KLICKS UND CLIQUEN

Synthesen + Analysen in der Matrix


Eine Kolumne von  Bergmann

Donnerstag, 02. Juni 2016, 22:57
(bisher 693x aufgerufen)

Lessing und die dramatische Einheit

515. Kolumne

zu Lessings Hamburgischer Dramaturgie


1. Grundlegung der dramatischen Einheit

Form-Inhalt-Konzeption
Zuallererst ist zu klären, auf welchem Boden das dramentheoretische Konzept in der Hamburgischen Dramaturgie steht.
Lessings Begriff von der dramatischen Einheit gründet sich nicht auf normative Poetik.1 Als solche wollte Lessing die Poetik des Aristoteles, der er in wesentlichen Teilen folgt, auch nicht verstanden wissen, obwohl deren normativer Charakter nicht zu leugnen ist. Vielmehr hat er Aristoteles neu reflektiert in der Absicht, das Normative in einer systematischen Poetik zu begründen: Die historisch-dialektische Trennung von Inhalt und Form wird aufgehoben zugunsten einer dialektischen Form-Inhalt-Konzeption, in welcher Form und Inhalt identisch gesetzt werden. So bedeutet „... das absolute Verhältnis des Inhalts und der Form ... das Umschlagen derselben ineinander, sodass der Inhalt nichts ist, als das Umschlagen der Form in Inhalt und die Form nichts als das Umschlagen des Inhalts in Form.“2
Unter dieser Voraussetzung wird klar, dass Lessing unter dramatischer Einheit nicht etwa Formalkriterien versteht, welche die dramatische Wirkung aus sich selbst hervorbringen, sondern inhaltliche Bestimmung und Wirkungsziel des Dramas sind seine wesensmäßigen Maximen, aus denen Formalkriterien erst hergeleitet werden können. Dass diese hergeleiteten Formalkriterien zur dramatischen Wirkung führen, liegt in der Dialektik der Sache: Denn die dramatischen Maximen stehen zunächst außerhalb des Dramas – werden sie dann aber im Drama verwirklicht, so unterliegen sie dem dialektischen Form-Inhalt-Bezug.

Lessings Definition der Tragödie
Reduziere man, schreibt Lessing, alle Eigenschaften der Tragödie auf ihren wesentlichsten Kern, so bleibe
eine vollkommen genaue Erklärung übrig: die nämlich, dass die Tragödie, mit einem Wort, ein Gedicht ist, welches Mitleid erreget. Ihrem Geschlechte nach ist sie die Nachahmung einer Handlung ... ihrer Gattung aber nach die Nachahmung einer mitleidswürdigen Handlung. Aus diesen beiden Begriffen lassen sich vollkommen alle ihre Regeln herleiten: und sogar ihre dramatische Form ist daraus zu bestimmen.3
An dieser Definition ist Folgendes bemerkenswert: Der Katharsis-Gedanke, wie ihn Aristoteles in seiner Definition4 zum Zielgedanken der Tragödie erklärt, wird für Lessing zur Richtschnur all dessen, was die dramatische Einheit verwirklicht. Normativ bezüglich dieser Verwirklichung wird er damit jedoch nicht, die Maxime der Definition steht außerhalb des Dramas; innerhalb des Dramas aber lassen sich keine Normen mehr setzen: Das Drama besitzt eine eigene, ihm immanente Dialektik. Alle dramatischen Mittel beziehen sich zwar auf die außerhalb des Dramas stehende Maxime, ist diese aber erst einmal akzeptiert, dann gibt sich das Drama in Wahrheit seine Form selbst.

Definition der dramatischen Einheit
Genauso ist es nun auch mit der dramatischen Einheit zu halten: Sie wird nicht normativ gesetzt, sondern ruht immanent im Drama selbst. Zudem gründet sich die dramatische Einheit auf das Gesetz, das Drama bzw. die Tragödie sei die „Nachahmung einer Handlung“5. Dabei hat die Nachahmung als Darstellung eines gegenwärtigen, zwischenmenschlichen Geschehens6 die Katharsis zu bewirken7, und zwar mit dem Mittel höchster Illusionierung8 (Lessings Maxime der Tragödie).
Nun habe ich die wichtigsten Voraussetzungen genannt, die zum Verständnis des Begriffs von der Einheit notwendig sind und definiere dramatische Einheit als das Prinzip der Tragödie, welches Lessings Maxime erfüllt. Die folgenden Paragraphen dieser Arbeit sollen diesen Gedanken, der hier noch thesenhaft formuliert erscheint, anhand der Hamburgischen Dramaturgie selbst herausarbeiten und verdeutlichen.


2. Die drei Einheiten
Im Allgemeinen unterscheidet man: Einheit der Handlung, der Zeit und des Ortes. Auch in der Hamburgischen Dramaturgie ist diese Unterscheidung zu finden – und doch existiert nur eine einzige, die dramatische Einheit, wenn man die Einheit der Handlung zum obersten Prinzip erhebt, aus dem sich die anderen beiden Einheiten entwickeln lassen:
Die Einheit der Handlung war das erste dramatische Gesetz der Alten; die Einheit der Zeit und die Einheit des Ortes waren gleichsam nur Folgen jener ...9
Lessing übernimmt dieses Gesetz; er bewundert die „Biegsamkeit“ und den „Verstand“10, mit dem die griechischen Dramatiker sich den Einschränkungen unterwarfen, welche die Einheit der Handlung gebot:
Denn sie ließen sich diesen Zwang einen Anlass sein, die Handlung selbst so zu simplifizieren, alles Überflüssige so sorgfältig von ihr abzusondern, dass sie, auf ihre wesentlichsten Bestandteile gebracht, nichts als ein Ideal von dieser Handlung ward, welches sich gerade in derjenigen Form am glücklichsten ausbildete, die den wenigsten Zusatz von Umständen der Zeit und des Ortes verlangte.11
Aber in der ganzen Hamburgischen Dramaturgie findet sich keine zusammenhängende Bestimmung der Beziehungen zwischen den drei Einheiten, auch beweist Lessing nicht, wie aus der Einheit der Handlung die übrigen herzuleiten wären. Dagegen lassen sich diese Zusammenhänge anhand einzelner Stellen herausarbeiten. Dieser Versuch wird in dieser Arbeit unternommen.


3. Einheit der Handlung und Absolutheit des Dramas
Wenn die Katharsis nach Lessings Maxime das Ziel der Tragödie ausmacht, so muss die Nachahmung einer Handlung so beschaffen, sein, „dass der ohne Unterbrechung betrogene Zuschauer bei der Handlung selbst gegenwärtig zu sein glaubt.“12 So sind alle dramaturgischen Mittel und Kunstgriffe allemal auf die Illusionierung des Zuschauers abgestellt.13 Umgekehrt soll der tragische Dichter „... alles vermeiden, was die Zuschauer an ihre Illusion erinnern kann; denn sobald sie erinnert sind, so ist sie weg.“14 Daraus entstehen nun ganz bestimmte, zum Teil dramaturgische Forderungen an die dramatische Verwirklichung, die ich zusammenfassend dramatische Einheit genannt habe.
Um illusionieren zu können, muss das Drama absolut sein, d. h. nichts darf von außen in es hineingetragen werden. Das bedeutet sowohl, dass der Dramatiker im Drama nicht anwesend sein darf als auch, dass dem Drama alles Epische fremd sein muss.15 Die letzte Forderung erklärt sich daraus, dass jedes epische Element im Drama eine Unterbrechung der Illusion erzeugen würde; die Identifizierung des Zuschauers mit den handelnden Personen16 wäre dahin, weil das Epische die Einheit der Handlung unterbrochen hätte. So kann der Zuschauer die Identifizierung wegen des Absolutheitsanspruchs des Dramas, den die Einheit der Handlung erfüllt, nur vollziehen, wenn er zugleich vollkommen von der Bühne getrennt ist.
Die Einheit der Handlung beeinträchtigen würde auch ein zu komplizierter Aufbau des Dramas, demzufolge die Verwicklungen nicht mehr verstehbar wären17; hier dränge ja das dramatische Konzept der Verwicklung in die Absolutheit der Handlung ein, und die Motivierung des Handelns würde sekundär, wenn nicht gar überflüssig.
Zur Einheit der Handlung gehört, wie schon Aristoteles fordert18, dass die Handlung sich als Ganzes mit Anfang, Mitte und Ende darstellt19, denn das Drama stiftet seine Handlung selbst.20 So formuliert Peter Szondi:
Das Drama ist primär. Es ist nicht die (sekundäre) Darstellung von etwas (Primärem), sondern stellt sich selber dar, ist es selbst. Seine Handlung ist ... „ursprünglich“, wird in ihrem Entspringen realisiert.21




4. Einheit der Zeit
Da hier die Einheit der Handlung von der Absolutheit des Dramas aus verstanden wird, kann leicht auf eine Eigengesetzlichkeit des Dramas geschlossen werden. Dank seiner Autonomie stiftet es sich nicht nur seine Handlung selbst, sondern auch seine Zeit, die ja stets die seiner Gegenwärtigkeit ist.22 Solches leistet der Dialog, der aufs Engste mit der Handlung verknüpft ist: im Dialog schlägt sich alles dramatische Handeln nieder, durch ihn wird das Handeln in dialektische Form gegossen. Hier ist zuerst der Bezug zur Einheit der Zeit zu suchen, wenn man Zeit dialektisch im Gegensatzpaar von Vergangenheit und Zukunft sieht – der dialogische Wechsel der Handelnden schafft sich seinen eigenen Zeitbegriff, und zwar einen Zeitbegriff, der nur immanent in der Handlungsabfolge begründet liegen kann, der also von jedem Zeitbegriff außerhalb des Dramas losgelöst ist (wenn nichts in das Drama hineingetragen wird, was seine Einheit unterbricht, wie z. B. das epische Ich). Demnach ist es logisch, die Einheit der Zeit als Folge der Einheit der Handlung zu sehen.
Aristoteles‘ Forderung, mehrere Vorgänge, die sich gleichzeitig abspielen, dürfe die Tragödie nicht nachahmen23, gründet sich auf den Satz von der Einheit der Handlung. Denn Gleichzeitigkeit mehrerer Vorgänge hätte die Zerrissenheit der Szenen zur Folge; es fehlte dann die nur durch die Handlung selbst zu motivierende Stetigkeit, die erst ein epischer Eingriff wieder beheben könnte. Solches Montieren aber verstößt gegen den Absolutheitsanspruch des Dramas.
Lessing unterstützt diese These vom dramatischen absoluten Zeitbegriff, der mit der Einheit der Handlung einhergeht24, auch in anderer Hinsicht: Nicht die Möglichkeit, dass so und so viel Handlungen in einem bestimmten Zeitraum geschehen, stellt für ihn ein Kriterium ihrer dramatischen Verwirklichung dar, sondern die Wahrscheinlichkeit, die allein zur vollkommenen Illusionierung des Zuschauers taugt.
Es ist an der physischen Einheit der Zeit nicht genug; es muss auch die moralische dazukommen, deren Verletzung allen und jeden empfindlich ist ...25
Daraus erhellt, wie genau die Zeit dem dialogischen Wechsel der Handelnden zu entsprechen hat und nicht umgekehrt26 – denn wenn eine bestimmte Handlungsfülle den Dialog hervorbringen würde, wenn sich also der Dialog lediglich nach einem Handlungspensum richten müsste, dann würde dies als außerhalb des Dramas liegende Konzeption die Illusionierung des Zuschauers zunichtemachen; das war oben angedeutet. Hinzu tritt noch die psychische Komponente: Klaffen Handlungsfolge und dramatisch-dialogische Verwirklichung auseinander, ist also die Handlungsfolge in der dramatisch-dialogischen Verwirklichung nicht genügend psychisch motiviert, dann ist auch die Identifikation Zuschauer - Bühne aufgehoben, die Illusionierung fällt weg. Damit wird wiederholt bestätigt: Die Einheit der Zeit ist ursächlich an die der Handlung gebunden.


5. Wahrscheinlichkeit und Einheit der Handlung
Die Begriffe Wahrscheinlichkeit und Motivierung spielen bei Lessing nicht nur im Zusammenhang mit der Einheit der Zeit eine Rolle; beide sind Kriterien der Immanenz, die dem Drama innewohnt, sind letztlich wieder Kriterien der Einheit der Handlung und weisen in den Bereich der dramatischen Form.
Die Wahrscheinlichkeit ... auf die es vielleicht in einer Erzählung so sehr nicht ankömmt, ist in einem dramatischen Stücke unumgänglich nötig.27
Auszugehen ist dabei von einer „formalen“ und einer dem dramatischen Stoff „immanenten“ Wahrscheinlichkeit: Die formale Wahrscheinlichkeit trägt der Dramatiker ins Drama hinein, sie liegt primär in der dramaturgischen Konzeption begründet. Im Drama selbst hat sie sich bloß rational nach dem Grundsatz „natura non facit saltus“28 niederzuschlagen. Es ist dies nichts anderes als die konsequente Forderung, die Illusionierung des Zuschauers würde als dramatisches Prinzip schon in der formalen Anlage des Dramas gewährleistet sein, um hernach die Katharsis bewirken zu können. Im Sinne Lessings entspräche diese nur formale Wahrscheinlichkeit aufs Genaueste dem „physischen“ Begriff von der Einheit der Zeit als conditio sine qua non.
Wie verhält es sich nun aber mit der Einheit der Handlung? An die Seite der formalen Wahrscheinlichkeit tritt in der dramatischen Verwirklichung nun das, was Lessing mit „innerer Wahrscheinlichkeit“ bezeichnet.29 Sie lässt sich unter vier Gesichtspunkten näher bestimmen:
Erstens bezieht Lessing die innere Wahrscheinlichkeit auf ein dramatisches Handeln, das dem Zuschauer beurteilbar und einsichtig bleibt. Damit wird zugleich schon ausgesagt, dass dieses Handeln stets seine ihm gemäße Motivierung erfährt, es muss dem Zuschauer nachvollziehbar sein, und zwar in dem Maße, wie er selbst handeln würde30, stünde er an Stelle der handelnden dramatischen Person.31 Wieder zielt dieser Aspekt einzig und allein auf die Illusionierung des Zuschauers ab und begründet damit wieder einmal die Absolutheit des Dramas, die sich in der Einheit der Handlung manifestiert.
Zweitens hat innere Wahrscheinlichkeit in einem durch und durch motivierten Handlungsverlauf zu ruhen. Jede Handlung entspringt der vorausgegangenen und bringt die nachfolgende aus sich hervor. Denn alles nicht Motivierte dränge von außen ins Drama ein. So ist innere Wahrscheinlichkeit wesentlich die zwangsläufige Folge, die sich aus der Einheit der Handlung ergibt, sie ist hier einerseits ihr emotionales Kriterium – direkt auf die Illusionierung zielend – andererseits ergeben sich aus ihr ganz bestimmte formale Gesichtspunkte hinsichtlich Szenenfolge oder Akteinteilung. Darauf wird noch einzugehen sein. Festzuhalten wäre noch, dass auch hier innere Wahrscheinlichkeit zur dramatischen Form, in der sie sich ja niederschlagen soll, in einem dialektischen Verhältnis steht.
Drittens gehört zur inneren Wahrscheinlichkeit die „Überstimmung“ der Charaktere:
Nichts muss sich in den Charakteren widersprechen; sie müssen immer einförmig, immer sich selbst ähnlich bleiben; sie dürfen sich itzt stärker, itzt schwächer äußern, nachdem die Umstände auf sie wirken; aber keine von diesen Umständen müssen mächtig genug sein können, sie von Schwarz auf Weiß zu ändern.32
Diese Forderung wird einsichtig, wenn man die dramatische Handlung als dem Drama immanent versteht. Schließlich ist es nicht die außerhalb des Dramas stehende Konzeption des Dramatikers, welche im Drama selbst offensichtlich werden soll, sondern die Charaktere stiften die Handlung und nicht etwa umgekehrt die Handlung die Charaktere. Die Illusionierung des Zuschauers würde zerstört, wenn die dramatischen Personen ihrem Charakter zuwider handelten; ein solcher Widerspruch würde das Mitempfinden des Zuschauers verhindern. Spätestens an dieser Stelle wird offenbar, dass der Absolutheitsanspruch der dramatischen Handlung nicht etwa in einer Diktatur der Handlung bestehen kann. Vielmehr wurzelt er in der dialektischen Spannung, dass die Charaktere die Handlung und umgekehrt die Handlung die Entschlüsse der Charaktere bestimmen. Dem liegt als Maßstab die innere Wahrscheinlichkeit zugrunde. Auch dies fällt unter den Begriff der Einheit der Handlung.
Viertens bestimmt Lessing innere Wahrscheinlichkeit mit den beiden Begriffen der „poetischen Wahrheit“33 und „Allgemeinheit“34. Mit poetischer Wahrheit soll ausgedrückt werden, dass die dramatische Verwirklichung der Charaktere Eigengesetzlichkeit besitzt; es reicht zur Illusionierung der Zuschauer hin, wenn die Charaktere im Drama selbst wahr sind, ohne damit absoluten Wahrheitsanspruch erheben zu wollen. So schreibt Lessing:
... die Gesinnungen müssen in dem Drama dem angenommenen Charakter der Person, welche sie äußert, entsprechen; sie können also das Siegel der absoluten Wahrheit nicht haben; genug wenn sie poetisch wahr sind, wenn wir gestehen müssen, dass dieser Charakter, in dieser Situation, bei dieser Leidenschaft, nicht anders habe urteilen können 35
Zum einen erhärtet dieser Beleg das, was unter Viertens behauptet wurde, zum andern legt er fest, wo die Motivierung der handelnden Personen zu erfolgen hat: nicht außerhalb, sondern innerhalb des Dramas, da Einheit der Handlung nur innerhalb des Dramas realisierbar ist.
Das „Allgemeine“ will Lessing nun nicht wie die poetische Wahrheit als die Wahrscheinlichkeit bezeichnen, dass die Charaktere stets mit sich übereinstimmend handeln – gemeint ist hier vielmehr die wahrscheinliche Reaktion der Handelnden:
Das Allgemeine ... ist, wie so oder so ein Mann nach der Wahrscheinlichkeit oder Notwendigkeit sprechen und handeln würde.36
Noch klarer wird dies an einer anderen Stelle:
... alle Personen der poetischen Nachahmung ohne Unterschied sollen sprechen und handeln, nicht wie es ihnen einzig und allein zukommen könnte, sondern so wie ein jeder von ihrer Beschaffenheit in den nämlichen Umständen sprechen oder handeln würde und müsste.37
Worum es Lessing hier geht, ist: Die Motivierung der Handlung soll in einem wahrscheinlichen Verhältnis zur Reaktion des handelnden Charakters stehen. Ich fasse auch diesen Aspekt unter den Begriff der Einheit der Handlung:


6. Motivierung und Einheit der Handlung
Die Motivierung der Handlung war bis jetzt vornehmlich unter dem Gesichtspunkt der Wahrscheinlichkeit beobachtet worden. Im Folgenden ist sie selbst Gegenstand der Erörterung, und zwar hinsichtlich ihrer Rolle als wesentliches Moment der dramatischen Einheit. Das führt schließlich auch noch zu einigen formalen Anforderungen an das Drama und zur Einheit des Ortes hin.
Lessing bestimmt das Drama als Nachahmung einer Handlung, die sich als eine „Reihe von Ursachen und Wirkungen“38 zu erweisen hat. Das bedeutet für die Handlungsabfolge natürlich, dass jede Begebenheit ihren Vorläufer in einer anderen hat und selbst den Keim zu einer neuen in sich trägt.39 Nur eine solche „Kette von Ursachen und Wirkungen“ wird sich zur Illusionierung des Zuschauers eignen, welche den „natürlichsten, ordentlichsten Verlauf“ nimmt, sodass
... wir bei jedem Schritte ... bekennen müssen, wir würden ihn, in dem nämlichen Grade der Leidenschaft, bei der nämlichen Lage der Sachen, selbst getan haben.40
Eben damit wird die Identifizierung des Zuschauers mit den handelnden Personen als Voraussetzung der Illusion bestimmt. Alles kommt also auf die richtige Motivierung der Handlungsfolge an. D. h. die Motivierung darf nicht als Plan des Dramatikers im Drama offenbar werden – das würde die Illusionierung unterbrechen, da das Bewusstsein des Zuschauers, eben noch dem Stück zugewandt, der Handlung entrissen würde: an Stelle der Illusionierung träte die Reflexion. Vielmehr taugen zur Eigengesetzlichkeit des Dramas und damit zur Verwirklichung seiner Wesensbestimmung, wie sie Lessing in seiner Definition der Tragödie dargelegt hat, nur Handlungen,
... die ineinander gegründet sind, nur Ketten von Ursachen und Wirkungen. Dies auf jene zurückzuführen, jene gegen diese abzuwägen, überall das Ungefähr auszuschließen, alles was geschieht, so geschehen zu lassen, dass es nicht anders geschehen können:41


7. Illusionierung und Einheit der Handlung
Noch ein Wort zur Illusionierung des Zuschauers. Sie ist, das war anfangs angezeigt, das wesentliche Charakteristikum der Tragödie, welches für die „Nachahmung einer mitleidswürdigen Handlung“ gültig ist, um die Katharsis zu ermöglichen. Illusionierung beschreibt den Vorgang der dramatischen Wirkung auf den Zuschauer und diese Wirkung, die sich im Mitempfinden des Zuschauers42 niederschlägt, kann nur im Einklang jeder dramatischen Mittel und Grundsätze erzielt werden, die im Verlaufe dieser ganzen Erörterung beschrieben wurden – alle münden sie ein in das Postulat von der Einheit der Handlung.
Wenn Lessing von der „Stetigkeit der Handlung“43 spricht, dann meint er dies immer im Hinblick auf eben dies Postulat – das steht in knappster Form bereits im 1. Stück der Dramaturgie:
... die Leidenschaft nicht beschreiben, sondern vor den Augen des Zuschauers entstehen und ohne Sprung in einer so illusorischen Stetigkeit wachsen zu lassen, dass dieser sympathisieren muss, er mag wollen oder nicht: das ist es, ...44


8. Einheit des Ortes
Es führte zu weit, alle sich daraus ergebenden formalen Bestimmungen der Tragödie zu erörtern, soweit Lessing selbst auf sie eingeht. Als wichtigste seien jedoch zumindest genannt: Das motivierte Auftreten und Abgehen der handelnden Personen.45 Die richtige Verbindung der Szenen, die ebenfalls in der „illusorischen Stetigkeit begründet liegt.46 Die richtige Akteinteilung: hier polemisiert Lessing gegen die antidramatische Konzeption, den dritten und vierten Akt bloß zu schließen, damit der vierte und fünfte wieder anfangen könne.47 Letztlich möchte man dann auch leicht mit der Einheit des Ortes fertigwerden: sie liegt im motivierten Geschehenszusam-menhang ebenso begründet wie in der richtigen Szenenverbindung. Jeder Ortswechsel setzt schließlich das epische Ich voraus, das den Sprung zwischen altem und neuem Ort überbrücken helfen muss – mag der Ortswechsel auch durch die Handlung selbst motiviert sein, er gefährdet allemal die Illusionierung. So will Lessing den (durch die Handlung motivierten) Ortswechsel erst dann vornehmen, wenn der nach einem Aktschluss fallende Vorhang die Illusionierung ohnehin unterbricht.48 Die Einheit des Ortes, das kann man nun zusammenfassend sagen, wird von all jenen Mitteln und Grundsätzen vorgeschrieben, welche auch die Einheit der Handlung bewirken.


9. Schluss
Als Summe der Erörterungen steht als wesentliches Ergebnis die Bestätigung der These, dass die Einheit der Handlung sowohl die Einheit der Zeit als auch die Einheit des Ortes umgreift: die dramatische Einheit.

----------

Anmerkungen

1 vgl. Mann XXCI, XXXV
2 Hegel 303; vgl. Schiller 472 f.
3 HD (77) 302. Das betreffende Stück der Hamburgischen Dramaturgie (HD) ist in Klammern gesetzt; die nachfolgende Zahl bezeichnet die Seite.
4 Aristoteles 30
5 HD (77) 302
6 Szondi 74
7 HD (47) 11; vgl. Mann XXIII ff. und Schiller 461, 473
8 HD (97) 374, HD (47) 11; vgl. Schiller 461, 466
9 HD (46) 183; vgl. HD (46) 184
10 HD (46) 184
11 HD (46) 184
12 HD (84) 331; Lessing lässt hier Diderot seinen eigenen Standpunkt vertreten,
vgl. (48) 191
13 HD (97) 374
14 HD (42) 170; vgl. Schiller 461, 466. Walter Benjamin nennt S. 25 f. solche die
Illusion zerstörenden Momente „Unterbrechung“.
15 Aristoteles 68; HD (49) 194, HD (53) 212; Schiller 462
16 HD (32) 128; Schiller 462, 468
17 HD (12) 53
18 Aristoteles 33 f.
19 HD (35) 142, HD (38) 152 f.; vgl. Schiller 465
20 Daher auch die Forderung, die Exposition geschickt in die Handlungsabfolge zu verlegen; HD (49) 194
21 Szondi 16
22 HD (24) 331, HD (36) 144; vgl. Schiller 465, 468
23 Aristoteles 60
24 HD (45) 179 ff.
25 HD (45) 181; vgl. (9) 39
26 HD (85) 333
27 HD (34) 139. Lessing zitiert hier in seinem Sinne die „französischen Kunstrichter“; vgl. Aristoteles 36
28 Brecht 117
29 HD (19) 77 im Zusammenhang mit der Historie; aber das ist auch allgemein relevant. Vgl. auch (34) 135.
30 HD (32) 128
31 HD (97) 375
32 HD (34) 136. Das hat auch Aristoteles S. 44 gefordert. Vgl. zudem HD (2) 11.
33 HD (2) 14
34 HD (89) 347
35 HD (2) 14. Vgl. Aristoteles 45; Schiller 470
36 HD (89) 347
37 HD (89) 347 und HD (2) 11
38 HD (32) 128 wie auch Aristoteles 30
39 HD (32) 128 und (30) 120; vgl. Aristoteles 33 f. und 45
40 HD (32) 128
41 HD (30) 120. Das sagt Lessing in seiner Gegenüberstellung von „Genie“ und „Witz“; dieser „Witz“ verhindert als von außen ins Drama hineingetragener Reiz zur Reflexion die eigengesetzlich-dramatische Verwirklichung.
42 HD (48) 191. Was Lessing in diesem Stück über die „epische Ausnahme“ bei Euripides (die Unterrichtung des Zuschauers) schreibt, führt allerdings von der Einheit der Handlung ab. Dass er hier die „große Annahme gelten lässt, beweist aber gerade sein nicht-normatives Denken, das ihn hier als Empiriokritizisten erscheinen lässt. – Übrigens scheint mir das 48. Stück im Zusammenhang mit den Stücken über die Geister auf der Bühne (10-12) ein Beweis für Lessings Vorliebe für Shakespeare zu sein, der etwa im King Lear oder im King Henry VI mithilfe von Vorausdeutung und Prophetie der Handlung Keime setzt; durch nichts anderes schließlich als die Unterrichtung des Zuschauers. Da, wo sie dramatisch motiviert ist, kann also dieser scheinbar epische Einbruch ins Drama auch dem Grundsatz von der Einheit der Handlung nichts anhaben.
43 HD (45) 181, vgl. HD (10) 44, (44) 177
44 HD (1) 7
45 HD (16) 68
46 HD (45) 181
47 HD (45) 183, vgl. (13) 54
48 HD (44) 178



Literaturverzeichnis

Lessing, G. E., Hamburgische Dramaturgie (HD); kritisch durchgesehene Gesamtausgabe mit Einleitung und Kommentar von Otto Mann, Stuttgart 21963

Aristoteles, Poetik, Übersetzung, Einleitung und Anmerkungen von Olof Gigon, Stuttgart 1961

Benjamin, Walter, Was ist das epische Theater? Zweite Fassung; Versuche über Brecht (hg. Von Rolf Tiedemann), S. 22-30, Frankfurt/M. 21967

Brecht, Bert, Anmerkungen zur Oper Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny. Gesammelte Werke, London 1938, Bd. I, 153 f.: „Gewichtsverschiebungen vom dramatischen zum epischen Theater“.

Hegel, Wissenschaft der Logik. Sämtliche Werke, Jubiläumsausgabe Bd. 8

Mann, Otto, Einleitung zur HD

Schiller, Über die Tragische Kunst. Schillers sämtliche Werke in zwölf Bänden, Elfter Band S. 447-474, Stuttgart und Tübingen 1838

Szondi, Peter, Theorie des modernen Dramas, Frankfurt/M. 41967


Ulrich Bergmann

-

Hinweis: Du kannst diesen Text leider nicht kommentieren, da der Verfasser keine Kommentare von nicht angemeldeten Nutzern erlaubt.

Zur Zeit online:
keinVerlag.de auf Facebook keinVerlag.de auf Twitter keinVerlag.de auf Instagram