihre ganze Person aufs Spiel, sie verliert ihre Unschuld (als Jungfrau und als moralisch Handelnde), aber sie gewinnt menschlich und politisch: Ihr Opfer ändert Thoas’ Haltung: Er gibt Iphigenie frei, Orest ist gerettet. Iphigenie verzichtet auf die absolute Reinheit ihrer moralischen Position und gewinnt den Kopf des Herrschers von Tauris. Thoas durchschaut alles, auch sich selbst. Weibliches Denken und Handeln hat ihn verändert. Thoas wird seinen männlichen Trieb in einer progressiveren Verfassung seines Landes sublimieren – das ist Goethes Hoffnung, der aufgeklärte Monarch sei eine Stufe zu größerer Humanität, und zugleich die These, der Charakter der Politik werde durch weibliche Mitwirkung an der Macht humaner.

Der rote Raum der Schuld ist zweigeteilt: Hinten die Vergangenheit und Erinnerung, vorn die Handlung und das Jetzt. Hinten ist die griechische Mythologie, die Goethe aufgreift als Archetypie der ganzen Geschichte, schreckliche Familiengeschichten als Bilder der Weltgeschichte. Goethe entwickelt diese Erinnerungen an der Heldin, die sich von der traumatischen Schuld der Tantaliden zu befreien sucht und allmählich auch von den Denkmustern, die dem erlittenen Leid zugrunde liegen. Dazu gehört zum Beispiel die Bevormundung durch ihren Vater Agamemnon. Sie erkennt, dass er sie seinen männlich-politischen Interessen opferte. Da wehrte sie sich zum ersten Mal. Diana stellte sie als Gestrandete, nun vaterlos, auf Tauris vor eine ähnliche Situation. Sie emanzipiert sich jetzt als Erwachsene von ihrem Vaterbild und von der geistigen Herrschaft der Männer über sie. Im Verlauf des Dramas wird Iphigenie sich auch von der Religion lösen, indem sie ihr Schicksal in die Hand nimmt – und das Schicksal Orests und Pylades’. Damit greift sie auch in die politische Geschichte ein: Thoas und sein tyrannischer Inselstaat werden verändert.

Das alles richtet sich gegen alle Illusionierungen von Religion und Ideologie und provoziert die Assoziierung der Tantalidengeschichte mit Unmenschlichkeit in unserer Zeit. Der Fluch, der auf den Tantaliden lastete, wirkt noch immer - nicht nur in Erinnerungen, wenn die mythologischen Geschichten der Schuld gespiegelt werden. In seinem Monolog (V, 2) sagt Thoas: „Zur Sklaverei gewöhnt der Mensch sich gut | Und lernet leicht gehorchen, wenn man ihn | Der Freiheit ganz beraubt. Ja, wäre sie | In meiner Ahnherrn rohe Hand gefallen | ... | Sie wäre froh gewesen sich allein | Zu retten, hätte dankbar ihr Geschick | Erkannt und fremdes Blut vor dem Altar | Vergossen, hätte Pflicht genannt | Was Not war.“

Wenn Thoas zum Schluss sein indifferentes „Lebt wohl!“ sagt, gehen wir Zuschauer in die Weite einer grandiosen Humanitätsduselei. Die utopische Erfordernis einer humanen Welt wird immer zwingender.

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